Freitag, 19. April 2024

Archiv


Bildung plus bayerische Heimat

Sie singt bis Mai - in den schönsten Tönen. Der Gesang des Rotkehlchens ist dagegen etwas farblos.

Von Kersten Knipp | 22.09.2004
    Auch das muss man wissen, heutzutage. Denn die Welt ist bunt; aber vor allem ist sie kompliziert, alles hängt mit allem zusammen, und darum, wer weiß, ist vielleicht auch die Kenntnis des Rotkehlchengesangs nicht ohne Belang. Am 22. September 1964 beginnt der Bayerische Rundfunk als erste ARD-Anstalt mit der regelmäßigen Ausstrahlung eines Dritten Programms, des so genannten Studienprogramms. Was aber das dort zu hörende Rotkehlchen recht eigentlich interessant macht, ist der Umstand, dass es nicht irgendwo, sondern im Englischen Garten in München singt, den das neu geschaffene Programm in seiner Sendereihe "Bayerische Miniaturen" vorstellt. Denn nicht nur um Wissen soll es gehen, auch die bayerische Heimat, ihre Sitten und Gebräuche, sind den Programmmachern eine Herzensangelegenheit.

    Doch vor allem soll es um Bildung gehen. Auf den Start des stärker unterhaltungsorientierten ZDF antwortet die ARD mit der Erweiterung ihres Informationsangebots. Das passt: Von einer "Bildungskatastrophe" ist in jener Zeit die Rede, und sie abzuschaffen, dient auch die Einrichtung des Dritten Programms, das "Funken in die Geister" streuen will, wie es der Programmverantwortliche, Helmut Oeller, formulierte. Das Dritte, so der damalige BR-Intendant Christian Wallenreiter, möchte helfen,

    … die eigene Welt kennen zu lernen, Vorurteile zu überwinden, den Sinn zu zeigen, der in allen Dingen steckt, es will durch neue Gedanken, vielleicht durch neue Erkenntnisse reicher machen.

    Grenzen überschreiten, Schritte in die Fremde tun: Nichts, wussten die Programmverantwortlichen, wünschte man sich 1964 in Deutschland sehnlicher.

    Der Bayerische Rundfunk will diesem Bedürfnis seiner Hörer dienen.

    Denn unbemerkt ist zu jener Zeit ja auch schon die Globalisierung auf dem Vormarsch. Und sie, weiß Wallenreiter, fordert das Publikum enorm heraus.

    Die technische Zivilisation, die Automation werden die Freizeit verlängern, in der stets zahlreicher bevölkerten und auf Ausgleich drängenden Welt wird immer mehr gemeinsames Verständnis von allen verlangt; in der veränderlichen Welt werden wir eine fortgesetzte Lernbereitschaft erwerben und Lernfähigkeit bewahren müssen. Das Bedürfnis danach wird, wie Umfragen in weiten Kreisen bestätigen, lebhaft empfunden.

    Bastel- und Gymnastikkurse, Sendungen zur politischen Bildung, vor allem aber Sprachkurse. Mit den europäischen Nachbarn einen angemessenen Dialog führen, das ist, nach der NS-Zeit, ein wesentliches Anliegen. "Benvenuti in Italia" heißt der erste in Deutschland hergestellte Sprachkurs; und der Lehrgang "Follow me" wird ein internationaler Erfolg: Sendeanstalten aus über 70 Ländern übernehmen ihn - ein hübsches Kompliment für das Bildungsverständnis des Bayerischen Rundfunks, das Wallenreiter prägnant umschreibt.

    Bildung zeigt sich in der Bereitschaft und Fähigkeit, das Wort des anderen zu hören und selbst ein begründetes Wort zu sagen.

    Um nicht nur die bayerische, sondern die gesamte Nation zu bilden, entstehen rasch weitere "Dritte Programme": Im Oktober 1964 geht das des Hessischen Rundfunks auf Sendung, im Januar des folgenden Jahres "Nord 3", ein Gemeinschaftsprogramm des Norddeutschen Rundfunks, Radio Bremens und des Senders Freies Berlin. Weitere folgen, und nach der Wiedervereinigung richten auch die neuen ostdeutschen ARD-Anstalten "Dritte Programme" ein. Immer noch lösen sie jenen Bildungsanspruch ein, den Bundeskanzler Ludwig Erhard 1964 in seiner Begrüßungsansprache umriss.

    So freue ich mich, dass durch die Schaffung von Studien- und Bildungsprogrammen im Fernsehen die Verantwortung spürbar wird, die eine gemeinsame Verantwortung aller ist. Die wie ich davon überzeugt sind, dass Geist, Bildung und Politik sich gegenseitig nicht etwa ausschließen, sondern umgekehrt zur Bewältigung der Welt von heute und morgen enger denn je zusammengehören.

    Und dies auf Grundlage immer stärkerer Regionalisierung: Längst decken "Die "Dritten" nicht nur ihre Bundesländer, sondern einzelne Regionen ab. Spitzenreiter ist hier der "Westdeutsche Rundfunk", dessen Programm in nicht weniger als neun verschiedene Gebiete auseinandergeschaltet wird. Doch zugleich mit dem Aufkommen des Farbfernsehens verbreiten sich auch neue Unterhaltungsformate. Gameshows laufen Quizsendungen den Rang ab, Fernsehspiele und Features ersetzen die als angestaubt empfundene Unterrichtsatmosphäre. Schick und modern sollen "Die Dritten" nun sein. Trendig und schnell sind "Die Dritten" längst geworden. Aber man kann sagen: Zum Teil bilden sie noch heute.