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Biologie
Menschenaffen können irrtümliches Handeln vorhersehen

Menschenaffen sind in der Lage, das irrtümliche Handeln von anderen Lebewesen vorherzusehen. Das konnte ein internationales Team von Primatenforschern nun erstmals zeigen.

Von Michael Gessat | 07.10.2016
    Bonobos im zoologisch-botanischen Garten Wilhelma in Stuttgart, aufgenommen am 24.04.2015.
    Affen können sich in andere Akteure hineinversetzen (picture-alliance / dpa / Benjamin Beytekin)
    Sich in die Perspektive eines anderen hineinzuversetzen, kann je nach Situation unterschiedlich schwer sein. Relativ einfach ist zum Beispiel: Ich verstecke eine Nuss, sehe, dass das jemand anders beobachtet. Und schlussfolgere: Auch der andere weiß jetzt, wo die Nuss ist. Zu dieser Art Perspektivwechsel sind einige Tierarten in der Lage. Was Kognitions-wissenschaftler bislang nur Menschen zugetraut haben, sind komplexere Situationen, in denen eine "Theory of Mind" nötig ist: Ein Modell also über das Bewusstsein des Gegenübers, das auch dessen abstraktere Handlungsmotive wie Gefühle, Erwartungen oder Meinungen einbezieht.
    "Diese Fähigkeit ist schon deutlich anspruchsvoller als das, was in bisherigen Studien bei Tieren gezeigt werden konnte – denn sie setzt ja ein Verständnis dafür voraus, dass andere nicht nur auf Basis der Realität handeln, sondern auf der Basis dessen, was sie für die Realität halten – und das kann eben auch falsch sein."
    Dass nicht nur Menschen, sondern auch Menschenaffen über ein Bewusstseinsmodell, eine zumindest rudimentäre "Theory of Mind" verfügen, das vermuten Primatenforscher wie Christopher Krupenye von der Duke University in Durham schon lange – nur nachweisen ließ sich das bislang äußerst schwer. Krupenye, aktuell Postdoktorand am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig, und seinem Kollegen Fumihiro Kano von der Kyoto University scheint es nun aber doch gelungen:
    "Das grundsätzliche Konzept unserer Studie basiert auf früheren Studien an Kleinkindern, aber die Story, das Drehbuch haben wir ganz originär erschaffen, speziell für große Menschenaffen."
    Die Forscher führten ihren insgesamt 41 Versuchs-Schimpansen, Bonobos und Orang-Utans, jeweils in Einzelsitzungen, Videos vor. Und die Story ging dabei so: Ein menschlicher Akteur inspiziert zwei hohle Heuhaufen in einem Affen-Freigehege. Dann stürmt ein zweiter Akteur in einem King-Kong-Kostüm auf den Menschen los und schlägt ihn auf den Rücken. Anschließend versteckt sich King Kong im linken Heuhaufen, wechselt dann aber – immer noch vor den Augen des Menschen - in den rechten. Der Mensch rennt nun ins Gebäude, schließt die Tür hinter sich, King Kong flieht. Der Mensch kommt mit einem zum Schlag erhobenen Stock zurück, hält inne. Cut. Die zweite Variante hat einen anderen Schluss: King Kong versteckt sich, der Mensch rennt ins Gebäude, schließt die Tür hinter sich. Nun erst wechselt King Kong zuerst das Versteck, macht sich aber dann wiederum aus dem Staub.
    "Der Mensch kommt also zurück, und hält wiederum nach King Kong Ausschau. Der ist ja mittlerweile überhaupt nicht mehr da, das hat der zuschauende Affe gesehen. Aber der Mensch im Video, der glaubt nach wie vor, dass King Kong im ersten, im ursprünglichen Versteck ist."
    Und wiederum Cut. Die Wissenschaftler protokollierten während des ganzen Videos, wohin die zuschauenden Affen ihre Augen richteten – ein sogenanntes Eye-Tracking mit Infrarotsensoren, das sie aus der Studie mit Kleinkindern übernommen hatten. Die Blickrichtung verriet das Interesse der Tiere und ihre jeweilige Erwartung in der entscheidenden Cut-Szene. Das Ergebnis: Hatte der Mensch im Video den Wechsel des Verstecks mitbekommen, erwarteten sie den Schlag auf den "richtigen" Haufen, in der zweiten Drehbuchvariante antizipierten die Affen den Schlag auf den ursprünglichen, im Hinblick auf den späteren Versteckwechsel "falschen" Haufen. Das alles hört sich simpel an, war es aber nicht, berichtet Fumihiro Kano:
    "Es ist eine ziemliche technische Herausforderung, einen "falsche-Überzeugung-Test" für Affen zu konzipieren. Wir brauchten eine ausreichende Anzahl Affen, wir mussten Videos drehen, die für sie interessant waren, wir mussten das Eye-Tracking entwickeln. Ich glaube, es hat insgesamt sieben bis acht Jahre gedauert, um das hinzubekommen."
    Einen endgültigen Beweis dafür, dass die Tiere sich hier tatsächlich in die falsche Annahme des Menschen hineinversetzt haben, liefern die Versuche allerdings immer noch nicht, gibt Christopher Krupenye zu: Trotzdem wagt er schon mal ein Resümee:
    "Unsere Ergebnisse legen nahe, dass Affen zumindest eine Art von grundsätzlichem Verständnis davon haben, was andere glauben; eine in jedem Fall anspruchsvollere Fähigkeit im Sinne der "Theory of Mind", als bislang gezeigt werden konnte. Das deutet darauf hin, dass diese Art von grundlegenden Fertigkeiten, die uns für das, was unser Menschsein ausmacht so fundamental vorkommen, ihre Wurzeln in der Evolutionsgeschichte haben – die wir ja mit unseren engsten Verwandten teilen.