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Biographie eines Bildes

Picassos grau-weißes Bild über den deutschen Bombenangriff auf die baskische Stadt Guernica ist heute eines der bekanntesten Kunstwerke der Welt. Der Münchener Siedler Verlag hat anlässlich des 70. Gedenktages des Terrorangriffs die deutsche Übersetzung eines bereits vor drei Jahren in England erschienenen Bandes herausgebracht, dass sein Autor Gijs van Hensbergen als "Biographie eines Bildes" bezeichnet.

Von Stefan Koldehoff |
    Picassos "Guernica" ist in den sieben Jahrzehnten seit seiner Entstehung für den spanischen Pavillon auf der Weltausstellung 1937 in Paris unendlich oft interpretiert worden. Picasso selbst hatte nach dem Krieg einem amerikanischen Soldaten erläutert, dass der Stier für Brutalität stehe und das verwundete Pferd für das leidende Volk. Den Rest erledigten die Kunsthistoriker. Sie erklärten den toten Krieger, den schreienden Vogel und die grelle Glühbirne am oberen Bildrand zur Stellvertreterin jener deutschen Bomben, die Picasso nicht malte. Der marxistische Kritiker Max Raphael nannte ihn deswegen einen sentimentalen Bourgeois, der sich nicht traue, die Wahrheit abzubilden, sondern in Metaphern aus der Tierwelt geflüchtet sei.

    Der Kunsthistoriker und Kurator Werner Spies, weltweit wohl einer der besten Picasso-Kenner der Gegenwart, nimmt den Künstler gegen diesen Vorwurf in Schutz:

    Picasso sucht nach einem Sujet und nach einer Darstellungsweise, die sein Engagement für die republikanische Sache zum Ausdruck brächten. Er ist dabei keineswegs frei. Denn eine wirklichkeitsnahe Wiedergabe der Ereignisse um Guernica verbieten die Statuten der Weltausstellung. Auf sie verweisen die Verantwortlichen des republikanischen Pavillons: 'Der Ton, der die spanische Abteilung auf der Ausstellung bestimmen soll, muss auf jede Provokation verzichten, die eine Regierung, die in Paris vertreten ist, darin erkennen könnte.'

    Es kann demzufolge überhaupt nicht die Rede davon sein, mit realistischen Mitteln - Erkennungszeichen an Flugzeugen oder Uniformen - die Terrorangriffe auf die Zivilbevölkerung in Guernica darzustellen. Auch Picasso hätte sich nicht gegen das von der Appeasement-Politik der Organisatoren diktierte Reglement durchsetzen können. Er findet eine Lösung, die auf narrative Mittel verzichtet.


    "Technik im modernen Leben" lautete das Motto der Weltausstellung, auf der der deutsche und der sowjetische Pavillon sich stellvertretend für Faschismus und Kommunismus gegenüberstanden. Zu welchen Bildlösungen Picasso für das offiziell noch demokratische Spanien fand, beschreibt Gijs van Hensbergen in seinem Buch aus allen möglichen Blickwinkeln. Er begeht nicht den Fehler, dem Guernica-Kanon eine weitere Bildauslegung hinzuzufügen. Van Hensbergen hat tatsächlich eine Biographie des Gemäldes geschrieben, die versucht, all seinen Aspekten gerecht zu werden: dem historischen, dem politischen, dem kunstgeschichtlichen und dem rezeptionshistorischen. Enorm sachkundig und in einer trotzdem verständlichen Sprache, die auf alle kunsthistorischen Allgemeinplätze verzichtet, spürt er der Entstehung und der Wirkung des Gemäldes nach. Entstanden ist auf diese Weise ein Buch, das Kunstgeschichte und Weltgeschichte so klug, kompetent und jederzeit verständlich miteinander verbindet, das seine Lektüre neben Erkenntnisgewinn auch ein hohes Maß an Lesevergnügen bereitet.

    Am 1. Mai 1937 sollte das Bild, das Picassos gerade einmal skizziert hatte, eigentlich schon fertig sein. Für jenen Tag nämlich war die Eröffnung der Weltausstellung geplant. Streiks führten dann aber dazu, dass sich das Ereignis um mehr als drei Wochen verzögerte. Also blieb dem Maler genügend Zeit, seine Bild-Pläne noch einmal völlig zu ändern. Als der damals 46 jährige von der republikanischen Zentralregierung den Auftrag erhalten hatte, für den spanischen Pavillon auf der Weltausstellung in Paris ein Gemälde zu schaffen, hatte er zunächst eine Theaterkulisse zum Thema "Maler und Modell" geplant, aus der plastische Elemente herausragen sollten. Unbewußt schien sich diese erste Bildidee der Appeasementpolitik der spanischen und französischen Regierungen unterzuordnen, die Ärger mit den Deutschen vermeiden wollten.

    Dann aber sah Picasso am 1. Mai 1937 auf dem Titel der Tageszeitung "Ce Soir" eine Bildreportage über den deutschen Angriff auf Guernica. Sieben Monate zuvor hatte sich General Francisco Franco an die Macht geputscht und eine faschistische Junta gegen die demokratisch gewählte Regierung eingesetzt. Deutschland und Italien erkannten Francos Regime schon einen Monat später an und unterstützten es im Bürgerkrieg gegen die sich unter anderem im Baskenland wehrenden republikanischen Truppen. Drei Stunden lang hatten am 26. April 1937 deutsche Jagdflugzeuge der Legion "Condor" die strategisch völlig unbedeutende Stadt im Baskenland bombardiert. Angeblich ging es darum, eine Brücke als Nachschubweg für die republikanischen Truppen zu zerstören. Tatsächlich aber traf keine einzige Bombe diese Brücke. In zwei sich kreuzenden Schneisen wurden dafür Wohnviertel, Straßen und der Martktplatz bombardiert. 1.654 Menschen, so lauteten später die offiziellen Zählungen, kamen ums Leben. Inzwischen werden auch andere Zahlen genannt - höhere wie niedrigere. Der gezielte Angriff auf die Zivilbevölkerung von Guernica, das belegt van Hensbergens Buch zweifelsfrei, hatte das Ziel, die Basken zu demoralieren, deutsche Unterstützung für die faschistischen Putschisten zu demonstrieren und - drei Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs - die Flugzeuge und Bomben der Deutschen Wehrmacht in der Praxis zu erproben. Wo sonst hätte das geschehen können?

    Gijs van Hensbergen beschreibt die Entstehung des Jahrhundertgemäldes. Er belegt, dass es bei seiner ersten Ausstellung 1937 in Paris kaum wahrgenommen und nicht einmal im Katalog der Weltausstellung erwähnt wurde. Erst als die Leinwand 1939 ins amerikanische Exil ging, weil Picasso sie nur einem freien und demokratischen Spanien schenken wollte, wurde "Guernica" zum Mythos. Als Picasso allerdings der Kommunistischen Partei beitrat und 1951 auch ein ungleich deulicheres Grau-in-grau-Bild mit dem Titel "Massaker in Korea" malte, sank sein Stern in den USA.

    Dass man dem "Guernica"-Gemälde dort bis heute mit Skepsis begegnet, beschreibt Gijs van Hensbergen am Ende seines Buches, das ein Standardwerk über das Bild und seine Geschichte werden wird. Als am 4. Februar 2004 US-Außenminister Colin Powell den UN-Sicherheitsrat mit frisierten " Beweisen" für Massenvernichtungswaffen zum Krieg gegen den Irak bewegen wollte, fürchtete er die Nähe des Picasso-Gemäldes. Eine Kopie, gestiftet 1985 von Nelson Rockefeller, hängt im Vorraum zum Sitzungssaal im UNO-Gebäude in New York. Auf Wunsch der US-Regierung wurde es vor der entscheidenden Sitzung verhängt. Bomben auf Zivilisten sollte die Weltöffentlichkeit nicht mit dem wenig später erfolgten Angriff der USA und ihrer Verbündeter Auf Bagdad in Zusammenhang bringen.

    Gijs van Hensbergen: Guernica. Biographie eines Bildes
    Aus dem Englischen von Nikolaus G. Schneider
    Siedler Verlag, München 2007, 416 Seiten, Euro 24,95