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Biografie zum 100. Geburtstag
Gottfried von Einem - Komponist der Stunde Null?

Der Komponist Gottfried von Einem feierte in der frühen Nachkriegszeit Erfolge. Die Uraufführung seiner Oper "Dantons Tod" im Jahr 1947 wurde sogar als Stunde Null der Nachkriegsmusik beschworen. Eine neue Biografie über von Einem zieht diese Annahme in Zweifel und bietet neue Perspektiven auf das damalige Musikleben.

Von Matthias Nöther | 11.12.2017
    Der österreichische Komponist und Musikpädagoge Gottfried von Einem in einer undatierte Aufnahme
    Der österreichische Komponist und Musikpädagoge Gottfried von Einem (picture-alliance/ dpa - UPI)
    Musik: Gottfried von Einem "Philadelphia Symphony" (1964)
    Wer dies für die Musik eines deutschen Kleinmeisters unmittelbar nach Richard Wagners Tod hält, irrt sich. Die "Philadelphia Symphony" stammt aus dem Jahr 1964. Komponiert hat sie Gottfried von Einem. Er war in der frühen Nachkriegszeit einer der meistaufgeführten Opernkomponisten der Bundesrepublik und Österreichs, doch auch Sinfonisches in traditioneller Besetzung komponierte er, ganz ohne die damals moderne Studio-Elektronik.
    Eloquenter Künstler mit kulturellem Netzwerk
    Der Autor Joachim Reiber interessiert sich in seiner Biografie "Gottfried von Einem. Komponist der Stunde Null" nicht so sehr für die Musik wie für das kulturelle Netzwerk, das dieser eloquente Künstler nach dem Krieg in der westdeutschen Musik- und Opernszene aufbaute - nicht zuletzt durch eine intensive briefliche Korrespondenz mit der Wagner-Familie, mit den Opernintendanten Rolf Liebermann und Heinz Tietjen, mit Komponistenkollegen wie Werner Egk und vielen anderen. Es ist eine Korrespondenz, die literarische Qualitäten hat, aber nicht verdeckt, dass der junge Einem etliche dieser Persönlichkeiten bereits als Funktionäre des NS-Staats kenngelernt hatte. Und so scheint es Reiber wenig glaubhaft, dass es in der Musikszene nach dem Krieg wirklich eine "Stunde Null" gab. Fakt ist: In der westdeutschen und österreichischen Nachkriegsmusik wurde die Uraufführung von Gottfried von Einems Oper "Dantons Tod" 1947 als diese Stunde Null beschworen.
    "In der Tagespresse wurde er als Repräsentant einer ganzen Generation vorgestellt. Er sei, las man in der Österreichischen Zeitung, Exponent einer aus dem zweiten Weltkrieg mit knapper Not heil davongekommenen Jugend. Über die Details wurden unterschiedliche Angaben gemacht. Wie knapp war die Not und wie schwierig der Weg, heil davongekommen zu sein? Sein künstlerisches Renommee wurde mit dem Verweis auf Einems Opus 1 herausgehoben, das Ballett Turandot. 'Ueber dessen Qualität sagt die Tatsache der Uraufführung durch ein Institut vom Range der Dresdner Staatsoper wohl genug.' Eine andere Tatsache – hier nicht erwähnt – war das Datum der Uraufführung. Sie fand am 5. Februar 1944 statt. Die 'New York Times' sprach von einem merkwürdigen Fall. Wie konnte es zugehen, fragt sich das Blatt noch vor der 'Danton'-Premiere, dass ein Komponist so wenig vorzuweisen habe – und einen so steilen Aufstieg nahm?"
    Musik: "Dantons Tod"
    Enorme persönlichen Probleme
    Äußerlich gesehen entscheidet sich Biograf Joachim Reiber für eine konventionelle Erzählweise: Er nimmt die acht Opern Gottfried von Einems als Anlass, um Einems Lebensweg und seine enormen persönlichen Probleme darzustellen. Allerdings weiß Reiber von Anfang an, dass Einems ungewöhnliche Biografie und die Art seiner Probleme mit sich selbst diese Erzählweise sprengen werden. Bei der Uraufführung von "Dantons Tod" in Salzburg 1947 war Gottfried von Einem immerhin schon 29 Jahre alt und hatte die NS-Zeit nicht weniger bewusst miterlebt als andere. "Dantons Tod" nach dem resignativen Revolutionsstück von Georg Büchner war Einems Beitrag zum fatalistischen Grundgefühl der Kriegsverlierer.
    "'Die Dissonanzen', notierte der nostalgische Festspielflaneur des Jahres 1947, 'sind so grell und laut, dass du der stillen Harmonie der Stadt nicht mehr gewahr wirst, beim besten Willen nicht'" Die Zeit, 'unsere Zeit', sei 'zerrissen von den Nachwehen des Krieges; täglich, stündlich prallen die Mächte von gestern mit jenen von morgen aufeinander.' Dieser Zeit, fand man, habe der nicht einmal 30-jährige Komponist zum Ausdruck verholfen. Gottfried von Einem war der Mann der Stunde."
    Dass dies auch eine Stunde Null war, für Einem und für die Nachkriegsgesellschaft, daran nährt der Biograf Joachim Reiber auf brillante Art Zweifel. Er schält Gottfried von Einem im Verlauf des Buchs immer stärker aus seiner Existenz als eloquenter und privilegierter, aber mittelmäßiger Komponist heraus und beleuchtet ihn als Beispiel für eine merkwürdig zwischen den Zeiten stehende Künstlergeneration. Seine Pointe:
    "Der Geschichte entkommt man nicht."
    Ein unbekannter Vater und eine rätselhaften Mutter
    Die eigentliche Geschichte aber wird in Reibers Buch viel später erzählt, im Zusammenhang mit Einems Oper "Der Besuch der alten Dame". Wie das Drama von Dürrenmatt ist auch die Oper von 1971 ein Versuch der Auseinandersetzung mit einer unbewältigten Vergangenheit – in Einems Fall nicht einer kollektiven, sondern zuallererst einer sehr persönlichen – als privilegiertes Kind eines unbekannten Vaters und einer rätselhaften Mutter.
    "Die alte Dame steht nicht auf einer Bühne, sondern vor einem Militärgericht in Paris. Es handelt sich um Gerta Louise von Einem, geborene Riess von Scheuernschloss, die Mutter des Komponisten Gottfried von Einem. Die mediale Aufmerksamkeit ist gewaltig, Blitzlichtgewitter. 'Baronin von Einem, die Mata Hari des Dritten Reichs, wird vor ihre Richter treten – flankiert von Schatten der Vergangenheit', meldet 'France Soir' auf Seite eins, und andere große Zeitungen ziehen gleich. Der Prozess der alten Dame im Frühjahr 1948 ist eine Geschichte für die Titelseiten. Es ging um die Neuauflage eines Verfahrens, das bereits 1940 stattgefunden und mit einem Todesurteil gegen die Baronin geendet hatte."
    In Abwesenheit. Wie meistens war Frau von Einem schon wieder weitergezogen. Bereits früher, während Gottfried von Einem noch mit Hausmädchen und Privatlehrer in einer Luxusvilla mit 20 Zimmern aufwuchs, war Gerta Louise von Einem auf immerwährenden Reisen ihren dunklen Geschäften nachgegangen. Später machte sie den Sohn mit führenden Nazis bekannt, besorgte ihm einen Posten in der Reichsmusikammer und ermöglichte dem nur mäßig begabten Pianisten einen Berufseinstieg als Korrepetitor an der Berliner Staatsoper.
    Immer mehr durchlöchert Biograf Reiber den fragwürdigen Begriff der "Stunde Null". Wie die steinreiche und intrigante Mutter nicht nur im NS-Staat ihre Fäden spann, sondern auch im Kulturbetrieb der Nachkriegszeit mitmischte, wäre eine eigene Untersuchung wert. Reiber lässt die Sehnsucht nach Wärme und Anerkennung als Grundmotiv von Gottfried von Einems Leben aufscheinen. Sich damit die sinfonisch volltönende, rückwärtsgewandte Musik des alternden Komponisten in den 60er-Jahren zu erklären oder auch nicht, überlässt der Biograf dem Leser.
    Joachim Reiber: "Gottfried von Einem. Komponist der Stunde null"
    Kremayr & Scheriau, 256 Seiten.