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Bindegewebsschwäche mit dramatischen Folgen

Sie sind ungewöhnlich groß gewachsen, haben Probleme mit der Hüfte oder anderen Gelenken: Bei Menschen mit einem Marfan-Syndrom, bei denen die Krankheit unentdeckt bleibt, kann diese angeborene Bindegewebsschwäche dramatische Folgen haben. In Berlin finden sie jetzt Hilfe unter einem Dach.

Von Marieke Degen |
    "Mir ist es selber auf dem Flughafen passiert, noch nicht all zu lange her, hat sich ein Mann vor mich hingestellt, hat sich hinpostiert, hat mich von oben bis unten gemustert und gefragt: Wie groß sind Sie eigentlich?"

    Christiane Ullbrich ist eine schlanke Frau mit kurzen blonden Haaren und schmalen Händen. Sie hat sich daran gewöhnt, dass wildfremde Leute ihre Größe kommentieren.

    "Daraufhin hab ich ihn gefragt, ganz laut, was er denn wiegen würde. Und wenn er mir sagen würde, was er wiegt, dann würde ich ihm auch sagen, wie groß ich bin. Daraufhin haben alle gelacht, und ich hatte die Lacher auf meiner Seite."

    Die Berlinerin misst einen Meter einundneunzig. Sie leidet am Marfan-Syndrom. Aufgrund eines Gendefekts ist ihr Bindegewebe zu schwach und kann leicht reißen. Die Folgen: Knochen werden extrem lang. Gelenke springen immer wieder aus den Pfannen. Die Wirbelsäule kann sich verkrümmen, Augenlinsen zittern. Die Betroffenen schweben permanent in Lebensgefahr: Denn auch die Wände der Aorta, der Hauptschlagader, sind bei ihnen äußerst fragil. Felix Berger, Spezialist für angeborene Herzfehler am Deutschen Herzzentrum Berlin:

    "Wenn alle Wandstrukturen reißen, bricht das Blut sozusagen aus dem Gefäß aus und der Patient würde innerlich verbluten."

    Felix Berger arbeitet am Marfan-Zentrum, einer neuen Anlaufstelle für Marfankranke vom Deutschen Herzzentrum und der Berliner Charité. Berger schätzt, dass sechzehn- bis zwanzigtausend Menschen in Deutschland von der Krankheit betroffen sind. Ärzte würden das Marfan-Syndrom aber oft nicht erkennen, die Patienten nicht ausreichend untersuchen und behandeln. Und das bezahlen einige Patienten mit dem Leben. Auch Christiane Ullbrichs Mutter und ihr Bruder sind an einem Aortenriss gestorben; das Marfansyndrom war bei ihnen nie diagnostiziert worden. Christiane Ullbrich selbst ist nur dank einer Notoperation dem Tod entronnen.

    "Die zwei Schichten waren aufgetrennt, nur noch die letzte Schicht von der Aorta hatte gehalten, man konnte, als man mich aufgemacht hat, das Blut eben durch diese dünne Wand quirlen sehen. Zusätzlich war die Herzklappe abgerissen. Die Aortenklappe war abgerissen."

    Die Berlinerin hat schon viele Operationen hinter sich. Die Aortenklappe wurde durch eine künstliche Herzklappe ersetzt, ein Stück der Hauptschlagader ausgetauscht. Alle sechs Monate lässt sie am Herzzentrum kontrollieren, ob sich ihre Hauptschlagader wieder geweitet hat. Vom neuen Marfan-Zentrum ist sie begeistert.

    "Früher wurde immer nur meine Hüfte behandelt, mein Herz außer acht gelassen. Oder mein Herz wurde behandelt, meine Hüfte nicht beachtet, oder meine Augen wurden behandelt, aber das Herz und die Hüften nicht beachtet, und jetzt endlich ist mit diesem Zentrum eben ein ganz kompetentes Team zusammengekommen, Ärzte, die Erfahrung haben mit diesem seltenen Krankheitsbild, können eben auch auf dem kurzen Weg sich austauschen."

    Augenärzte, Herzspezialisten, Genetiker und Chirurgen arbeiten hier Hand in Hand. Das Marfan-Syndrom ist nicht heilbar, es gibt auch noch keine Medikamente dagegen. Aber man kann den Patienten trotzdem helfen: mit chirurgischen Eingriffen.

    "Sagen wir die Augenlinsen, die können durch Eingriffe am Auge entsprechend verbessert werden, die Problematiken des Stützapparates, insbesondere der Wirbelsäulen und oder auch der Gelenke der unteren Extremität können durch orthopädische Eingriffe verbessert werden, und speziell vom kardiologischen Aspekt, was die Hauptschlagader und auch die Problematik der Klappen betrifft, sind durch herzchirurgische Eingriffe hier Verbesserungen möglich."

    Schon in den letzten zehn Jahren habe sich eine Menge getan, sagt Felix Berger.

    "Man meinte früher zu sagen, dass ein Patient mit einer Marfan-Erkrankung durchschnittlich 30 bis 35 Jahre alt wird, und für uns ist das heute definitiv überhaupt keine Seltenheit, eher die Normalität, dass die Patienten fast schon eine normale Lebenserwartung mit sich bringen."

    300 Patienten lassen sich schon am Marfan-Zentrum behandeln. Für Ärzte gleichzeitig die Gelegenheit, das seltene Krankheitsbild weiter zu erforschen und vielleicht sogar neue Therapien zu entwickeln.