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Bilderbücher wollen verstehen helfen

Oft folgen die von Erwachsenen bevorzugten und verschenkten Bilderbücher einer Ästhetik, die Anfang des 20. Jahrhunderts gültig war. Mit dem was Kinder in ihrer heutigen Umwelt erfahren, haben sie nur wenig gemeinsam.

Von Hans Peter Ehmke |
    "Ich hab auch davon ein Buch. Ich zeig dir was interessant ist. Hier guck mal. Das ist ein Skelett vom Mensch. Und so sieht das Herz in echt aus."

    Behutsam haben Lisa und ihre Freundin ein großes Bilderbuch aus der Bücherkiste gezogen. An einem Tisch schauen sich gemeinsam die Bilder an. Hinter kleinen Türen in den Bildern können sie das Innere des menschlichen Körpers und seine Funktionen erkunden.

    "Guck mal, die ist krank. Windpocken hatte ich auch mal. Ich auch. Für mich war das nicht so schlimm."

    Im Studentischen Kindergarten an der Universität Oldenburg sind die zahlreichen Bilderbücher für die Drei- bis Sechsjährigen zentrale Bezugspunkte ihrer Aktivitäten. In großen und kleinen Gruppen schaut man sich die Bilder an oder lässt sich die Texte von Erwachsenen vorlesen. Bilderbücher sind für die Kinder immer wieder Anlass selbst Bilder zu malen, mit anderen Kindern ins Gespräch zu kommen oder eigene Geschichten zu erzählen. Ob erzählende Bilderbücher oder Sachbilderbücher, es scheint eine gewisse Magie von ihnen auszugehen, die sich auch Kindergartenleiterin Gertrud Aumann-Vogl nur schwer erklären kann.

    "Die Kinder lieben die über alles und kennen auch fast alle Geschichten. Also die holen sich aus den Büchern was sie brauchen. Und wir haben manchmal den Eindruck, dass wir das nicht verstehen, dass wir so ein bisschen hinterherhinken. Aber dass für die Kinder da was ist was wir mühsam, ich glaube, wir verstehen es mühsam. Aber für die Kinder ist es eine ganz wichtige Sache."

    Bilderbücher werden von Kindern mit großer Intensität für ihre Bedürfnisse nach Sehen und Erkennen genutzt. In der komplizierten Welt der Erwachsenen suchen sie nach Orientierung. Das Bilderbuch verspricht eine Perspektive, die helfen kann das zu verstehen, was dort vor sich geht. Doch durch die moderne Digitalisierung sind Bilder nahezu überall und jederzeit verfügbar. Scheinbar unerschöpflich ist der Vorrat an Abbildungen. Kinder wachsen in einer bewegten Bilderwelt auf. Immer schneller lösen neue Bilder die alten ab.

    "Gerade angesichts der hoch beschleunigten Bilder und auch der Bildervielfalt, mit denen sich die Kinder auseinandersetzen, ist es doch wohl kunstpädagogisch und medienpädagogisch eine Forderung, dass man Kinder zur bewussten Auseinandersetzung mit Bildern führt. Und ich denke mal, dass man das natürlich in einem Medium wie dem Bilderbuch, in dem stehende Bilder sind, in denen man den eigenen Lese- und Betrachtungsrhythmus selbst bestimmen kann, dass man das da in optimaler Weise auch lernen kann."

    Das Bilderbuch befreit vom vorgegebenen Tempo der multimedialen Bildrotation. Jens Thiele, Kunstwissenschaftler an der Universität Oldenburg und Leiter der dort angesiedelten Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur, hat das Bilderbuch ins Zentrum seiner Forschungsarbeit gestellt. Für ihn sind Bilder nicht nur Träger von Informationen. Thiele sieht im Bilderbuch vor allem eine Herausforderung für die ästhetische Bildung.

    "Es ist ein Medium, das eine große Chance bietet Kinder frühzeitig an unterschiedliche ästhetische und mediale Formen, an unterschiedliche Geschichten und an unterschiedliche Themen heranzubringen und meine Position wäre die, dass das Bilderbuch eigentlich geeignet wäre auch als künstlerisches Medium stärker bildend und anregend zu dienen."

    Eine Entwicklung in diese Richtung ist aber bisher nur in Ansätzen zu erkennen. Denn bei der Auswahl von Bilderbüchern sind die Erwachsenen in der Regel einem traditionellen Bildrepertoire verpflichtet. Da geht das Possierliche, Niedliche, das Frohe und Heitere immer vor dem künstlerisch Anspruchsvollen oder den ernsten Themen. Aus dieser Sichtweise auf das Bilderbuch ergab sich bisher immer wieder ein Handicap für die Forschung und für Projektanträge. Man wurde nicht ernst genommen. Mareile Oetken, Mitarbeiterin der Oldenburger Forschungsstelle und Mitglied im Vorstand des Arbeitskreises für Jugendliteratur, sieht gerade in den nicht so gefälligen und schwerer zugänglichen Bilderbüchern eine wichtige Grundlage für die frühkindliche Bildung.

    "Bilderbücher können zum Beispiel auf einer psychologischen Ebene Identifizierungsangebote für Kinder darstellen. Sie können ein Forum sein, in dem Probleme thematisiert werden, die sonst gar nicht gut artikuliert werden können. Gerade für Kinder als Sprachanfänger. Das ist ein Medium, eine Form der Symbolisierung in Text und Bild, die es Kindern ermöglicht, sich komplexen Dingen anzunähern, für die sie sonst diese Sprache nicht haben."

    Oft folgen die von Erwachsenen bevorzugten und verschenkten Bilderbücher einer Ästhetik, die Anfang des 20. Jahrhunderts gültig war. Mit dem was Kinder in ihrer heutigen Umwelt erfahren, haben sie nur wenig gemeinsam.

    "Wir haben es mit veränderten Kindheitsmodellen zu tun. Der Kinderalltag hat sich sehr verändert und hat eine große Bandbreite gefunden. Das Aufwachsen ist heute sehr unterschiedlich geworden. Die Art und Weise, Patchworkfamilien. Kinderalltag sieht heute nicht mehr so aus wie's noch zu Astrid Lindgrens Zeiten ausgesehen hat. Und auch das spiegelt sich in Bilderbüchern wieder."

    In gleichem Umfang hat sich der Einsatz von Medien in den Familien grundlegend geändert. Das Lesen von Büchern ist nur eine von vielen Möglichkeiten Medien zur Information oder Unterhaltung zu nutzen. Diese Nutzung orientiert sich daran , was auf den Märkten angeboten wird. Die Kommunikationswissenschaftlerin Ingrid Paus-Hasebrink von der Universität Salzburg hat dabei eine zunehmende Verknüpfung verschiedener Medien beobachtet:

    "Meine Erkenntnis aus einer Untersuchung zum Umgang von sozial schwachen Familien mit Kindern ist, dass das Bilderbuch in diesen Familien kaum mehr als Bilderbuch wahrgenommen wird, sondern dass, wenn Kinder überhaupt noch von Bilderbüchern reden, diese eingebunden sind in einen crossmedialen Rahmen, das heißt also, es sind Stoffe, die man aus bekannten Fernsehsendungen kennt oder aus Filmen oder aus Computerspielen und dann spielen noch ab und an Bilderbücher bei Kindern eine Rolle."

    Doch über den Einfluss dieser Bildmedien auf die Identitätsentwicklung von Kindern ist bisher nur wenig bekannt. So wird auch in Zukunft noch viel über ihre Wirkungsweise spekuliert werden. Der Strom von Bildern, der die Kultur von Kindern ausmacht, könnte für zahlreiche Wissenschaften ein lohnender Forschungsgegenstand sein. Der Kunstwissenschaftler Jens Thiele nimmt dabei selbstverständlich auch sein eigenes Fach in die Pflicht:

    "Die Kunstwissenschaft hat sich erfolgreich bis heute um das Bilderbuch gedrückt, das heißt, sie befasst sich nicht mit angewandter Kunst und schon gar nicht mit Kunst für Kinder und das wäre doch mal genauer zu prüfen, warum das so ist, und wenn sich die Kunstwissenschaft mit dem Medium befassen würde, was käme denn dabei heraus?"