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Binnenflucht in Kolumbien
Vertrieben im eigenen Land

Durch die Flüchtlingsdramen im Mittelmeer und in Syrien bleibt weitestgehend unbemerkt, dass auch in Kolumbien mehrere Millionen Menschen vor bewaffneten Konflikten fliehen. Die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und bewaffneten Rebellen machen ein normales Leben für viele unmöglich.

Von Oliver Neuroth | 23.05.2015
    Soacha, eine 400.000-Einwohner-Stadt südlich von Bogotá. Straßenhändler versuchen, Obst und Gemüse zu verkaufen. Sie stehen vor Häusern, von denen viele nicht fertiggestellt sind - es fehlt der Putz oder gleich eine ganze Wand. Andere sind notdürftig mit Wellblech geflickt. Fährt ein Auto vorbei, entsteht eine riesige Staubwolke. Denn die meisten Straßen sind nicht asphaltiert. Hier lebt Baldomera mit ihrem Mann und ihren Eltern. Nicht freiwillig. Ihre Heimat ist eine ländliche Region; dort hatte die Familie einen Bauernhof. Eines Tages, erzählt die 33-Jährige, wurden sie bedroht.
    "In dem Moment, als bewaffnete Männer vor unserem Haus standen, mussten wir flüchten. Wir ließen alles zurück und kamen hierher, wo wir nichts hatten. Wir mussten uns bemühen, jeden Morgen ein Frühstück zu bekommen. Wir kannten niemanden und hatten Angst. Immer wieder haben wir uns gefragt: Können wir den Menschen hier vertrauen oder wollen die uns ausrauben? Das war sehr schwierig für uns."
    So wie Baldomera und ihrer Familie geht es Tausenden Kolumbianern - vor allem in der Pazifikregion. Rebellengruppen wie FARC oder ELN haben es auf ihre Grundstücke abgesehen. Oft gibt es dort Bodenschätze wie Erdöl. Oder das Gebiet soll genutzt werden, um Cocapflanzen anzubauen. Aus den Blättern wird Kokain hergestellt. Der Handel mit der Droge bringt den Rebellen Millionen ein, einige Gruppen finanzieren sich hauptsächlich dadurch.
    Der kolumbianische Staat wiederum versucht, den Drogenanbau einzudämmen - zusammen mit den USA. Die Methoden sind umstritten.
    Jahrelang haben Militärflugzeuge das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat über Coca-Plantagen versprüht. Es sollte dafür sorgen, dass die Pflanzen eingehen und den Händlern die Geschäftsgrundlage entzogen wird. Doch auch der Einsatz der Chemikalie hat viele Menschen in die Flucht getrieben. Sie haben Angst um ihre Gesundheit oder sind schon krank. Die Weltgesundheitsorganisation stuft das Mittel Glyphosat als – Zitat – "wahrscheinlich krebserregend" ein. Kolumbiens Präsident Santos hat inzwischen reagiert.
    "Ich habe die zuständigen Minister angewiesen, den Einsatz von Glyphosat zu verbieten."
    Diese Kursänderung kommt allerdings für den Teil der Kolumbianer zu spät, die wegen des Mittels bereits ihre Heimat verlassen haben. Es sind in vielen Fällen Bauern, die für die Rebellen gearbeitet haben. Denn der Anbau von Coca-Pflanzen bringt deutlich mehr Geld ein als der Anbau von Bananen oder Mangos. Wer wegen des Pestizideinsatzes geflohen ist, wird offiziell als "freiwilliger Flüchtling" eingestuft und bekommt keine Unterstützung vom Staat. Das sogenannte Opfergesetz aus dem Jahr 2011 gilt nur für Menschen, die gewaltsam vertrieben oder gefoltert wurden. Sie erhalten die nötigste Hilfe, erklärt Maria Eugenia Morales von der staatlichen Organisation "Unidad Victimas", Vereinigung der Opfer.
    "Wir müssen klären, in welcher Lage die Vertriebenen sind. Es geht um drei Punkte: Hat der Flüchtling eine Wohnung, hat er ausreichend zu Essen und ist er gesundheitlich versorgt? Ist das nicht der Fall, kümmern wir uns darum, bieten staatliche Unterstützung."
    Das Opfergesetz sieht auch vor, dass Vertriebene entschädigt werden. "Unidad Victimas" hilft ihnen außerdem dabei, ihr Land zurückzubekommen. Nach Angaben der Organisation läuft dieses Projekt erfolgreich. 90.000 Hektar Land sollen inzwischen wieder ihren ursprünglichen Besitzern gehören. Maria Eugenia Morales berichtet allerdings davon, dass einige Flüchtlinge die Hilfe der Vereinigung gar nicht in Anspruch nehmen wollen.
    "Viele Vertriebene entscheiden sich dafür, ein neues Leben zu beginnen. Sie wollen nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren, die sie verlassen mussten. Denn sie haben neu angefangen an dem Ort, an dem sie nun leben. Die Kinder gehen dort vielleicht zur Schule oder die Eltern haben eine Arbeit gefunden. Es gibt auch Fälle, in denen Frauen vor Gewalt und Missbrauch geflüchtet sind. Sie wollen oft nicht dorthin zurück, wo das passiert ist."
    Auch Baldomera und ihre Familie möchten nicht zurück aufs Land. Nach der schweren Anfangszeit in Soacha haben sie eine bessere Wohnung bekommen - und Baldomera eine Stelle in einer Textilfirma. Inzwischen arbeitet sie selbstständig. Zusammen mit anderen vertriebenen Frauen schneidert die 33-Jährige Kleidung für eine Supermarktkette.
    "Ich danke Gott, dass es uns jetzt so gut geht. Unser Leben verbessert sich von Tag zu Tag."
    Baldomera ist allerdings ein positiver Einzelfall. Die große Mehrheit der Flüchtlinge schafft es nicht in eine geregelte Arbeit und lebt in ärmlichen Verhältnissen. Die Elendsviertel an den Rändern der kolumbianischen Großstädte wachsen immer weiter. Die Einwohnerwahl von Soacha hat sich in den vergangenen 30 Jahren mehr als verdreifacht. Es sind zwar nicht nur Vertriebene zugezogen, aber ihr Anteil ist hoch. Baldomera setzt ihre Hoffnung auf den Friedensprozess in Kolumbien - auf die Gespräche zwischen Regierung und Rebellen, die seit zweieinhalb Jahren laufen.
    "Ich glaube, dass die Verhandlungen Erfolg haben werden. Denn beiden Seiten ist klar, dass der jahrelange Krieg zu Ende gehen muss. Wir brauchen Frieden. Und dann wird es auch weniger Vertriebene geben."