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Biologie
Dem Haareis auf der Spur

Die Struktur von Eis besteht in der Regel aus Kristallen. Es gibt aber auch Eis, das anders aufgebaut ist - nicht drei-, sondern eindimensional, wie ein hauchdünnes Haar. Derzeit herrschen gute Bedingungen, um dieses seltene Naturphänomen zu finden: Nach der Schneeschmelze sprießt das sogenannte Haareis gerne im feuchten Wald.

Von Volker Mrasek | 02.02.2015
    "Wir sind hier in einem Buchenwald, im Forschungszentrum selber."
    Diana Hofmann geht 'mal kurz ums Eck. Sie hat Glück: Es liegt kein Schnee.
    "Im Schnee selber würde man es dann nicht mehr finden, weil einfach alles schon weiß ist."
    Die Chemikerin aus dem Forschungszentrum Jülich sucht etwas ...
    "Die Temperaturen sollten also leicht unter null Grad sein, aber auch nicht zu kalt. Das Holz als solches darf nicht durchgefroren sein."
    Sie sucht nach einem winterlichen Naturphänomen ...
    "Es ist im allgemeinen immer an Aststücken, die auf dem Boden liegen, weil's dort auch besonders nass ist."
    Totes Holz, Minusgrade, etwas, das hell wie Schnee ist - die Jülicher Forscherin hält Ausschau nach Haareis. Die wenigsten haben es jemals zu Gesicht bekommen.
    "Das Fell von Edelkatzen. Die haben so ein ganz feines Haar."
    Genau so filigran sei auch Haareis, sagt der Chemie-Ingenieur Ulrich Disko. Er arbeitet ebenfalls im Institut für Bio- und Geowissenschaften des Forschungszentrums Jülich.
    "Wie Nylonfäden. Ganz feine Nylonfäden."
    Nur Bruchteile von Millimetern sind die Eishaare dünn, die dem toten Holz zu Berge stehen. Sie wachsen meist in dichten Büscheln und können zehn Zentimeter lang werden. Manchmal ist die Frisur gewellt, manchmal windzerzaust - oft erinnert sie an Zuckerwatte.
    Zwei Dinge sind ganz ungewöhnlich an Haareis: Es wächst nicht oben an der Spitze, sondern unten an der Wurzel. Und: Seine Struktur ist ganz anders als die von Schneeflocken zum Beispiel, wie Diana Hofmann erläutert:
    "Völlig anders! Das ist eben kein Eis, was als Kristall vorliegt, sondern es ist eindimensional. Es ist wirklich fadenförmig, und es liegt ein Faden neben dem anderen vor."
    Der berühmte deutsche Polarforscher Alfred Wegener beschrieb Haareis als Erster. Das war vor rund 100 Jahren. Noch immer ist das Phänomen nicht vollständig enträtselt. Daran arbeiten Diana Hofmann und andere Forscher bis heute.
    "Was ich jetzt sehe, gefällt mir gar nicht, weil ich das sehr wahrscheinlich abbrechen, neu anfangen darf. Mir fehlen zwei Kurven."
    Hier halten sich Ulrich Disko und Diana Hofmann häufig auf. In einem Laborraum mit klobigem Massenspektrometer.
    "Wir haben zurzeit von drei verschiedenen Baumspezies Haareis. Einmal von der Buche. Aber auch von Ahorn und der Roteiche."
    Mit dem Gerät lässt sich das Schmelzwasser von Haareis durchleuchten. Es ist schwach bräunlich gefärbt. Denn Haareis enthält nicht nur Wasser, sondern auch organische Verbindungen - wie kein anderes Eis sonst.
    "Wir haben eine extrem große Vielzahl von Verbindungen gefunden. Und durch Vergleich mit anderen Literaturdaten konnten wir feststellen, dass es sich dabei um Lignin- und Tanninsubstanzen handelt, die ursprünglich aus dem Baum stammen."
    Doch wer oder was lässt diese Eisbüschel entstehen, die von unten nach oben sprießen?
    Schon Alfred Wegener vermutete, es könne sich um einen Pilz handeln, der das Totholz zersetzt und dabei etwas nach außen abgibt - durch die radial verlaufenden Markstrahlen im Bast von Laubbäumen. Damit lag der Haareis-Entdecker wohl richtig. Diana Hofmann erklärt das Ganze heute so:
    "Der Pilz verstoffwechselt offensichtlich Bestandteile des abgestorbenen Baumes. Der lebt davon. Und das, was er entweder nicht gebrauchen kann oder was für ihn giftig ist, das scheidet er aus. Und bei Temperaturen eben leicht unter null Grad gefriert das Ganze dann. Und aufgrund dieser organischen Inhaltsstoffe, die da ausgeschieden werden, gibt es diese ganz spezielle Form."
    Diese Büschel aus unzähligen weißen Haaren. Wobei noch nicht klar ist, wie die organischen Substanzen es anstellen, dass die Eiskristalle fädig emporwachsen, statt sich in alle Richtungen zu verzweigen wie im Kristallgitter einer Schneeflocke.
    Auf Nadelbäumen sucht man Haareis übrigens vergebens.
    "Die Markstrahlen sind sehr viel dünner. Und offensichtlich reicht das nicht, um Haareis zu produzieren."
    Und der Pilz? Kennt man den inzwischen? Laut Diana Hofmann wurden zwar schon Dutzende Arten in eisbehaartem Holz gefunden. Doch nur eine sei jedes Mal dabei gewesen:
    "Das ist die Rosafarbene Gallertkruste."
    Sie könnte also die mysteriöse Haareis-Schöpferin sein!
    Fest steht jedenfalls, dass der verantwortliche Pilz das Totholz dauerhaft bewohnt - und sogar mehrere Winter hintereinander Haareis fabrizieren kann. Wer also einen solchen Ast im Laubwald findet, kann ihn mitnehmen. Und hoffen, dass aus ihm eine Saison später erneut weiße Haarbüschel sprießen - vorausgesetzt, es ist kalt und nass genug.
    Allerdings muss man schon großes Glück haben, um Haareis tatsächlich aufzuspüren.
    "Das ist schon selten."