Dienstag, 19. März 2024

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Bildung in Deutschland
OECD: "Chancengerechtigkeit bleibt größte Herausforderung"

Das Thema Bildungsgerechtigkeit bleibt das zentrale Problem in Deutschland. Hier gebe es im Vergleich zu den anderen Staaten die größte Diskrepanz, sagte OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher im Dlf. Dabei gehe es nicht einfach nur um mehr Geld, sondern darum, die Ressourcen optimal zu verteilen.

Andreas Schleicher im Gespräch mit Stephanie Gebert | 29.09.2020
Kinder am Schreibtisch in der Schule, Foto von oben
Beim Onlinelernen braucht man viel Fachpersonal - auch daran fehlt es in Deutschland, sagte OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher im Dlf (picture alliance/Marijan Murat/dpa)
Von der Präsenzlehre in den Online-Unterricht: Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wo die technischen Voraussetzungen fehlen oder das Personal nicht ausreichend gerüstet ist, um digital zu unterrichten. Dazu hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die jüngste PISA-Studie von 2018 neu ausgewertet. In vielen der insgesamt 79 Ländern, in denen gefragt wurde, ist die Rechenleistungen der Schulcomputer nicht ausreichend. Davon war insgesamt ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler betroffen. In Deutschland erklärten die Schulleitungen, dass nur 57 Prozent der Lehrerschaft auch fähig seien, digitale Geräte im Unterricht zu nutzen. Andreas Schleicher ist Bildungsdirektor der OECD.

Das Interview im Wortlaut:
Stephanie Gebert: Gerne wird ja auch im Bildungsbereich argumentiert, viel hilft viel, also es braucht nur mehr Geld, dann würden hinten bei den Schülern auch größere Bildungserfolge herauskommen. Solchen Zusammenhang geben Ihre Daten aber nicht wieder, auch nicht mit Blick auf Deutschland, oder?
Schleicher: Nein, die Summe der Investitionen korreliert nur schwach mit den Ergebnissen. Entscheidend ist, wie man das Geld, die Person, die Technologie konfiguriert, um wirklich gute Lernleistungen zu erreichen, denn davon hängt es ab.
Lehrkräfte sind ausreichend da, aber nicht optimal verteilt
Gebert: Schauen wir mal zunächst auf die personelle Ausstattung an den Schulen: Wir alle wissen, kostet Geld – in Deutschland muss man sich bei Ihnen wieder in der Studie einen Mangel bescheinigen lassen, und es macht offenbar auch einen sichtbaren Unterschied, ob es um Brennpunktschulen geht oder Schulen, die in einem sozioökonomischen sicheren Feld stehen.
Schleicher: Zunächst einmal, das Betreuungsverhältnis ist in Deutschland eigentlich recht gut, es gibt eine ausreichende Zahl von Lehrern insgesamt, das Thema ist die Verteilung der Lehrkräfte. Man sieht, dass Brennpunktschulen sehr oft Schwierigkeiten haben, geeignete Lehrer zu finden, und daran muss man arbeiten. Es ist eher die Verteilung der Ressourcen als die Gesamtzahl der Lehrkräfte in Deutschland.
Gebert: Wobei Sie auch festgestellt haben, dass es auch an Hilfspersonal – so haben Sie es jetzt genannt – fehlt. Ich denke, darunter sind wahrscheinlich Sozialarbeiter, Schulpsychologen gezählt, oder?
Schleicher: Ja, zum einen, aber zum anderen auch zum Beispiel technisches Personal, gerade jetzt, wenn es ums Onlinelernen, um hybrides Lernen geht, da braucht man auch sehr viel Fachpersonal, auch daran fehlt es in Deutschland.
Eine Junge löst zu Hause seine Schulaufgaben am Ipad, Tablet PC
Digitales Lernen: Deutschland im OECD-Schnitt abgeschlagen
Die OECD kritisiert die unzureichende Ausstattung deutscher Schulen mit digitalen Lernplattformen. Positiv hoben die Experten die berufliche Ausbildung in Deutschland hervor.
Gebert: Interessant fand ich in Ihren Daten zur Frage des Bildungserfolgs und der Chancengleichheit auch den Blick auf das längere gemeinsame Lernen. In Deutschland gibt es ja so eine Art Glaubenskrieg genau darum. Jetzt zeigt sich in Ihren Daten einmal, dass Deutschland viel früher als der Durchschnitt der OECD-Länder selektiert, und das hat dann auch deutliche Auswirkungen. Welche?
Schleicher: Man sieht, dass der Einfluss von sozialem Hintergrund auf Bildungsleistung steigt, je früher in einem Bildungssystem selektiert wird, und da ist Deutschland eben in der Gruppe der Länder, zusammen mit Österreich und der Tschechischen Republik, wo das ab zehn Jahren passiert. Das hat dann schon sehr starken Einfluss auf Chancengerechtigkeit später. Das ist, glaube ich, ein wichtiges Thema. Ich denke, die Selektion, aber auch, wie man damit im Bildungssystem umgeht. In einem erfolgreichen Bildungssystem ist Lernen sehr viel stärker individualisiert, das heißt, Lehrkräfte sind in der Lage, mit der Verschiedenheit der Schüler irgendwo sehr viel kreativer, konstruktiver umzugehen, haben teilweise auch mehr Zeit und Raum, auf die Lernschwierigkeiten der Schüler dann individuell einzugehen, das muss man auch sagen.
Fortschritte bei Schülern mit Migrationshintergrund
Gebert: Ja, das zeigt sich auch an der Stundenzahl. Wenn man sich nämlich mal anschaut – und das haben Sie getan –, wie es aussieht mit der Stundenzahl in bestimmten Unterrichtsstunden, zum Beispiel Fremdsprachen oder bei den Naturwissenschaften. Auch da klafft in Deutschland eine große Lücke und gibt es deutliche Unterschiede.
Schleicher: Ja, absolut. Man sieht bei fast allen bildungsrelevanten Ressourcen, auch der Zeit, der Lernzeit, dass Schüler aus sozial ungünstigem Umfeld deutlich schlechtere Lernbedingungen haben, aber auch bei kreativen Fächern, den Fremdsprachen. Es wird überall sehr deutlich, auch daran muss man arbeiten, dass dort auch gezielt einfach mehr Lernzeit zur Verfügung gestellt wird. Wir sehen auch in Deutschland weniger Peer-to-Peer-Lernen, es haben auch Schüler oft nicht die räumlichen Möglichkeiten, zum Beispiel jetzt nachmittags dann ihre Hausaufgaben betreut durchzuführen. Da kann man sich an vielen Ländern noch ein Beispiel nehmen, wie man dort einfach gezielt den Schülern aus sozial ungünstigem Umfeld zusätzliche Ressourcen zur Verfügung stellt.
Gebert: Hat sich das denn im Laufe der letzten Jahre – das haben Sie ja auch beobachtet –, die letzten zehn Jahre nehmen wir mal, doch verändert, oder ist das in Deutschland im Grunde genommen, wenn es um die Chancengleichheit geht, sind wir da stehen geblieben?
Schleicher: Die Chancengerechtigkeit bleibt in Deutschland die größte Herausforderung, aber es gibt Fortschritte. Das ist, denke ich, auch sehr wichtig. Gerade bei Schülern mit Migrationshintergrund sieht es heute deutlich besser aus als jetzt zu Beginn der PISA-Zeit. Da hat Deutschland schon viel erreicht, auch gerade ganz besonders positiv für die Kinder aus sozial ungünstigem Umfeld.
Man kann auch mit wenig Unterrichtszeit viel erreichen
Gebert: Schauen wir mal in die Länder, wo es ganz gut funktioniert hat, gerade wenn es um diese Zeit, um die Lernzeit zum Beispiel geht, die Sie ja gerade so betont haben: Wo könnten wir uns denn tatsächlich was abgucken, so ganz praktisch vielleicht?
Schleicher: Die nordischen Staaten – gerade Estland, Finnland – zeigen, dass man auch mit sehr wenig Unterrichtszeit sehr viel erreichen kann, dass man das Umfeld attraktiv gestalten kann, nicht nur finanziell attraktiv für Lehrkräfte, sondern auch intellektuell attraktiv, also dass man Chancengerechtigkeit realisieren kann. Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass in Finnland lediglich fünf Prozent der Leistungsunterschiede zwischen den Schulen liegen, also die nächste Schule ist immer die beste Schule, und in Deutschland sind das fast immer noch eher 40 Prozent. Da denke ich, dass man einfach ein gleichmäßigeres Niveau dort hinbekommt, ist schon sehr wichtig.
Gebert: Was meinen Sie denn mit den Anregungen für die Lehrkräfte intellektuell?
Schleicher: Dass einfach das Berufsfeld spannender ist. In Deutschland unterrichten Lehrkräfte, sind aber oft nicht so eingebunden, gerade jetzt auch in die Entwicklung von Bildungstechnologie, Unterrichtskonzepten. Ich denke, da können wir viel lernen von den erfolgreichen Bildungssystemen, wo Lehrkräfte ein sehr viel breiteres Aufgabenfeld haben – im Pädagogischen als auch in der Entwicklung des Bildungssystems.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.