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Bildung ja, Jobs nein

Tunesien gibt sieben Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Bildung aus. Die Bildungsabschlüsse sind äquivalent mit dem Bologna-Prozess, lobt Michael Fisch DAAD-Lektor in Tunesien. Doch es gibt kaum Perspektiven für Berufseinsteiger.

Michael Fisch im Gespräch mit Manfred Götzke |
    Manfred Götzke: Letzte Woche ging auf einmal doch alles sehr, sehr schnell in Tunesien. Ziemlich überraschend hat Tunesiens Diktator abgedankt und mit seiner Familie fluchtartig das Land verlassen. Schon heute wird eine Übergangsregierung vorgestellt vermutlich, und in sechs Wochen soll es Neuwahlen geben. Angefangen hat diese Revolution an den Universitäten, denn vor allem Hochschulabsolventen in Tunesien waren unzufrieden. Denn auch mit einem Uni-Diplom in der Tasche hat man kaum eine Chance, einen guten Job zu bekommen - bisher jedenfalls. Was könnte sich für Akademiker jetzt ändern in dem Land? Darüber möchte ich Michael Fisch sprechen. Er ist Germanist und DAAD-Lektor an der La-Manouba-Universität in Tunis - und er ist zurzeit in Berlin. Herr Fisch, bekommen die jungen, gut ausgebildeten Akademiker in Tunesien jetzt endlich ihre Chance?

    Michael Fisch: Das ist schwer zu sagen. In Tunesien ist die Situation disparat. Einerseits gibt es aktuelle Zahlen des Weltwirtschaftsforum etwa, dass wir sehen, dass Tunesien in Afrika das wettbewerbsfähigste Land ist, dass es in Technologie und Entwicklung den ersten Platz belegt und sogar in einem Entwicklungsindex noch vor Italien, Polen, Tschechien und Spanien liegt. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass wir eine quantitative Bildungsausweitung haben, die übrigens finanziert durch die Weltbank und die Europäische Union immerhin 14 staatliche Universitäten hervorgebracht hat und viele kaum zu zählende private Hochschulinstitute. Was fehlte und was das Problem ist, war hier die Qualifizierung und eben die Folge, dass die Masse an Studierenden - und es sind, gemessen an der Bevölkerungszahl, fünf Prozent, wir haben zehn Millionen Tunesier im Land, 500.000 Studierende, die an den Universitäten eingeschrieben sind.

    Götzke: Das heißt, zu viele Studierende für zu wenig akademische, gut dotierte Jobs?

    Fisch: So könnte man es auf den Punkt bringen. Andererseits: Der Vorteil ist, dass es in Tunesien keine Analphabeten mehr gibt. Tunesien gibt sieben Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung aus. Ich glaube, im Vergleich Deutschland sind es 4,6 Prozent. Also einerseits die Strategie auf Bildung zu setzen, ist ja sehr löblich, nur die Frage wurde nicht beantwortet, was passiert danach. Gibt es eine Perspektive, gibt es eine Möglichkeit, in den Beruf einzusteigen? Und offensichtlich nicht.

    Götzke: Was könnte sich jetzt ändern, nachdem der Diktator abgedankt hat, für die Studierenden?

    Fisch: Also wer kann schon prophetisch in die Zukunft schauen und sagen, wie es sich ändern wird? Wir haben eine sehr junge Generation, man spricht von 70 Prozent der Bevölkerung als einer jungen Generation. Hiervon ist ein Viertel der Bevölkerung an Primar- und Sekundarschulen, also 25 Prozent sind Schüler, fünf Prozent an den Universitäten und weitere 20 Prozent als Ungelernte sind arbeitslos. Sie sehen also, 50 Prozent der Bevölkerung ist in einem Bereich, in dem sie nicht erwerbsfähig sind.

    Götzke: Die Proteste, die gesamte Jasmin-Revolution, ist ja sehr stark von den Universitäten des Landes ausgegangen - welche Rolle könnten Studierende, könnten Professoren jetzt in dieser Zeit des Systemwechsels spielen?

    Fisch: Erstaunlicherweise waren die Impulse fast seismografisch, könnte man sagen, von den Studierenden ausgegangen, aber bei den aktuellen Demonstrationen, ich würde sagen, bei dieser friedlichen Revolution, war die ganze Bevölkerung beteiligt. Wir sahen auf den Straßen sowohl ältere Demonstranten, Männer wie Frauen, die Jungen waren selbstverständlich auch dabei. Ich bin der Meinung, dass es eine Demonstration für Freiheit, Unabhängigkeit, gegen Korruption, gegen das alte Regime der gesamten Bevölkerung war.

    Götzke: Sie haben die Korruption jetzt gerade angesprochen - haben Sie die Hoffnung, dass sich an der Vetternwirtschaft, an dem Nepotismus in Tunesien etwas ändern kann?

    Fisch: Auch das ist schwer zu sagen, denn Ben Ali ist sozusagen ja nur der Repräsentant der Republik in Tunesien, aber dahinter steht natürlich ein System, gespeist aus vielen, vielen Menschen aus großen Teilen der Bevölkerung. Man spricht, bis zu zehn Prozent der Bevölkerung waren involviert in dieses Spitzelsystem, Überwachungssystem und Korruptionssystem. Das wird sicherlich Jahre dauern, bis das überwunden ist.

    Götzke: Schauen wir noch mal kurz auf die Situation an den Hochschulen selbst: Sie selbst geben Literaturseminare an der La-Manouba-Universität - sind die Hochschulen mit europäischen vergleichbar, was die Qualität der Ausbildung angeht?

    Fisch: Leider nicht, muss man sagen. Also wie gesagt, das Problem ist, dass einerseits das französische Bildungssystem eins zu eins übernommen wurde, und dass das ja nicht das beste ist, das ist ja allgemein bekannt. Also eben nicht der Blick auf Wissensvermittlung, sondern der Blick auf Noten und das Bestehen und das Abschließen von Studiengängen. Aber vor allem die Internationalisierung war stark zu beklagen. Und das führte dazu, dass viele Tunesier eben auch im Ausland ihr Glück suchten und dort das Studium aufnahmen. Ungefähr 10.000 Tunesier studieren im Ausland, vorzugsweise in Kanada und Frankreich, aber auch in Deutschland, auch dank des DAAD-Stipendienprogramms, studieren sehr viele Tunesier und machen hier ihre Abschlüsse.

    Götzke: Wie sieht es denn aus für Studierende, die ihren Abschluss in Tunesien gemacht haben, ist es für die rechtlich überhaupt möglich, in der Europäischen Union Fuß zu fassen?

    Fisch: Da ist Tunesien erstaunlich vorangeschritten, das heißt, dass die Bildungsabschlüsse quasi äquivalent sind mit dem Bologna-Prozess. Das hat zur Folge, dass entweder Studierende ein vorbereitendes Studienkolleg besuchten, etwa in Deutschland, um das Studium aufzunehmen, aber auch bei abgeschlossenen Studiengängen die Zertifikate fast eins zu eins anerkannt wurden. Also da gab es schon bilaterale Übereinkommen zwischen Deutschland und Tunesien etwa.

    Götzke: Zum Schluss noch mal eine kleine Prognose: Sie arbeiten seit einigen Jahren in Tunesien, wie schätzen Sie das ein, geht das Ganze gut, diese Jasmin-Revolution, werden wir da in ein, zwei Jahren eine demokratisch legitimierte Regierung haben?

    Fisch: Auch das ist für mich schwer zu sagen. Ich denke an meine tunesischen Freunde und Kollegen und bin mit ihnen hoffnungsfroh, dass sie hier einen guten Weg beschreiten, insofern, dass diese Revolution eben eine friedliche Revolution ist und für alle überraschend auch sehr, sehr schnell zum Ende von Präsident, Expräsident Ben Ali führte. Mir stellt sich jetzt eben die Frage, ob das nicht übergreift auf andere arabische Staaten, etwa auf Algerien und auf Ägypten. Und danach schließt sich eben die Frage an, was passiert danach, wer kommt danach, was kommt danach? Das Demokratiemodell wäre sicherli