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Biologie
Auch Hirsche horchen auf, wenn Babys schreien

Wenn Babys um Hilfe schreien, horchen nicht nur Menschen auf, sondern auch Hirsche. Das hat ein Forscherteam aus Kanada gezeigt. Die Wissenschaftler vermuten: Dahinter stecken uralte neuronale Mechanismen, die sich vor Millionen von Jahren entwickelt haben.

Von Marieke Degen | 15.10.2014
    Ein zwei Wochen altes männliches Baby schreit
    Viele Säugetiere reagieren auch fürsorglich auf artfremde Hilferufe (picture alliance / dpa / Uli Deck)
    Ein Video, aufgenommen in der kanadischen Prärie. Ein Hirschweibchen äst friedlich im hohen Gras. Plötzlich ein Hilferuf. Ein Kälbchen ist in Gefahr, wird vielleicht von einem Kojoten bedroht. Sofort hechtet das Weibchen mit großen Sprüngen über das Weideland, in Richtung Hilferuf. Es geht um Leben und Tod.
    "Wenn Hirschweibchen einen Kojoten attackieren wollen, stellen sie ihr Fell auf, ihre Ohren stehen rechtwinklig von ihrem Kopf ab - wie die Rotorblätter eines Helikopters. Sie lehnen sich nach vorne, und manchmal drehen und wenden sie sich, um ihr Kalb, aber auch sich selbst vor dem Angreifer zu schützen. Dabei stoßen sie Grunzlaute aus, eine Art Kontaktruf für das Kälbchen", sagt die Forscherin Susan Lingle.
    Doch diesmal bekommt das Hirschweibchen keinen Kojoten zu sehen - sondern nur einen Lautsprecher, der im Gras versteckt ist. Und die verzweifelten Rufe stammen auch nicht von einem Hirschkalb, sondern von einem kleinen Seebären.
    Seebär, Hirschkalb und Menschenbaby lösen dieselbe Reaktion aus
    Susan Lingle ist Biologin an der Universität von Winnipeg in Kanada, sie hat das Video gedreht. Die Hilferufe von Säugetier-Babys, sagt sie, sind sich oft sehr ähnlich. Was sie und ihr Team jetzt gezeigt haben ist: Die Rufe können offenbar auch dieselbe Reaktion auslösen - und das artübergreifend, berichten die Forscher im American Naturalist.
    "Die Hilferufe sind sehr einfach aufgebaut. Nicht wie ein komplizierter Vogelgesang - sondern ein einfacher, getakteter Ton."
    Zum Beispiel ein Hirschkalb, eine Schraubenziege - auch ein Huftier, ein Kätzchen und ein Baby.
    Andere Hilferufe sind zwar von der Anmutung her ähnlich, haben aber eine höhere oder eine zu tiefe Tonlage, wie zum Beispiel die Antilope. Solche Rufe hatten die Forscher für das Experiment von der Tonhöhe her angepasst.
    Susan Lingle und ihr Team haben wild lebenden Hirschmüttern in der Prärie all diese Laute vorgespielt. Die Reaktion war immer dieselbe: Die Hirschmütter stürzten los, bereit, ihr Jungtier zu verteidigen.
    "Die Hirschmutter weiß natürlich nicht, dass das ein Baby ist und das ein Heuler. Die Geräusche sind sich ähnlich genug, dass es möglich wäre, dass ihr Kalb in Schwierigkeiten ist."
    Dem Nachwuchs soll schnell geholfen werden - auch dem fremden
    Aus evolutionärer Sicht ergibt das auch Sinn, sagt Susan Lingle: Denn für die Muttertiere ist es am wichtigsten, im Ernstfall schnell zu reagieren - ob die Rufe wirklich zum eigenen Kälbchen gehören, ist da zweitrangig. Aber die Ergebnisse offenbaren noch mehr, sagt der Neurobiologe Paul Faure von der MacMaster-Universität in Hamilton:
    "Ich finde es faszinierend, dass die zugrunde liegenden Mechanismen im Gehirn - vom Hilferuf bis hin zur Reaktion darauf - dass diese Mechanismen offenbar bei allen Säugetierarten sehr ähnlich ablaufen. Das spricht dafür, dass es im Säugetierhirn uralte neuronale Schaltkreise geben muss, die in den einzelnen Arten über Millionen von Jahren gehalten haben.
    Susan Lingle geht davon aus, dass andere Säugetiere auf artfremde Hilferufe ähnlich fürsorglich reagieren. Viele Hunde- und Katzenbesitzer kennen das. Und vielleicht lässt sich damit auch die ein oder andere Anekdote aus der Tierwelt erklären - etwa die von der Löwin in Kenia, die seit Jahren Antilopenbabys adoptiert:
    "Meine Lieblingsgeschichte ist die aus Indien, wo ein Elefant ausgerastet ist und Häuser zerstört hat. Als in den Trümmern plötzlich ein Baby anfing zu weinen, hat er sofort aufgehört und stattdessen ganz vorsichtig mit seinem Rüssel den Schutt vom Bettchen entfernt."