
So hatte die Musik von Johann Sebastian Bach zuvor auf Platte noch nicht geklungen. Es war eine Sensation in den 1950er-Jahren: Isolde Ahlgrimm spielte im Auftrag der Plattenfirma Philips erstmals sämtliche Werke Bachs für Cembalo ein. Die Musikerin war damals schon Ende 30 und verfügte nicht nur über viel Erfahrung, sondern auch über eine ganze Sammlung historischer Instrumente. Und sie hatte jahrelang akribisch die Quellen studiert.
Ab 1937 "Concerte für Kenner und Liebhaber"
Isolde Ahlgrimm war eine Pionierin heutiger historischer Aufführungspraxis. Es gab kein Vorbild, es gab keinen Lehrer - diese neue alte Art, Cembalo zu spielen, die entdeckte sie für sich selbst. 1914 in Wien geboren, bahnte sich die zierliche, gerade mal 1 Meter 56 große Musikerin mit viel Fleiß und unglaublicher Willenskraft ihren Weg. Zunächst hatte sie in ihrem Ehemann Erich Fiala einen Mitstreiter. Ab 1937 sammelten die beiden systematisch historische Instrumente und sie veranstalteten in Wien zwei Jahrzehnte lang die "Concerte für Kenner und Liebhaber" – eine Chronologie im Anhang des Buchs dokumentiert bis ins Detail Repertoire, Mitwirkende und das Instrumentarium.
Für Ahlgrimm stand schnell fest, dass Barockmusik anders klingen müsste:
"Es gilt für den heutigen Musiker dasselbe wie für den damaligen. Er hat die Aufgabe, die Musik so zu verzieren, wie es damals der Komponist von ihm erwartet hätte, auch spontan, ohne Vorausplanung."
So Isolde Ahlgrimm 1955 im Begleittext zu ihrer Aufnahme der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach.
Bahnbrechende Aufnahmen von Bachs Musik für Cembalo
Bach war der zentrale Komponist in ihrer künstlerischen Arbeit, auch wenn sie insgesamt gesehen über ein breites Repertoire verfügte: von barocken Werken über Kompositionen von Wolfgang Amadeus Mozart bis hin zu zeitgenössischer Musik; Richard Strauss widmete ihr etwa seine Capriccio-Suite, nachdem sie an der Uraufführung seiner letzten Oper "Capriccio" mitgewirkt hatte.
Waren ihre Bach-Aufnahmen in den 1950er-Jahren aufsehenerregend gewesen – auch aufgrund der guten historischen Instrumente, auf denen sie spielte, so wirkten nachfolgende Einspielungen kontraproduktiv. Das stellen jedenfalls Regula Winkelman und Peter Watchorn fest mit Blick auf jene Aufnahmen, die sie in Ostdeutschland gemacht hatte.
"Ostdeutschland hinkte jedoch in jeder Beziehung hinter dem Westen her. So war auch der Cembalobau im Rückstand und damit standen Isolde Ahlgrimm keine optimalen Instrumente zur Verfügung. In der Folge gaben diese Aufnahmen mit ungenügenden Instrumenten und stilistisch ungeschulten Orchestern ein negatives Bild und repräsentierten weder Ahlgrimms Erkenntnisse in Sachen Aufführungspraxis noch ihr tatsächliches Können. Diese neuen Aufnahmen verbreiteten sich rapide und machten sie bekannt, überschatteten aber die wegweisenden Leistungen ihrer früheren, weit progressiveren Einspielungen. Als dann die ersten Bach-Aufnahmen aus dem Programm von Philips verschwanden und nur noch die schlechten Neuaufnahmen auf dem Markt waren, erhielt Ahlgrimm das Image einer älteren 'modernen' Cembalistin, die keine Ahnung von historischer Aufführungspraxis und authentischen Instrumenten hatte."
So erklären die Biographen, warum Isolde Ahlgrimm und ihre Verdienste um die historische Aufführungspraxis lange Zeit nicht angemessen beachtet waren. Der australische Cembalist Peter Watchorn, einer der letzten Schüler Ahlgrimms und ein guter Freund, hat 2007 eine englischsprachige Biographie veröffentlicht. Sie bildet die Basis für das Buch, das jetzt im Böhlau Verlag erschienen ist. Die Schweizer Cembalistin Regula Winkelman hat es verfasst beziehungsweise Watchorns Ausführungen übersetzt. Neue Dokumente aus dem Nachlass von Isolde Ahlgrimm erweitern den Einblick in ihre Arbeitsweise. Entstanden ist eine ebenso liebevoll wie fachkundig gemachte Biographie, die auch detaillierte Analysen ihres Interpretationsstils umfasst.
Was fehlt, ist eine kritische Distanz zur verehrten Lehrerin, um klarer zu benennen, was fortwirkt und wo sie vielleicht irrte.
Cembalistin, Autorin, Sammlerin, Lehrerin
Isolde Ahlgrimm hat mit ihrem Cembalo-Spiel neue Horizonte eröffnet, sie wusste zugleich, eloquent in Vorträgen und Artikeln ihre Erkenntnisse und Forderungen zu artikulieren; bis zu ihrem Tod 1995 hat sie auch an einem Buch über die "Ornamentik der Musik für Tasteninstrumente" gearbeitet – es erschien posthum. Im Anhang zur Biographie finden sich zahlreiche andere Texte von Isolde Ahlgrimm zu musikalischen Fragen. 1955 schrieb sie etwa:
"Heutzutage hört man oft vom Publikum, Barockmusik sei langweilig. Diese Leute spüren intuitiv, dass die meisten Aufführungen den musikalischen Atem vermissen lassen. Es ist die Unzulänglichkeit moderner Barockmusik-Aufführungen, die für dieses falsche Verständnis des Publikums verantwortlich ist. Barockmusik wird oft als primitiver Vorgänger der klassischen Musik betrachtet, weil nur der Rahmen geboten wird und nicht all das, was diese Art Musik so genussreich machen kann. Wenn man Chopins Musik all ihrer Verzierungen entblößen würde, würde auch seine Musik als primitiv gelten."
Isolde Ahlgrimm hat 50 Jahre lang Konzerte gegeben und mit ihrer Arbeit nachfolgende Musiker beeinflusst - insbesondere auch Nikolaus Harnoncourt. Mit ihm hat die Cembalistin Gambensonaten von Bach eingespielt. In Wien unterrichtete sie als Professorin – fünf ihrer Schüler berichten in der neuen Biographie über diese prägende Erfahrung.
Wie bei einer Collage entsteht beim Lesen ein lebendiges facettenreiches Bild von Isolde Ahlgrimm. Und man möchte mehr von ihr hören – schön, dass laut Biographie bald eine Neuauflage ihrer ersten, bahnbrechenden Bach-Einspielungen erscheinen soll.