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Bildungsverlierer
"Religion und Integration schließen sich nicht aus"

Jungen mit muslimischen Wurzeln aus der Großstadt sind häufig sogenannte "Bildungsverlierer". Für sie brauche es verstärkt gesellschaftliche Unterstützung, etwa durch Ganztagsschulen, sagte der Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak im Dlf. Ihren Eltern müsse man alternative Erziehungsmethoden aufzeigen.

Ahmet Toprak im Gespräch mit Ute Meyer | 24.10.2019
24.10.2019, Nordrhein-Westfalen, Dortmund: Pressekonferenz an der Fachhochschule Dortmund mit Wissenschaftler Ahmet Toprak. Muslimische Jungen und Jugendliche sind nach Einschätzung des Forschers Ahmet Toprak «Verlierer» bei Bildung und Integration. Die Ursache dafür sei hausgemacht - liege in Fehlern bei der Erziehung in vielen Elternhäusern, schilderte der türkischstämmige Erziehungswissenschaftlers von der Fachhochschule Dortmund. Toprak stellt sein Buch "Muslimisch, Männlich, Desintegriert" vor.
Wissenschaftler Ahmet Toprak bei der Vorstellung seines Buches "Muslimisch, männlich, desintegriert" (dpa / picture alliance / Fabian Strauch)
Ute Meyer: Muslimische Jungen in Deutschland sind sehr oft Verlierer in unserer Gesellschaft. Das ist die Analyse des Dortmunder Erziehungswissenschaftlers Ahmet Toprak. Viele von ihnen erreichen keine guten Schulabschlüsse, brechen die Schule ab, landen in der Arbeitslosigkeit und machen sich in der Mehrheitsgesellschaft unbeliebt durch respektloses und zum Teil sogar gewalttätiges Verhalten. Muslimische Jungen und später auch Männer leiden an einer falschen Erziehung. Das meint Ahmet Toprak, der selbst als Zehnjähriger aus der Türkei nach Deutschland kam und heute Professor für Erziehungswissenschaften an der FH Dortmund ist. Ich konnte vor der Sendung mit ihm über sein neues Buch sprechen. Das hat den Titel "Muslimisch, männlich, desintegriert. Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schiefläuft".
Herr Toprak, warum ist das so, dass so viele Jungen mit Wurzeln in muslimischen Kulturkreisen solche Schwierigkeiten haben?
Ahmet Toprak: Ich muss eine Sache natürlich klarstellen, dass der Dreiklang – muslimisch, männlich, aus der Großstadt, der Bildungsverlierer ist – nicht von mir ist, sondern von der PISA-Studie. Wir kennen noch die Aussagen aus den 60er-Jahren: katholisch, weiblich, aus dem Land ist die Bildungsverliererin. Nachdem die PISA-Studie festgestellt hat, das sind jetzt die muslimischen jungen Männer aus der Großstadt in Westdeutschland, wollte ich die Gründe erforschen, weil die Mädchen waren eben nicht die Verliererinnen in der Studie von PISA. Ich arbeite auch seit 20, 21 Jahren sowohl praktisch als auch wissenschaftlich zu dem Thema junge Männer aus muslimischem Kulturkreis, und viele Erkenntnisse sind nicht neu.
"Jungs müssen sich nicht disziplinieren"
Aus meiner Sicht werden die Jungen so erzogen in Elternhäusern, die teilweise traditionell ist. Im Übrigen betrifft das nicht alle Muslime, sondern eine bestimmte Gruppe bestimmter Milieus, und die Eltern glauben, ihre Söhne zu erziehen, damit sie später zum Beispiel Vater werden, gut verdienen, und die Jungs dürfen deswegen auch Fehler machen und müssen auch nicht diszipliniert sein et cetera. Das sind Indikatoren, die in der Schule nicht gewünscht sind. Deshalb fallen sie auch mit Disziplinarproblemen auch öfters auf als zum Beispiel andere Jugendliche.
Meyer: Sie haben gesagt, das betrifft nicht alle Muslime, das betrifft bestimmte Milieus. Welche denn?
Toprak: Das sind meistens bildungsbenachteiligte Milieus, die auch in ihren Herkunftsländern benachteiligt waren, die nach Deutschland kamen, entweder jetzt kommen oder später kamen, meistens sind das auch die Kinder der Gastarbeiter oder Enkelkinder, die natürlich auch in ihren Herkunftsländern schon keine Bildungstradition hatten und auch Schule anders einschätzen. Das sind meistens die, die auch den Bildungsaufstieg nicht schaffen, weil die Bedingungen auch sie nicht fördern. Unsere Schule fördert Bildungsbenachteiligte nicht, im Übrigen auch Deutsche nicht.
Meyer: Das wollte ich gerade sagen, führt Ihr Titel "Muslimisch, männlich, desintegriert" da nicht dann ein bisschen in die Irre? Geht es nicht um: aus bildungsfernen Familien, männlich, desintegriert?
Toprak: Nun ja, das ist in der Tat wahr, die Frage ist, warum. Wir können einfach auf die Zahlen schauen. Warum erziehen vor allem muslimische Eltern ihre Kinder so. Natürlich kann man auch so ein bisschen konservativ, die sind konservativ eingestellt. Was ich natürlich auf gar keinen Fall sagen möchte, dass der Islam integrationsschädlich ist. Problematisch wird es, wenn die Eltern die Religion so hochhalten, dass sie ihre Kinder zum Beispiel vom Schwimmunterricht, Turnunterricht oder Schulfahrten fernhalten, weil Religion ihnen wichtiger wäre. Weil Religion und Integration schließen sich nicht aus. Die Frage ist, wie interpretieren die Eltern ihre religiöse Einstellung. Das kann schädlich sein oder integrationshemmend sein, aber die Religion als solche ist es eben nicht.
"Integrationsfehler der Bundesrepublik bis Mitte der 90er-Jahre "
Meyer: Herr Toprak, Sie haben ja auch – Sie haben es erwähnt – mit Familien gearbeitet, Interviews geführt, auch als Sozialarbeiter gearbeitet. Wenn Sie das so erzählen, dass muslimische Familien – ich drücke mich mal vorsichtig aus – überdurchschnittlich oft sehr traditionell sind, ein traditionelles Rollenbild haben, stimmt dann nicht das alte Stammtischvorurteil, dass muslimische Familien sich im Schnitt schlechter integrieren als Einwanderer aus anderen Kulturkreisen?
Toprak: Wir können einfach auf die Fakten schauen, das sagen die Integrationsbarometer auch, dass sie natürlich öfter arbeitslos sind, dass sie natürlich seltener Abitur machen, das sind so die Faktoren, die wir hier messen können. Die Frage ist, woran liegt das, und ich möchte auch sagen, das liegt auch natürlich an der Integrationspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Im Übrigen, das ist auch im Buch ein großes Thema, es geht nicht nur um die Erziehung, sondern auch um die Integrationsfehler. Was in den Medien immer noch zu kurz kommt, dass man eher auf die eine These schaut, nämlich dass ich sage, auch Erziehung der Eltern, aber ich gehe auch sehr detailliert auf die Integrationsfehler von Deutschland ein, weil das eine Wechselwirkung von beidem ist. Das muss man auch in dieser Form so sagen.
Meyer: Die allgemeine Stimmung in Deutschland ist aber in der politischen Debatte – ich drücke mich noch mal wieder vorsichtig aus – nicht die islamfreundlichste. Haben Sie da nicht Sorge, dass Ihr Buch Wasser auf die Mühlen ist derer, die den Islam eben als nicht zu Deutschland gehörig betrachten?
Toprak: Ich habe auch in meinem Vorwort genau auf diesen Punkt hingewiesen, dass das genau die Gefahr ist, aber man muss auch natürlich, um die Eltern und die Familien zu erreichen, auch Probleme benennen. Ich halte auch nicht so viel davon, dass man auch die Sachen, die dann nicht gut laufen, auch dann schönredet. Das ist mir schon klar, nur Kritik muss dann vorkommen, wenn die Menschen das Buch von Seite eins bis 240 gelesen haben, und dann wird es sehr deutlich, dass es eine Wechselwirkung von vielen Faktoren ist, aber eben auch eins davon zentral: auch die Erziehung der Eltern.
Meyer: Erwarten Sie da eigentlich auch Kritik aus der türkisch-arabischen Community?
Toprak: Ich denke, die Kritik muss kommen. Es ist auch förderlich. Sobald es konstruktiv ist, nehme ich das auch auf. Damit habe ich kein Problem. Das wird auch so sein. Was nicht gut ist, Beschimpfungen, Beleidigungen, die alleine aufgrund der Interviews im "Spiegel" oder "FAZ" kommen.
Meyer: Gab es die bereits?
Toprak: Ja, natürlich. Die kommen über Facebook-Messenger, die kommen, aber das ist nicht in Ordnung, aber das habe ich gedacht, weil die Leute auch teilweise nur auf Überschriften schauen, nicht detailliert lesen, was sie da vor sich bekommen.
Meyer: Es gibt ja auch Kritik von anderen Bildungsforschern an Ihnen, Herr Toprak. Die Kritik, dass Sie zu sehr verallgemeinern und außer Acht lassen, dass Menschen ausländischer Abstammung es auch schwerer haben, dass sie diskriminiert werden, entweder bewusst oder unbewusst. Was sagen Sie zu der Kritik?
Toprak: Die Kritik ist berechtigt, aber ich weiß nicht, ob diese Kolleginnen und Kollegen, ich habe hier noch keinen Namen gehört, auch das Buch gelesen haben. Wenn sie das Buch gelesen haben, darin stehen auch die Integrationsfehler der Bundesrepublik, dass wir bis Mitte der 90er-Jahre eben uns um diese Menschen nicht gekümmert haben. Das ist alles in der Tat verankert. Wenn Kolleginnen und Kollegen das Buch lesen und dann Kritik äußern, bin ich gerne auch bereit, mich zu streiten. Aufgrund der Interviews, die ein Ausschnitt von dem sind, was ich geschrieben habe, kann ich auch verstehen, dass Kritik kommt, aber man muss das ganze Konzept sich anschauen.
Mehr Ganztagsschulen und gegen Frühselektion
Meyer: Wir haben jetzt über Ihre Analyse und auch über Kritik gesprochen. Was muss denn aus Ihrer Sicht getan werden, damit es in Zukunft in Deutschland besser läuft?
Toprak: Ich bin der Meinung, dass wir in der Tat mindestens 30, 40 Jahre lang die Gastarbeiter als Gäste gesehen haben und sich selbst überlassen haben, haben uns darum nicht gekümmert, und auf einmal haben wir erwartet, dass das auf einmal funktionieren würde. Ich denke, eine Anerkennungskultur, Bildungschancen für alle, ich bin ein Verfechter der Ganztagsschulen und ein Gegner der Frühselektion. Wenn man das alles anpacken würde, glaube ich, würden auch die Eltern aus benachteiligten Milieus sich besser aufgehoben fühlen.
Meyer: Und dann auch in ihrem Erziehungsstil etwas ändern?
Toprak: Das sowieso. Die Freiheit der Erziehungsstile, finde ich, sollte nicht als Gefahr, sondern als Chance gesehen werden. Ich entlaste ja auch die Eltern, weil die haben auch keine Erfahrung mit freiheitlichen Erziehungsstilen in ihrer Biografie erlebt, und deshalb geben sie das an ihre Kinder weiter. Ich glaube, man muss auch den Eltern auf Augenhöhe begegnen und denen auch alternative Erziehungsmethoden aufzeigen. Die machen das ja nicht, weil sie bösartig sind, sondern weil sie teilweise keine anderen Konzepte kennen, weil sie selber aus ihrer Biografie das nicht kennengelernt haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.