Die Lage ist idyllisch: nur fünf Fahrradminuten von der Kopenhagener Innenstadt entfernt, zwischen Hafen auf der einen und den Kanälen des mondänen Szeneviertels Christianshavn auf der anderen Seite leben Aussteiger, Utopisten und Künstler ihre Träume von einer besseren Welt: Christiania. Benannt nach der Festung, die der dänische König Christian VI. an dieser Stelle gebaut hatte, zur Verteidigung gegen die Schweden, ist Christiania seit Anfang der 70er Jahre ein Bollwerk gegen Spießertum und Kapitalismus. Und ein staatlich anerkanntes Hippie-Paradies.
Der Laden ist der Treffpunkt für alle
Ein Verkäufer in der Indkøbscentrale über das öffentliche Leben im Freistaat
Ein Verkäufer in der Indkøbscentrale über das öffentliche Leben im Freistaat
Wer durch das Tor geht, betritt eine eigene Welt mit eigenem Tempo, das pulsierende Kopenhagen so nahe dran und doch so weit entfernt. In der Pusher-Street, dem kopfsteingepflasterten "Boulevard" Christianias, stehen Leute in kleinen Gruppen um Tonnen herum und wärmen sich die Hände an den darin lodernden Flammen. Fahrradfahrer radeln vorbei, Hunde streunen zwischen den alten Kasernengebäuden umher. Neben der Luke der Sunshine-Bakery beugen sich zwei Mädchen nach vorne, um heißen Kaffe zu bestellen. Auf ihren Rucksäcken klebt ein roter Sticker mit drei gelben Punkten. Darunter das berühmte Logo: Bewahrt Christiania. Niemand hat es hier eilig, ja niemand scheint überhaupt auf dem Weg irgendwo hin.
Auch in der Indkøbscentrale, der Einkaufszentrale Christianias nur wenige Schritte von der Pusher-Street entfernt, ist es ruhig an diesem Nachmittag. Von außen sieht die Indkobscentrale aus wie eine verfallene Garage, innen erinnert sie mit ihren rötlichen Fliesen und der gekachelten Theke an einen kleinen Tante Emma Laden in der Provinz - bestückt mit den Nötigsten wie Brot, Milch, Zigaretten, Zeitungen und Kaffee.
" Die meisten Leute kommen her und kaufen irgend etwas - und wenn es nur die Zigaretten sind, weil die Inkøbscentrale funktioniert auch wie ein Treffplatz. Jetzt ist es natürlich nicht das Idealwetter dafür, aber im Sommer, da ist hier richtig, wie man sagt, "gang i den" - draußen vor der Tür stehen viele Leute und vergnügen sich im Sonnenschein oder im Regen und trinken Bier oder ein Wasser, Eis für die Kinder."
Karsten Scheuermann ist ein Mann wie ein Schrank. Zwei Meter groß, breite Schultern, eine wallende graue Mähne mit entsprechendem Vollbart - der 49jährige erinnert an das berühmte Portrait von Karl Marx. Seit 1978 lebt er in Christiania. Spricht er Dänisch, ist sein deutscher Akzent noch immer unüberhörbar.
" Das war eigentlich ein reiner Zufall damals. Ich war arbeitslos in Hamburg und ne Bekannte fragte mich, ob ich nicht Lust habe mitzukommen nach Christiania. Und dann gefiel mir das hier und ich habe gleich Leute getroffen, die ich auch Deutschland her kannte, von verschiedenen Demonstrationen, wo wir dran teilgenommen hatten damals. Ja, und die meinten, wir haben ein riesengroßes Haus hier und da bin ich dann halt eingezogen."
Einige Stunden die Woche arbeitet Karsten hier im Laden. Lohn, sagt er, gibt es dafür nicht, dafür aber eine Tüte mit Waren. Er selbst betrachtet den Job hier als eine Art Gesellschaftsdienst, als gemeinnützige Arbeit.
Ein junges Mädchen kauft Käse, Brot, Wein, Zigaretten und bezahlt mit einem Tausend-Kronen-Schein, von denen sie in ihrer linken Jackentasche ein ganzes Bündel hat. Gestern Abend, berichtet Karstens Kollege hinter der Theke, hat die Polizei den Månefisken, eines der viel besuchten Cafés in Christiania, wieder einmal geschlossen. Irgend jemand habe Haschisch geraucht und das habe den Beamten als Vorwand genügt. Typisch, giftet Karsten abfällig.
" Polizei ist hier konstant. Also man könnte denken, man wohnt irgendwo in einem besetzten Gebiet hier. Es würde mich fast wundern, wenn ich jetzt vor die Tür gehe, dass ich nicht in die nächste Truppe rein laufe, wenn die hier ihre Runden machen."
Der Staat Dänemark und der Freistaat Christiania prallen immer wieder aufeinander: Recht und Ordnung einerseits, freies Denken und ein Hauch von Anarchie andererseits wollen nicht zusammenpassen. Der Verdacht auf illegalen Drogenhandel ist nur einer von vielen Punkten des Anstoßes für die staatlichen Organe. Und doch funktioniert das alternative Gesellschaftsprojekt mitten in Kopenhagen seit nunmehr 35 Jahren.
Begonnen hatte alles am 26. September 1971: als ein paar junge Dänen den Bretterzaun eines verlassenen Militärgeländes stürmten und die leerstehenden Kasernen in Kopenhagens Stadtteil Christianshavn besetzten. Hippies und Lebenskünstler zogen in die Gebäude ein und riefen wenige Monate später den Freistaat Christiania aus. Christiania wurde zum Symbol für Selbstbestimmung und neue Lebensformen, für Gewaltlosigkeit und freie Liebe. Bald lebten mehrere tausend Menschen aus ganz Europa auf dem 34 Hektar großen Gelände. Sie zimmerten Hütten, wohnten in Bauwagen und in den alten Kasernen. Zu viele Besetzer waren es und zu groß war das Gelände, als dass die Staatsgewalt die friedlichen Okkupanten hätte vertreiben können. In einer Mischung aus Resignation und dänischem Pragmatismus wurden sie vom Verteidigungsministerium, dem damaligen Besitzer des Areals, geduldet. Und das dänische Parlament, das Anfang der 70er Jahre Toleranz und Liberalität auf seine Fahnen geschrieben hatte, verlieh dem selbst ernannten Freistaat den offiziellen Titel "soziales Experiment".
Inzwischen gibt es eine Reihe von Vereinbarungen zwischen Freistaat und Staat. Doch der Gegenwind ist rauer geworden für Christiania, seit vor fünf Jahren die rechtsliberale Regierung unter Anders Fogh Rasmussen die Amtsgeschäfte übernahm. Christiania soll, wie es heißt: "normalisiert" werden. Was das genau bedeutet, weiß keiner. Ob die Gebäude saniert oder abgerissen werden sollen, ob das begehrte Gelände im Herzen der Stadt an Immobilienspekulanten verkauft werden soll - oder ob es darum geht, die alternative Siedlung zu zerstören, das wissen die knapp 1000 Bewohner Christianias nicht. Sie fürchten das Schlimmste und haben so ihre Ahnungen.
Auch in der Indkøbscentrale, der Einkaufszentrale Christianias nur wenige Schritte von der Pusher-Street entfernt, ist es ruhig an diesem Nachmittag. Von außen sieht die Indkobscentrale aus wie eine verfallene Garage, innen erinnert sie mit ihren rötlichen Fliesen und der gekachelten Theke an einen kleinen Tante Emma Laden in der Provinz - bestückt mit den Nötigsten wie Brot, Milch, Zigaretten, Zeitungen und Kaffee.
" Die meisten Leute kommen her und kaufen irgend etwas - und wenn es nur die Zigaretten sind, weil die Inkøbscentrale funktioniert auch wie ein Treffplatz. Jetzt ist es natürlich nicht das Idealwetter dafür, aber im Sommer, da ist hier richtig, wie man sagt, "gang i den" - draußen vor der Tür stehen viele Leute und vergnügen sich im Sonnenschein oder im Regen und trinken Bier oder ein Wasser, Eis für die Kinder."
Karsten Scheuermann ist ein Mann wie ein Schrank. Zwei Meter groß, breite Schultern, eine wallende graue Mähne mit entsprechendem Vollbart - der 49jährige erinnert an das berühmte Portrait von Karl Marx. Seit 1978 lebt er in Christiania. Spricht er Dänisch, ist sein deutscher Akzent noch immer unüberhörbar.
" Das war eigentlich ein reiner Zufall damals. Ich war arbeitslos in Hamburg und ne Bekannte fragte mich, ob ich nicht Lust habe mitzukommen nach Christiania. Und dann gefiel mir das hier und ich habe gleich Leute getroffen, die ich auch Deutschland her kannte, von verschiedenen Demonstrationen, wo wir dran teilgenommen hatten damals. Ja, und die meinten, wir haben ein riesengroßes Haus hier und da bin ich dann halt eingezogen."
Einige Stunden die Woche arbeitet Karsten hier im Laden. Lohn, sagt er, gibt es dafür nicht, dafür aber eine Tüte mit Waren. Er selbst betrachtet den Job hier als eine Art Gesellschaftsdienst, als gemeinnützige Arbeit.
Ein junges Mädchen kauft Käse, Brot, Wein, Zigaretten und bezahlt mit einem Tausend-Kronen-Schein, von denen sie in ihrer linken Jackentasche ein ganzes Bündel hat. Gestern Abend, berichtet Karstens Kollege hinter der Theke, hat die Polizei den Månefisken, eines der viel besuchten Cafés in Christiania, wieder einmal geschlossen. Irgend jemand habe Haschisch geraucht und das habe den Beamten als Vorwand genügt. Typisch, giftet Karsten abfällig.
" Polizei ist hier konstant. Also man könnte denken, man wohnt irgendwo in einem besetzten Gebiet hier. Es würde mich fast wundern, wenn ich jetzt vor die Tür gehe, dass ich nicht in die nächste Truppe rein laufe, wenn die hier ihre Runden machen."
Der Staat Dänemark und der Freistaat Christiania prallen immer wieder aufeinander: Recht und Ordnung einerseits, freies Denken und ein Hauch von Anarchie andererseits wollen nicht zusammenpassen. Der Verdacht auf illegalen Drogenhandel ist nur einer von vielen Punkten des Anstoßes für die staatlichen Organe. Und doch funktioniert das alternative Gesellschaftsprojekt mitten in Kopenhagen seit nunmehr 35 Jahren.
Begonnen hatte alles am 26. September 1971: als ein paar junge Dänen den Bretterzaun eines verlassenen Militärgeländes stürmten und die leerstehenden Kasernen in Kopenhagens Stadtteil Christianshavn besetzten. Hippies und Lebenskünstler zogen in die Gebäude ein und riefen wenige Monate später den Freistaat Christiania aus. Christiania wurde zum Symbol für Selbstbestimmung und neue Lebensformen, für Gewaltlosigkeit und freie Liebe. Bald lebten mehrere tausend Menschen aus ganz Europa auf dem 34 Hektar großen Gelände. Sie zimmerten Hütten, wohnten in Bauwagen und in den alten Kasernen. Zu viele Besetzer waren es und zu groß war das Gelände, als dass die Staatsgewalt die friedlichen Okkupanten hätte vertreiben können. In einer Mischung aus Resignation und dänischem Pragmatismus wurden sie vom Verteidigungsministerium, dem damaligen Besitzer des Areals, geduldet. Und das dänische Parlament, das Anfang der 70er Jahre Toleranz und Liberalität auf seine Fahnen geschrieben hatte, verlieh dem selbst ernannten Freistaat den offiziellen Titel "soziales Experiment".
Inzwischen gibt es eine Reihe von Vereinbarungen zwischen Freistaat und Staat. Doch der Gegenwind ist rauer geworden für Christiania, seit vor fünf Jahren die rechtsliberale Regierung unter Anders Fogh Rasmussen die Amtsgeschäfte übernahm. Christiania soll, wie es heißt: "normalisiert" werden. Was das genau bedeutet, weiß keiner. Ob die Gebäude saniert oder abgerissen werden sollen, ob das begehrte Gelände im Herzen der Stadt an Immobilienspekulanten verkauft werden soll - oder ob es darum geht, die alternative Siedlung zu zerstören, das wissen die knapp 1000 Bewohner Christianias nicht. Sie fürchten das Schlimmste und haben so ihre Ahnungen.
Die kapitalistische Logik gilt hier nicht
Ole Lykke, Bewohner und Archivar, über Geschichte und Ideologie Christianias
Ole Lykke, Bewohner und Archivar, über Geschichte und Ideologie Christianias
Der Himmel ist strahlend blau, die Sonne intensiv und hell, ja nahezu blendend - doch der Frühling ist noch lange nicht. In der Nacht hat es geschneit, noch am Nachmittag sind die Temperaturen weit unter Null, aus dem Schornstein des weißen Holzhauses steigt grauer Rauch. In der Mælkebøtte, dem Löwenzahn, so der Name dieses Christiania-Bezirkes, ist fast keine Menschenseele zu sehen.
Ole Lykke öffnet die Tür. Schwarze, verwaschene Jeans, rotkariertes Holzfällerhemd, hellblondes, halblanges Haar - der Ende 50jährige wirkt jugendlich und verlebt zugleich, vor allem die Falten um die Augen zeugen von manch durchzechter Nacht. Aus dem Fenster bei der kleinen Essecke sind die Neubauten auf Holmen zu sehen, vermutlich die teuersten Kopenhagens. Zwei unterschiedliche, ja gegensätzliche Welten, getrennt durch nur wenige hundert Meter Luft und einen kleinen Kanal.
" Ja, ab und an geht mir dieser Gegensatz durch den Kopf. Ich sehe Christiania als einen Ort, der sich dem kapitalistischen Denken entzieht. Das bedeutet beispielsweise, dass ich in einem Haus wohne, welches mir nicht gehört, welches an dem Tag, an dem ich es verlasse, wieder an Christiania übergeht und über das Christiania dann verfügen kann. Es sind zwei Welten, die hier aufeinander treffen - einerseits diejenige, die auf Kapital, Spekulation und Privateigentum beruht, andererseits Christiania, wo das private Eigentumsrecht außer Kraft gesetzt ist. Tut man dies jedoch in einer Gesellschaft, die das Privateigentum als Gott betrachtet, dann hat das natürlich seinen Preis. In Christiania kann man sein Leben in vielerlei Hinsicht bereichern, wirtschaftlich aber muss man uns nicht beneiden."
Ole Lykke gilt als der Archivar Christianias und als einer der besten Kenner des selbsternannten Freistaates. 1979 kam der ehemalige Lehrer hierher, um das Leben in Christiania zu dokumentieren. Er ist hier hängen geblieben und seitdem überzeugter Christianier. Sein kleines Arbeitszimmer ist vom Boden bis unter die Decke mit Büchern, Papieren und Fotos gefüllt.
" Die Besetzung Christianias fiel zusammen mit der 68er-Bewegung. Sie ist es, die sozusagen einen Großteil des ideologischen Fundamentes von Christiania geliefert hat. Andererseits gab es von Anfang an eine Menge Leute, die einfach Wohnraum suchten - klassische Besetzer wie es sie anderswo in Europa ja auch gegeben hat. Und genau das war auch von Anfang an Christianias Problem: diejenigen, die etwas mit diesem Ort wollten, die bestimmte Ideen von einer besseren Gesellschaft hatten, haben hier nie über eine Mehrheit verfügt."
Ole Lykke legt einen neuen Holzscheit in den kleinen Ofen inmitten des Raumes, der als Küche, Wohn- und Esszimmer gleichzeitig fungiert. Es ist die einzige Wärmequelle im Haus, doch für die schätzungsweise 35 Quadratmeter reicht der Ofen allemal.
Die Ideologie Christianias, sagt Ole Lykke, sein Nachname Lykke übrigens bedeutet "Glück", hat sich im Laufe der Jahre der Wirklichkeit angepasst. Alkoholiker, Obdachlose, psychisch Kranke, Drogenabhängige und sonst von der Gesellschaft Ausgestoßene hätten hier immer wieder eine letzte Zuflucht gefunden. Das soziale Engagement der Christianier sei zum Markenzeichen geworden - die hier gelebte Toleranz habe längst für die Mehrheit der dänischen Bevölkerung Vorbildcharakter. Doch den Politikern geht die Toleranz inzwischen viel zu weit.
" Der Grund dafür, dass die jetzige Regierung soviel Druck auf uns ausüben kann, ist die Tatsache, dass der Haschmarkt, Christianias sog. Pusher-Street, von den Behörden jahrelang nicht angetastet wurde und so natürlich prächtig gedieh. Millionen wurden hier tagtäglich umgesetzt und der Ort erlangte weltweite Berühmtheit. Seit 2001 nun haben wir die erste rechtsgerichtete Regierung seit 80 Jahren hier in Dänemark und natürlich kann die nicht damit leben, dass Kopenhagen den größten wohlorganisierten und offenen Haschmarkt Europas beherbergt."
Ole Lykke rollt sich eine Zigarette, draußen zieht ein junger Vater seine beiden Kinder auf einem Schlitten hinter sich her, zwischen ihnen eine Plastiktüte mit Einkäufen. Noch bis vor wenigen Jahren lag Christiania in einem weniger attraktiven Teil Kopenhagens. Mit der Privatisierung der alten Flottenbasis, dem Neubau der Königlichen Oper sowie der Entwicklung des Stadtteil Holmens aber ist das alte Kasernengelände heute ins Visier der Städteplaner und Privatinvestoren gerückt. Ein bisschen, sagt Ole Lykke, ist das wie mit Kreuzberg in Berlin - so lange die Mauer stand, wollte niemand mit diesem Ort etwas zu tun haben, jetzt aber kann es gar nicht schnell genug gehen.
" Hinzu kommt, dass Christiania ein Symbol für die Ideen und Lebensauffassungen der siebziger Jahre ist - Gruppenpädagogik und all diese Dinge. Die jetzigen Machthaber hassen das Wort Gruppe, sie hassen das Wort Kollektiv, sie hassen Christiania. Meines Erachtens geht es vor allem um Ideologie. Die Regierung kann es einfach nicht ertragen, dass es mitten in Kopenhagen einen Ort gibt, an dem die kapitalistische Logik nicht gilt, der nach eigenen Regeln funktioniert und der noch dazu von Hippies und Linken gegründet wurde, die die da oben einfach nicht ab können."
Die Mehrheit der dänischen Bevölkerung ist stolz auf das wohl berühmteste alternative Wohnprojekt der Welt und weiß die Kreativität und das soziale Engagement der Christianiter sehr wohl zu schätzen. Und für die Touristen ist Christiania - gleich nach dem Vergnügungspark "Tivoli" - die zweitgrößte Attraktion Kopenhagens: jährlich kommen etwa eine halbe Million Besucher in die dörfliche Idylle mit ihren phantasievoll ausgeschmückten Villen.
Der Dichter Hans Christian Andersen war lange schon tot, als Christiania gegründet wurde - aber sein Märchen von der Nachtigall liest sich wie eine Parabel auf die Begegnung zwischen herrschender Ordnung und freiheitsliebender wilder Seele.
In China, das weißt Du ja wohl, ist der Kaiser ein Chinese, und alle die, die er um sich hat, sind Chinesen. Es ist nun viele Jahre her, aber just darum ist es wert, die Geschichte zu hören, bevor man sie vergisst.
Des Kaisers Schloss war das prächtigste in der Welt, im Garten sah man die seltsamsten Blumen und ging man immer weiter, so kam man in den schönsten Wald mit hohen Bäumen und tiefen Seen.
Der Wald ging bis an das Meer herunter, das blau und tief war; große Schiffe konnten bis unter die Zweige segeln, und in diesen wohnte eine Nachtigall, die so herrlich sang, dass selbst der arme Fischer, der so viel anderes zu tun hatte, still lag und lauschte, wenn er in der Nacht draußen war, um das Fischnetz heraufzuziehen, und dann die Nachtigall hörte. "Wie schön das ist", sagte er. "Herrgott, wie schön das doch ist."
Und die Reisenden erzählten davon, wenn sie nach Hause kamen, und die Gelehrten schrieben viele Bücher über die Stadt, das Schloss und den Garten, aber die Nachtigall vergaßen sie nicht, die wurde zualleroberst gestellt; und die welche dichten konnten, schrieben die schönsten Gedichte, alle über die Nachtigall im Wald bei dem tiefen See.
Die Bücher kamen in alle Welt, und einige kamen dann auch einmal zum Kaiser. "Was ist das!" sagte der Kaiser, "die Nachtigall! Die Kenne ich ja gar nicht. Ist hier so ein Vogel in meinem Kaisertum, noch dazu in meinem Garten? Ich will, dass er heute Abend herkommen und vor mir singen soll!"
Und die Nachtigall sang so schön, dass dem Kaiser Tränen in die Augen traten; die Tränen rollten ihm über die Wangen herab, und da sang die Nachtigall noch schöner, es ging recht zu Herzen; und der Kaiser war so froh, und er sagte, dass die Nachtigall seinen goldenen Pantoffel um den Hals zu tragen bekommen solle. Sie sollte nun bei Hofe bleiben, ihren eigenen Käfig haben, samt der Freiheit, zweimal am Tag und einmal in der Nacht herauszuspazieren. Sie bekam zwölf Diener mit, alle hatten sie ein Seidenband, das ihr um das Bein geschlungen war, und hielten es gut fest. Es war gar kein Vergnügen bei diesem Ausflug.
Die Bewohner von Christiania haben sich nie zähmen lassen vom dänischen Staat - auch wenn dies immer wieder versucht wurde: insgesamt 27 Verteidigungs- und Justizminister haben sich in den vergangenen 35 Jahren mit dem sozialen Experiment Christiania befasst. Keine Waffen, keine Gewalt, keine Rockerwesten und keine Autos. Und: keine harten Drogen. Diese Verbote hat die basisdemokratische Selbstverwaltung von Christiania von sich aus auf ihre Fahnen geschrieben, seit zwei Jahren ist auch der Handel und der Besitz von Cannabis untersagt. Im Gegenzug wurde 1991 ein Nutzungsvertrag vereinbart, der den Christianitern ein Bleiberecht sichern sollte, seit dieser Zeit führt Christiania Grundsteuern an den Staat ab, für Wasser, Müll und Strom: Straßenlaternen gibt es nicht.
Kommunale und infrastrukturelle Aufgaben aber werden intern geregelt, die basisdemokratische Selbstverwaltung mit diversen Ausschüssen für Wirtschaft, Verkehr und Haushalt und der Faellesmöde, der Vollversammlung, an der Spitze funktioniert in Christiania. Für Renovierung und Instandhaltung der rund 400 Häuser und Wohnungen kommen die Bewohner selbst auf, ebenso für die Postverteilung, für die Pflege von Wegenetz und Grünflächen. Auch Jugendclub und Kindergarten werden von den Christianitern selbst bezahlt.
Ole Lykke öffnet die Tür. Schwarze, verwaschene Jeans, rotkariertes Holzfällerhemd, hellblondes, halblanges Haar - der Ende 50jährige wirkt jugendlich und verlebt zugleich, vor allem die Falten um die Augen zeugen von manch durchzechter Nacht. Aus dem Fenster bei der kleinen Essecke sind die Neubauten auf Holmen zu sehen, vermutlich die teuersten Kopenhagens. Zwei unterschiedliche, ja gegensätzliche Welten, getrennt durch nur wenige hundert Meter Luft und einen kleinen Kanal.
" Ja, ab und an geht mir dieser Gegensatz durch den Kopf. Ich sehe Christiania als einen Ort, der sich dem kapitalistischen Denken entzieht. Das bedeutet beispielsweise, dass ich in einem Haus wohne, welches mir nicht gehört, welches an dem Tag, an dem ich es verlasse, wieder an Christiania übergeht und über das Christiania dann verfügen kann. Es sind zwei Welten, die hier aufeinander treffen - einerseits diejenige, die auf Kapital, Spekulation und Privateigentum beruht, andererseits Christiania, wo das private Eigentumsrecht außer Kraft gesetzt ist. Tut man dies jedoch in einer Gesellschaft, die das Privateigentum als Gott betrachtet, dann hat das natürlich seinen Preis. In Christiania kann man sein Leben in vielerlei Hinsicht bereichern, wirtschaftlich aber muss man uns nicht beneiden."
Ole Lykke gilt als der Archivar Christianias und als einer der besten Kenner des selbsternannten Freistaates. 1979 kam der ehemalige Lehrer hierher, um das Leben in Christiania zu dokumentieren. Er ist hier hängen geblieben und seitdem überzeugter Christianier. Sein kleines Arbeitszimmer ist vom Boden bis unter die Decke mit Büchern, Papieren und Fotos gefüllt.
" Die Besetzung Christianias fiel zusammen mit der 68er-Bewegung. Sie ist es, die sozusagen einen Großteil des ideologischen Fundamentes von Christiania geliefert hat. Andererseits gab es von Anfang an eine Menge Leute, die einfach Wohnraum suchten - klassische Besetzer wie es sie anderswo in Europa ja auch gegeben hat. Und genau das war auch von Anfang an Christianias Problem: diejenigen, die etwas mit diesem Ort wollten, die bestimmte Ideen von einer besseren Gesellschaft hatten, haben hier nie über eine Mehrheit verfügt."
Ole Lykke legt einen neuen Holzscheit in den kleinen Ofen inmitten des Raumes, der als Küche, Wohn- und Esszimmer gleichzeitig fungiert. Es ist die einzige Wärmequelle im Haus, doch für die schätzungsweise 35 Quadratmeter reicht der Ofen allemal.
Die Ideologie Christianias, sagt Ole Lykke, sein Nachname Lykke übrigens bedeutet "Glück", hat sich im Laufe der Jahre der Wirklichkeit angepasst. Alkoholiker, Obdachlose, psychisch Kranke, Drogenabhängige und sonst von der Gesellschaft Ausgestoßene hätten hier immer wieder eine letzte Zuflucht gefunden. Das soziale Engagement der Christianier sei zum Markenzeichen geworden - die hier gelebte Toleranz habe längst für die Mehrheit der dänischen Bevölkerung Vorbildcharakter. Doch den Politikern geht die Toleranz inzwischen viel zu weit.
" Der Grund dafür, dass die jetzige Regierung soviel Druck auf uns ausüben kann, ist die Tatsache, dass der Haschmarkt, Christianias sog. Pusher-Street, von den Behörden jahrelang nicht angetastet wurde und so natürlich prächtig gedieh. Millionen wurden hier tagtäglich umgesetzt und der Ort erlangte weltweite Berühmtheit. Seit 2001 nun haben wir die erste rechtsgerichtete Regierung seit 80 Jahren hier in Dänemark und natürlich kann die nicht damit leben, dass Kopenhagen den größten wohlorganisierten und offenen Haschmarkt Europas beherbergt."
Ole Lykke rollt sich eine Zigarette, draußen zieht ein junger Vater seine beiden Kinder auf einem Schlitten hinter sich her, zwischen ihnen eine Plastiktüte mit Einkäufen. Noch bis vor wenigen Jahren lag Christiania in einem weniger attraktiven Teil Kopenhagens. Mit der Privatisierung der alten Flottenbasis, dem Neubau der Königlichen Oper sowie der Entwicklung des Stadtteil Holmens aber ist das alte Kasernengelände heute ins Visier der Städteplaner und Privatinvestoren gerückt. Ein bisschen, sagt Ole Lykke, ist das wie mit Kreuzberg in Berlin - so lange die Mauer stand, wollte niemand mit diesem Ort etwas zu tun haben, jetzt aber kann es gar nicht schnell genug gehen.
" Hinzu kommt, dass Christiania ein Symbol für die Ideen und Lebensauffassungen der siebziger Jahre ist - Gruppenpädagogik und all diese Dinge. Die jetzigen Machthaber hassen das Wort Gruppe, sie hassen das Wort Kollektiv, sie hassen Christiania. Meines Erachtens geht es vor allem um Ideologie. Die Regierung kann es einfach nicht ertragen, dass es mitten in Kopenhagen einen Ort gibt, an dem die kapitalistische Logik nicht gilt, der nach eigenen Regeln funktioniert und der noch dazu von Hippies und Linken gegründet wurde, die die da oben einfach nicht ab können."
Die Mehrheit der dänischen Bevölkerung ist stolz auf das wohl berühmteste alternative Wohnprojekt der Welt und weiß die Kreativität und das soziale Engagement der Christianiter sehr wohl zu schätzen. Und für die Touristen ist Christiania - gleich nach dem Vergnügungspark "Tivoli" - die zweitgrößte Attraktion Kopenhagens: jährlich kommen etwa eine halbe Million Besucher in die dörfliche Idylle mit ihren phantasievoll ausgeschmückten Villen.
Der Dichter Hans Christian Andersen war lange schon tot, als Christiania gegründet wurde - aber sein Märchen von der Nachtigall liest sich wie eine Parabel auf die Begegnung zwischen herrschender Ordnung und freiheitsliebender wilder Seele.
In China, das weißt Du ja wohl, ist der Kaiser ein Chinese, und alle die, die er um sich hat, sind Chinesen. Es ist nun viele Jahre her, aber just darum ist es wert, die Geschichte zu hören, bevor man sie vergisst.
Des Kaisers Schloss war das prächtigste in der Welt, im Garten sah man die seltsamsten Blumen und ging man immer weiter, so kam man in den schönsten Wald mit hohen Bäumen und tiefen Seen.
Der Wald ging bis an das Meer herunter, das blau und tief war; große Schiffe konnten bis unter die Zweige segeln, und in diesen wohnte eine Nachtigall, die so herrlich sang, dass selbst der arme Fischer, der so viel anderes zu tun hatte, still lag und lauschte, wenn er in der Nacht draußen war, um das Fischnetz heraufzuziehen, und dann die Nachtigall hörte. "Wie schön das ist", sagte er. "Herrgott, wie schön das doch ist."
Und die Reisenden erzählten davon, wenn sie nach Hause kamen, und die Gelehrten schrieben viele Bücher über die Stadt, das Schloss und den Garten, aber die Nachtigall vergaßen sie nicht, die wurde zualleroberst gestellt; und die welche dichten konnten, schrieben die schönsten Gedichte, alle über die Nachtigall im Wald bei dem tiefen See.
Die Bücher kamen in alle Welt, und einige kamen dann auch einmal zum Kaiser. "Was ist das!" sagte der Kaiser, "die Nachtigall! Die Kenne ich ja gar nicht. Ist hier so ein Vogel in meinem Kaisertum, noch dazu in meinem Garten? Ich will, dass er heute Abend herkommen und vor mir singen soll!"
Und die Nachtigall sang so schön, dass dem Kaiser Tränen in die Augen traten; die Tränen rollten ihm über die Wangen herab, und da sang die Nachtigall noch schöner, es ging recht zu Herzen; und der Kaiser war so froh, und er sagte, dass die Nachtigall seinen goldenen Pantoffel um den Hals zu tragen bekommen solle. Sie sollte nun bei Hofe bleiben, ihren eigenen Käfig haben, samt der Freiheit, zweimal am Tag und einmal in der Nacht herauszuspazieren. Sie bekam zwölf Diener mit, alle hatten sie ein Seidenband, das ihr um das Bein geschlungen war, und hielten es gut fest. Es war gar kein Vergnügen bei diesem Ausflug.
Die Bewohner von Christiania haben sich nie zähmen lassen vom dänischen Staat - auch wenn dies immer wieder versucht wurde: insgesamt 27 Verteidigungs- und Justizminister haben sich in den vergangenen 35 Jahren mit dem sozialen Experiment Christiania befasst. Keine Waffen, keine Gewalt, keine Rockerwesten und keine Autos. Und: keine harten Drogen. Diese Verbote hat die basisdemokratische Selbstverwaltung von Christiania von sich aus auf ihre Fahnen geschrieben, seit zwei Jahren ist auch der Handel und der Besitz von Cannabis untersagt. Im Gegenzug wurde 1991 ein Nutzungsvertrag vereinbart, der den Christianitern ein Bleiberecht sichern sollte, seit dieser Zeit führt Christiania Grundsteuern an den Staat ab, für Wasser, Müll und Strom: Straßenlaternen gibt es nicht.
Kommunale und infrastrukturelle Aufgaben aber werden intern geregelt, die basisdemokratische Selbstverwaltung mit diversen Ausschüssen für Wirtschaft, Verkehr und Haushalt und der Faellesmöde, der Vollversammlung, an der Spitze funktioniert in Christiania. Für Renovierung und Instandhaltung der rund 400 Häuser und Wohnungen kommen die Bewohner selbst auf, ebenso für die Postverteilung, für die Pflege von Wegenetz und Grünflächen. Auch Jugendclub und Kindergarten werden von den Christianitern selbst bezahlt.
Natürlich gibt's auch Barbiepuppen
Der Erzieher Wanda List über das pädagogische Konzept in Christianias Kindergarten
Der Erzieher Wanda List über das pädagogische Konzept in Christianias Kindergarten
Es liegt ein süßlicher Duft in der Luft, das Fenster über dem Herd ist von innen beschlagen. Ein junges Mädchen bereitet das Mittagessen - es gibt Rote Beete im Ofen, einen Brei aus Kartoffeln und Pastinaken, dazu Salat. In der anderen Hälfe des Raumes tummelt sich eine handvoll Kinder um einen Tisch. Darauf Dutzende von Buntstiften und Zeichnungen, das ein oder andere Spielzeug liegt auf dem Boden verteilt. Wanda Lizt, 56 Jahre, etwa 185 groß, mit kahl rasiertem Haupt, steht inmitten des Tohuwabohus:
" In einem normalen Kindergarten wäre eine solche Küche keinesfalls erlaubt - die Kinder könnten sich ja am Herd verbrennen. Man dürfte nie am einen Ende des Raumes spielen und am anderen Ende eine Küche haben - da müssten Wände, doppelte Türen und was weiß ich alles dazwischen sein. Doch wir versuchen, so wenig Institution zu sein wie möglich. Es soll hier so aussehen wie bei den Kindern daheim, so dass sie sich hier wie zuhause fühlen."
" Und noch eins ist hier anders: wir erleben die Kinder auch dann, wenn wir frei haben. Wir kennen ihre Eltern. Wir haben zusammen gefeiert, diskutiert, demonstriert, sind zusammen in den Zirkus und ins Theater gegangen. Wenn ich einem Elternteil außerhalb Christianias sagen würde: "Du bist der verantwortungsloseste, egoistischste Mensch, der mir seit langem über den Weg gelaufen ist, nun reißt Du Dich zusammen und kümmerst Dich um Dein Kind", dann würde ich wahrscheinlich vor einem Gericht landen. Derartiges darf man zu Frau Hansen nicht sagen. Da muss man seine Worte sorgsam wählen, Kommissionen werden einberufen, und bis überhaupt etwas passiert, vergehen kleine Ewigkeiten. Hier in Christiania machen wir das ganz direkt."
Wanda ist Christianiter der ersten Stunde, unterbrochen nur durch einige Hippietouren nach Indien in den siebziger und achtziger Jahren. Jahrelang spielte der bekennende Schwule Theater, schrieb Manuskripte, machte Filme. Erst als ihm die dänischen Behörden die Sozialhilfe strichen, kehrte er zurück in den Beruf, den er in den sechziger Jahren einmal gelernt hatte - den des Kindergärtners. Denn Straßenschilder putzen oder an anderen staatlichen Beschäftigungsprogrammen teilnehmen, dazu, sagt Wanda, hatte er einfach keine Lust.
33 Stunden die Woche arbeitet Wanda nun in Christianias Kindergarten. Umgerechnet 1300 Euro im Monat werden ihm dafür aus der Gemeinschaftskasse gezahlt - steuerfrei, wie so ziemlich alles auf Christiania. Bequem leben, zumal in Dänemark, lässt es sich davon nicht. Wandas Engagement aber erleidet dadurch keinen Abbruch. Der Umgang mit den Kindern macht ihm sichtlich Spaß.
" Einen besonderen pädagogischen Ansatz haben wir nicht. Wir konzentrieren uns auf das einzelne Kind und schauen, wo in seiner Entwicklung es sich befindet. Natürlich dürfen sie auch hier in Christiania mit Barbiepuppen spielen, ja gerade deshalb - denn in einem Freistaat soll man tun können, wozu man Lust hat. Und wir Christianiter haben ja keinen eigenen Fernsehkanal. Auch unsere Kinder sehen den Disneychannel und die ganzen Reklamen, die dort laufen. Schauen Sie, wie viele Mädchen hier rosarote Kleider anhaben, wie man es heute eben trägt, und alle Jungs haben Batman und ähnliches auf ihrem T-Shirt. Kinder sind immer ein Spiegel der Zeit - und das sollte man auch nicht versuchen zu ändern."
Wenn überhaupt die Christiania-Kinder sich von anderen unterscheiden, sagt Wanda, dann darin, dass sie offener an Dinge herangehen, Fragen stellen und keine Angst haben, auch mit erwachsenen Autoritätspersonen zu reden. Überhaupt fänden sie sich auch in der Welt außerhalb des Freistaates gut zurecht. Spätestens mit der Einschulung gehört diese sowie zu ihrem Alltag, denn eine Schule gibt es in Christiania nicht. Als Jugendliche, erzählt Wanda weiter, kehren viele dem Freistaat den Rücken, wollen mit dessen Kollektivismus dann nichts mehr zu tun haben. Nicht wenige aber kämen irgendwann zurück. Wie auch Wanda selbst. Denn trotz mancher Frustration im Alltag, sagt er, gibt es zum Leben in Christiania keine Alternative.
" Es ist die Illusion, dass man über sich selbst bestimmen kann. Ich weiß, dass das eine Illusion ist, aber das ist der Punkt! Wenn ich deprimiert darüber bin, was in Christiania alles nicht läuft und wie viele verpasste Chancen es hier gibt, dann muss ich nur den Bus in die Stadt nehmen, mich dort einmal 360 Grad um meine eigene Achse drehen - und dann fahre ich froh nach Christiania zurück."
Eines Tages kam ein großes Paket für den Kaiser, worauf geschrieben stand: Nachtigall. "Da haben wir nun ein neues Buch über unseren berühmten Vogel!" sagte der Kaiser.
Aber es war kein Buch, es war ein kleines Kunstwerk, das da in der Schachtel lag, eine künstliche Nachtigall, die der lebenden gleichen sollte, aber überall mit Diamanten, Rubinen und Saphiren besetzt war. Sobald man den Kunstvogel aufzog, konnte er eines von den Stücken singen, die der wirkliche sang, und dann ging der Schwanz auf und ab und glänzte von Silber und Gold.
33 mal sang er ein und dasselbe Stück, und er war noch nicht müde; die Leute hätten ihn gern wieder von vorne gehört, aber der Kaiser meinte, nun solle auch die lebende Nachtigall ein wenig singen - aber wo war sie? Niemand hatte bemerkt, dass sie zum offenen Fenster hinausgeflogen war, fort nach ihren grünen Wäldern.
"Aber was sind denn das für Sachen!" sagte der Kaiser; und alle Hofleute schimpften und meinten, dass die Nachtigall ein höchst undankbares Tier sei. "Den besten Vogel haben wir doch", sagten sie, und dann musste wieder der Kunstvogel singen, und es war das 34. Mal, dass sie dasselbe Stück hörten, aber sie konnten es noch nicht so ganz, denn es war so schwer, und der Spielmeister lobte so außerordentlich den Vogel, ja, versicherte, dass er besser sei als die wirkliche Nachtigall, nicht nur was die Kleider anging und die vielen schönen Diamanten, sondern auch inwendig.
"Denn sehen Sie, meine Herrschaften, der Kaiser vor allen: bei der wirklichen Nachtigall kann man nie berechnen, was kommen wird, aber bei dem Kunstvogel ist alles bestimmt."
In vielen Punkten erinnern Christianias soziale Grundwerte an den fantastischen Inselstaat "Utopia", den der britische Philosoph Thomas Morus Anfang des 16. Jahrhunderts entwarf: eine Republik ohne Privateigentum, Geldwirtschaft und Hierarchien. In dem Manifest, das fünf Christianiter kurz nach der Gründung verfassten, heißt es: "unser Ziel ist es, eine selbstverwaltende Gesellschaft aufzubauen, wo jedes einzelne Individuum sich frei entfalten kann, unter Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft. Diese Gesellschaft soll in sich selber ruhen, und das gemeinsame Streben muss stets dahin gehen zu zeigen, dass die psychische und physische Verunreinigung abgewehrt werden kann".
Nicht alle utopischen Anfangsideen ließen sich hinüberretten in die Realität, manche scheiterten an behördlichen Auflagen, andere an der Unberechenbarkeit und an der Unterschiedlichkeit der Bewohner.
Doch für viele ist dieser Gegenentwurf zur dänischen Gesellschaft immer noch ein Traum. Heute leben 670 Erwachsene in Christiania und 170 Kinder - wer einziehen will, muss sich auf eine lange Wartezeit einstellen: 25 Bewerber kommen zur Zeit auf eine frei werdende Wohnung. Jede der 14 autonomen Regionen entscheidet selbständig, wer aufgenommen wird - auch in Christiania helfen gute Kontakte. Für das ganze Gelände gilt: neue Häuser zu bauen, ist verboten. Und auch wer sowohl finanziell als auch handwerklich in der Lage wäre, anzubauen, darf dies nicht mehr ohne weiteres tun.
" In einem normalen Kindergarten wäre eine solche Küche keinesfalls erlaubt - die Kinder könnten sich ja am Herd verbrennen. Man dürfte nie am einen Ende des Raumes spielen und am anderen Ende eine Küche haben - da müssten Wände, doppelte Türen und was weiß ich alles dazwischen sein. Doch wir versuchen, so wenig Institution zu sein wie möglich. Es soll hier so aussehen wie bei den Kindern daheim, so dass sie sich hier wie zuhause fühlen."
" Und noch eins ist hier anders: wir erleben die Kinder auch dann, wenn wir frei haben. Wir kennen ihre Eltern. Wir haben zusammen gefeiert, diskutiert, demonstriert, sind zusammen in den Zirkus und ins Theater gegangen. Wenn ich einem Elternteil außerhalb Christianias sagen würde: "Du bist der verantwortungsloseste, egoistischste Mensch, der mir seit langem über den Weg gelaufen ist, nun reißt Du Dich zusammen und kümmerst Dich um Dein Kind", dann würde ich wahrscheinlich vor einem Gericht landen. Derartiges darf man zu Frau Hansen nicht sagen. Da muss man seine Worte sorgsam wählen, Kommissionen werden einberufen, und bis überhaupt etwas passiert, vergehen kleine Ewigkeiten. Hier in Christiania machen wir das ganz direkt."
Wanda ist Christianiter der ersten Stunde, unterbrochen nur durch einige Hippietouren nach Indien in den siebziger und achtziger Jahren. Jahrelang spielte der bekennende Schwule Theater, schrieb Manuskripte, machte Filme. Erst als ihm die dänischen Behörden die Sozialhilfe strichen, kehrte er zurück in den Beruf, den er in den sechziger Jahren einmal gelernt hatte - den des Kindergärtners. Denn Straßenschilder putzen oder an anderen staatlichen Beschäftigungsprogrammen teilnehmen, dazu, sagt Wanda, hatte er einfach keine Lust.
33 Stunden die Woche arbeitet Wanda nun in Christianias Kindergarten. Umgerechnet 1300 Euro im Monat werden ihm dafür aus der Gemeinschaftskasse gezahlt - steuerfrei, wie so ziemlich alles auf Christiania. Bequem leben, zumal in Dänemark, lässt es sich davon nicht. Wandas Engagement aber erleidet dadurch keinen Abbruch. Der Umgang mit den Kindern macht ihm sichtlich Spaß.
" Einen besonderen pädagogischen Ansatz haben wir nicht. Wir konzentrieren uns auf das einzelne Kind und schauen, wo in seiner Entwicklung es sich befindet. Natürlich dürfen sie auch hier in Christiania mit Barbiepuppen spielen, ja gerade deshalb - denn in einem Freistaat soll man tun können, wozu man Lust hat. Und wir Christianiter haben ja keinen eigenen Fernsehkanal. Auch unsere Kinder sehen den Disneychannel und die ganzen Reklamen, die dort laufen. Schauen Sie, wie viele Mädchen hier rosarote Kleider anhaben, wie man es heute eben trägt, und alle Jungs haben Batman und ähnliches auf ihrem T-Shirt. Kinder sind immer ein Spiegel der Zeit - und das sollte man auch nicht versuchen zu ändern."
Wenn überhaupt die Christiania-Kinder sich von anderen unterscheiden, sagt Wanda, dann darin, dass sie offener an Dinge herangehen, Fragen stellen und keine Angst haben, auch mit erwachsenen Autoritätspersonen zu reden. Überhaupt fänden sie sich auch in der Welt außerhalb des Freistaates gut zurecht. Spätestens mit der Einschulung gehört diese sowie zu ihrem Alltag, denn eine Schule gibt es in Christiania nicht. Als Jugendliche, erzählt Wanda weiter, kehren viele dem Freistaat den Rücken, wollen mit dessen Kollektivismus dann nichts mehr zu tun haben. Nicht wenige aber kämen irgendwann zurück. Wie auch Wanda selbst. Denn trotz mancher Frustration im Alltag, sagt er, gibt es zum Leben in Christiania keine Alternative.
" Es ist die Illusion, dass man über sich selbst bestimmen kann. Ich weiß, dass das eine Illusion ist, aber das ist der Punkt! Wenn ich deprimiert darüber bin, was in Christiania alles nicht läuft und wie viele verpasste Chancen es hier gibt, dann muss ich nur den Bus in die Stadt nehmen, mich dort einmal 360 Grad um meine eigene Achse drehen - und dann fahre ich froh nach Christiania zurück."
Eines Tages kam ein großes Paket für den Kaiser, worauf geschrieben stand: Nachtigall. "Da haben wir nun ein neues Buch über unseren berühmten Vogel!" sagte der Kaiser.
Aber es war kein Buch, es war ein kleines Kunstwerk, das da in der Schachtel lag, eine künstliche Nachtigall, die der lebenden gleichen sollte, aber überall mit Diamanten, Rubinen und Saphiren besetzt war. Sobald man den Kunstvogel aufzog, konnte er eines von den Stücken singen, die der wirkliche sang, und dann ging der Schwanz auf und ab und glänzte von Silber und Gold.
33 mal sang er ein und dasselbe Stück, und er war noch nicht müde; die Leute hätten ihn gern wieder von vorne gehört, aber der Kaiser meinte, nun solle auch die lebende Nachtigall ein wenig singen - aber wo war sie? Niemand hatte bemerkt, dass sie zum offenen Fenster hinausgeflogen war, fort nach ihren grünen Wäldern.
"Aber was sind denn das für Sachen!" sagte der Kaiser; und alle Hofleute schimpften und meinten, dass die Nachtigall ein höchst undankbares Tier sei. "Den besten Vogel haben wir doch", sagten sie, und dann musste wieder der Kunstvogel singen, und es war das 34. Mal, dass sie dasselbe Stück hörten, aber sie konnten es noch nicht so ganz, denn es war so schwer, und der Spielmeister lobte so außerordentlich den Vogel, ja, versicherte, dass er besser sei als die wirkliche Nachtigall, nicht nur was die Kleider anging und die vielen schönen Diamanten, sondern auch inwendig.
"Denn sehen Sie, meine Herrschaften, der Kaiser vor allen: bei der wirklichen Nachtigall kann man nie berechnen, was kommen wird, aber bei dem Kunstvogel ist alles bestimmt."
In vielen Punkten erinnern Christianias soziale Grundwerte an den fantastischen Inselstaat "Utopia", den der britische Philosoph Thomas Morus Anfang des 16. Jahrhunderts entwarf: eine Republik ohne Privateigentum, Geldwirtschaft und Hierarchien. In dem Manifest, das fünf Christianiter kurz nach der Gründung verfassten, heißt es: "unser Ziel ist es, eine selbstverwaltende Gesellschaft aufzubauen, wo jedes einzelne Individuum sich frei entfalten kann, unter Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft. Diese Gesellschaft soll in sich selber ruhen, und das gemeinsame Streben muss stets dahin gehen zu zeigen, dass die psychische und physische Verunreinigung abgewehrt werden kann".
Nicht alle utopischen Anfangsideen ließen sich hinüberretten in die Realität, manche scheiterten an behördlichen Auflagen, andere an der Unberechenbarkeit und an der Unterschiedlichkeit der Bewohner.
Doch für viele ist dieser Gegenentwurf zur dänischen Gesellschaft immer noch ein Traum. Heute leben 670 Erwachsene in Christiania und 170 Kinder - wer einziehen will, muss sich auf eine lange Wartezeit einstellen: 25 Bewerber kommen zur Zeit auf eine frei werdende Wohnung. Jede der 14 autonomen Regionen entscheidet selbständig, wer aufgenommen wird - auch in Christiania helfen gute Kontakte. Für das ganze Gelände gilt: neue Häuser zu bauen, ist verboten. Und auch wer sowohl finanziell als auch handwerklich in der Lage wäre, anzubauen, darf dies nicht mehr ohne weiteres tun.
Eine Hütte am See
Die Architektin Mette Prag über begrenzten Wohnraum in abenteuerlicher Umgebung
Die Architektin Mette Prag über begrenzten Wohnraum in abenteuerlicher Umgebung
Stolz führt die fünfjährige Rose durch das Haus. Hier, zeigt sie, wohnt sie zusammen mit ihrem großen Bruder Jakob. Solveig, die Älteste, dort drüben im Zimmer schräg gegenüber. Die Aussicht ist traumhaft. Der See reicht bis an das Haus heran. Das Schilf erstreckt sich bis ans Fenster. Nur Platz ist wenig vorhanden. Jakob und Rose leben auf etwa vier Quadratmetern. Für Kleidung und Spielzeug hat jeder von ihnen nur zwei kleine quadratische Schubkästen zur Verfügung.
In der Küche hat Roses Mutter, Mette, mit den Vorbereitungen für das Abendessen begonnen. Vater Søren ist mit Jakob beim Fußball, Solveig, die Elfjährige, beim Klavierunterricht. Seit 19 Jahren leben Mette und Søren in diesem Haus. Auf monatlich etwa 4500 Kronen, umgerechnet 600 Euro, belaufen sich ihre festen Ausgaben. Je 1400 Kronen zahlen die beiden Erwachsenen an die Gemeinschaftskasse Christianias, der Rest geht für Strom, Gas, Wasser und Heizung drauf. Ein großer Fortschritt, sagt die heute 41jährige Mette, denn früher gab es im Haus weder Strom noch fließendes Wasser.
" Dass wir hierher nach Christiania kamen, das war eher ein Zufall, dass wir geblieben sind aber nicht - denn das Leben hier ist ebenso phantastisch wie abenteuerlich. Schauen Sie, diese Umgebung dort draußen, die haben wir das ganze Jahr über. Hier im Haus haben wir unser eigenes kleines Universum und da draußen liegt ein noch viel größeres - nämlich Christiania mit seinen vielen schrägen Typen und seiner unbändigen Energie. Das alles gehört zu unserem Leben dazu."
Neben der Arbeitsplatte in der offenen Küche hängt, an der Decke befestigt, eine Pritsche - das Schlafzimmer von Mette und Søren. Fünf Personen, insgesamt 65 Quadratmeter, da heißt es, sich einzuschränken und praktisch-funktional einzurichten. Gewiss, erzählt Mette, haben sie und ihr Mann ab und an daran gedacht, Christiania zu verlassen und ein größeres Haus zu bauen. Andernorts aber würde ihnen die Gemeinschaft fehlen, die das Leben hier prägt:
" Meine Kinder können sich hier überall frei bewegen, jeder weiß, wer sie sind. Ich kann die fünfjährige Rose zur Einkaufszentrale schicken, um Milch und Brot zu kaufen - jeder würde ihr helfen, mit dem Einpacken, mit dem Geld, und sie fragen, was sie denn so mache. Auch wenn Rose noch nicht jeden hier kennt, wissen doch alle, wer sie ist."
Mette und Søren sind beide Architekten, zusammen mit einem dritten Partner haben sie ein Büro, das auf ökologisches und unweltgerechtes Bauen spezialisiert ist. Im Laufe der Jahre haben sie ihr eigenes Haus nach und nach erweitert - heute ist die gesamte Seeseite von einer Terrasse umzogen. Die großen Fenster, das viele Holz sowie die klaren Linien lassen die skandinavische Prägung deutlich erkennen. Sowohl mit Blick auf die Architektur wie die Ökologie, sagt Mette, ist Christiania ein großer Experimentierplatz - mit viel Phantasie und viel Know-how. Dennoch würde sie Kunden wie auch anderen neuen Bekanntschaften meist nicht erzählen, dass sie selbst im Freistaat wohne:
" Das kommt auf die Situation an, aber ich trage es nicht wie eine Visitenkarte mit mir herum. Nicht, weil ich mich schäme, sondern weil es so viele Vorurteile gibt, die man dann erst wieder aus der Welt schaffen muss. Generell begegnen einem die Leute mit einer sehr viel größeren Skepsis. Ich will es natürlich auch nicht verheimlichen, aber ich möchte, dass die Leute mich als den Menschen kennen lernen, der ich bin, und dann erst als Christianit."
Mette schält die Kartoffeln und blickt auf die Uhr. Nach dem Abendessen trifft sich einer der vielen Ausschüsse Christianias. Mette selbst sitzt unter anderem in der so genannten Verhandlungsgruppe, die mit den dänischen Behörden über die Zukunft des Freistaates berät.
" Es ist hart, zu hart. Derzeit habe ich dreimal die Woche irgendein Treffen - und das geht seit zwei Jahren so. Irgend jemand muss sich der Aufgabe ja annehmen. Doch viele haben bereits das Handtuch geworfen, weil die zeitliche Belastung für sie und ihre Familien einfach zu groß war."
Das Abendessen köchelt vor sich hin, Mette lehnt sich zurück und guckt in die Dämmerung über dem See. Auch Christiania braucht neue Impulse, sagt sie leise. Engagement und Kreativität früherer Jahre dümpelten vor sich hin. Die Selbstverwaltung sei in vielerlei Hinsicht nur noch ein Schatten ihrer selbst - viele Christianier blieben den gemeinsamen Gremien einfach fern. Und dennoch, sagt sie, würde sie sich immer wieder für das Leben hier entscheiden. Zur Alternativgesellschaft Christianias gebe es - ja, keine Alternative:
" Christiania war nie nur eine einzige Utopie. Ich habe meine Vorstellungen vom guten Leben, unsere Nachbarn hier haben wieder gänzlich andere. Was man jedoch sagen kann, ist, dass es in Christiania sehr viele Leute gibt, die ihre Träume leben - und dies nicht in einem kurzen, jugendlichen Anfall, sondern seit mehr als drei Jahrzehnten. Eben dies finde ich interessant, dass so viele hier nach wie vor an ihre Träume glauben und versuchen, sie zu leben."
Ein Drittel der Bewohner arbeitet in Christiania selbst, in einem der knapp 80 hier ansässigen Betriebe: in der Fahrradfabrik, in der Schreinerei, der Ofensetzerei oder in der Gastronomie. Ein weiteres Drittel arbeitet außerhalb, viele davon in bürgerlichen Berufen, als Bank- oder Verwaltungsangestellte. Der Rest der erwachsenen Bevölkerung ist ohne Beschäftigung, teils freiwillig, teils unfreiwillig.
Doch in der so genannten Pusher-Street lässt sich nach wie vor Geld verdienen: mit Drogen. Bis vor zwei Jahren war der Handel mit Haschisch und Marihuana in diesem Bereich ganz legal - auf staatlichen Druck hin, aber auch, weil Christiania sein Image als Haschhochburg loswerden wollte, sind heute auch weiche Drogen verboten, wie überall in Dänemark. Gehandelt wird trotzdem.
In der Küche hat Roses Mutter, Mette, mit den Vorbereitungen für das Abendessen begonnen. Vater Søren ist mit Jakob beim Fußball, Solveig, die Elfjährige, beim Klavierunterricht. Seit 19 Jahren leben Mette und Søren in diesem Haus. Auf monatlich etwa 4500 Kronen, umgerechnet 600 Euro, belaufen sich ihre festen Ausgaben. Je 1400 Kronen zahlen die beiden Erwachsenen an die Gemeinschaftskasse Christianias, der Rest geht für Strom, Gas, Wasser und Heizung drauf. Ein großer Fortschritt, sagt die heute 41jährige Mette, denn früher gab es im Haus weder Strom noch fließendes Wasser.
" Dass wir hierher nach Christiania kamen, das war eher ein Zufall, dass wir geblieben sind aber nicht - denn das Leben hier ist ebenso phantastisch wie abenteuerlich. Schauen Sie, diese Umgebung dort draußen, die haben wir das ganze Jahr über. Hier im Haus haben wir unser eigenes kleines Universum und da draußen liegt ein noch viel größeres - nämlich Christiania mit seinen vielen schrägen Typen und seiner unbändigen Energie. Das alles gehört zu unserem Leben dazu."
Neben der Arbeitsplatte in der offenen Küche hängt, an der Decke befestigt, eine Pritsche - das Schlafzimmer von Mette und Søren. Fünf Personen, insgesamt 65 Quadratmeter, da heißt es, sich einzuschränken und praktisch-funktional einzurichten. Gewiss, erzählt Mette, haben sie und ihr Mann ab und an daran gedacht, Christiania zu verlassen und ein größeres Haus zu bauen. Andernorts aber würde ihnen die Gemeinschaft fehlen, die das Leben hier prägt:
" Meine Kinder können sich hier überall frei bewegen, jeder weiß, wer sie sind. Ich kann die fünfjährige Rose zur Einkaufszentrale schicken, um Milch und Brot zu kaufen - jeder würde ihr helfen, mit dem Einpacken, mit dem Geld, und sie fragen, was sie denn so mache. Auch wenn Rose noch nicht jeden hier kennt, wissen doch alle, wer sie ist."
Mette und Søren sind beide Architekten, zusammen mit einem dritten Partner haben sie ein Büro, das auf ökologisches und unweltgerechtes Bauen spezialisiert ist. Im Laufe der Jahre haben sie ihr eigenes Haus nach und nach erweitert - heute ist die gesamte Seeseite von einer Terrasse umzogen. Die großen Fenster, das viele Holz sowie die klaren Linien lassen die skandinavische Prägung deutlich erkennen. Sowohl mit Blick auf die Architektur wie die Ökologie, sagt Mette, ist Christiania ein großer Experimentierplatz - mit viel Phantasie und viel Know-how. Dennoch würde sie Kunden wie auch anderen neuen Bekanntschaften meist nicht erzählen, dass sie selbst im Freistaat wohne:
" Das kommt auf die Situation an, aber ich trage es nicht wie eine Visitenkarte mit mir herum. Nicht, weil ich mich schäme, sondern weil es so viele Vorurteile gibt, die man dann erst wieder aus der Welt schaffen muss. Generell begegnen einem die Leute mit einer sehr viel größeren Skepsis. Ich will es natürlich auch nicht verheimlichen, aber ich möchte, dass die Leute mich als den Menschen kennen lernen, der ich bin, und dann erst als Christianit."
Mette schält die Kartoffeln und blickt auf die Uhr. Nach dem Abendessen trifft sich einer der vielen Ausschüsse Christianias. Mette selbst sitzt unter anderem in der so genannten Verhandlungsgruppe, die mit den dänischen Behörden über die Zukunft des Freistaates berät.
" Es ist hart, zu hart. Derzeit habe ich dreimal die Woche irgendein Treffen - und das geht seit zwei Jahren so. Irgend jemand muss sich der Aufgabe ja annehmen. Doch viele haben bereits das Handtuch geworfen, weil die zeitliche Belastung für sie und ihre Familien einfach zu groß war."
Das Abendessen köchelt vor sich hin, Mette lehnt sich zurück und guckt in die Dämmerung über dem See. Auch Christiania braucht neue Impulse, sagt sie leise. Engagement und Kreativität früherer Jahre dümpelten vor sich hin. Die Selbstverwaltung sei in vielerlei Hinsicht nur noch ein Schatten ihrer selbst - viele Christianier blieben den gemeinsamen Gremien einfach fern. Und dennoch, sagt sie, würde sie sich immer wieder für das Leben hier entscheiden. Zur Alternativgesellschaft Christianias gebe es - ja, keine Alternative:
" Christiania war nie nur eine einzige Utopie. Ich habe meine Vorstellungen vom guten Leben, unsere Nachbarn hier haben wieder gänzlich andere. Was man jedoch sagen kann, ist, dass es in Christiania sehr viele Leute gibt, die ihre Träume leben - und dies nicht in einem kurzen, jugendlichen Anfall, sondern seit mehr als drei Jahrzehnten. Eben dies finde ich interessant, dass so viele hier nach wie vor an ihre Träume glauben und versuchen, sie zu leben."
Ein Drittel der Bewohner arbeitet in Christiania selbst, in einem der knapp 80 hier ansässigen Betriebe: in der Fahrradfabrik, in der Schreinerei, der Ofensetzerei oder in der Gastronomie. Ein weiteres Drittel arbeitet außerhalb, viele davon in bürgerlichen Berufen, als Bank- oder Verwaltungsangestellte. Der Rest der erwachsenen Bevölkerung ist ohne Beschäftigung, teils freiwillig, teils unfreiwillig.
Doch in der so genannten Pusher-Street lässt sich nach wie vor Geld verdienen: mit Drogen. Bis vor zwei Jahren war der Handel mit Haschisch und Marihuana in diesem Bereich ganz legal - auf staatlichen Druck hin, aber auch, weil Christiania sein Image als Haschhochburg loswerden wollte, sind heute auch weiche Drogen verboten, wie überall in Dänemark. Gehandelt wird trotzdem.
Die Stimmung ist meistens feindlich
Der Polizist Anders Schütt über die psychische Belastung während der täglichen Drogenrazzien
Der Polizist Anders Schütt über die psychische Belastung während der täglichen Drogenrazzien
Es ist kurz nach Neun. In der Einsatzzentrale der Kopenhagener Polizei herrscht ein geordnetes Durcheinander. Anders Schütt ist seit gut einer Stunde im Dienst und gerade dabei, den heutigen Einsatz in Christiania zu planen. Vor ihm liegt ein laminiertes Satellitenbild des Geländes. Mit einem Filz-Stift hat er vier Kreuze um die so genannte Pusher-Street herum markiert.
" Wir haben die Vermutung, dass es dort nach wie vor Hasch gibt. Das sagen die Christianiter ja auch selbst - allein seien wir nicht in der Lage, es zu finden. Deswegen versuchen wir, unsere Strategien zu variieren. Heute etwa haben wir Drogenhunde dabei, die ja eine sehr viel bessere Nase haben als wir Menschen. Die Dealer mögen die Hunde natürlich überhaupt nicht, weil sie fast immer etwas finden - meist nur irgendwo gelagertes Haschisch, so dass wir die Besitzer nicht fassen können. Aber das ist auch okay."
Nach einer kurzen Lagebesprechung geht es von der Polizeiwache in Richtung Christiania. Zwei Einsatzwagen a sechs Polizisten - in Gruppen zu Dritt sollen sie sich auf dem Gelände bewegen und auf ein abgesprochenes Kommando hin ihre Positionen einnehmen. Anders Schütt sitzt auf dem Beifahrersitz und geht noch einmal alle Einzelheiten durch. Der 38jährige Vater von zwei Kindern ist seit sechzehn Jahren Polizist. Einsätzen wie diesem sieht er gelassen entgegen.
" Die Stimmung in Christiania uns gegenüber ist sehr unterschiedlich, freundlich gesinnt aber ist sie selten. Wie feindlich sie ist, das hängt auch davon ab, ob wir gerade eines der Cafes dort geschlossen oder eine große Menge von ihrem Haschisch beschlagnahmt haben. Dann sind die Leute meist ziemlich sauer, aber das kann man irgendwo ja auch verstehen. Es ist immer spannend zu sehen, wie es wohl diesmal sein wird. Es gibt hier eigentlich keine zwei Tage, die gleich sind."
Die Polizisten nehmen einen der Seiteneingänge Christianias, verteilen und bewegen sich langsam in Richtung der abgesprochenen Positionen. An die täglichen Polizeikontrollen, sagt Schütt, haben sich die Christianiter inzwischen gewöhnt. Nur wann und wo die Beamten auftauchten, könnten sie nicht vorhersehen.
" Vormittags sind hier nicht so viele Leute, aber es gibt verschiedene Signale,, wenn wir kommen - einige pfeifen, andere rufen "Käse", das heißt Polizei - und das verbreitet sich dann wie ein Lauffeuer. Ah, hören Sie nur."
Anders Schütt gibt das Startsignal, das alle Beamten über ihren Knopf im Ohr empfangen. Die vier Dreiergruppen sperren das besprochene Gebiet der Pusherstreet ab - jeder, der den Anschein macht, die Zone zu verlassen, wird angehalten und nach Haschisch durchsucht, gleichzeitig durchkämen die Hunde das Gelände. Willkommen sind die Polizisten hier nicht.
" Die Polizei hat kein Verständnis für das Leben hier in Christiania, das ist das Problem. Natürlich sollen sie die Arbeit tun, mit der man sie nun einmal beauftragt hat, aber sie müssen auch Prioritäten setzen. Statt Leute anzuhalten, die auf dem Weg in die Wäscherei sind, sollten sie sich vernünftige Dinge vornehmen - das hier ist reine Geldverschwendung."
" Wir haben uns stets selbst zu helfen gewusst. Kamen Kriminelle oder Hehler hierher, haben wir sie rausgeschmissen. Die Bullen müssen hier doch nicht rumrennen und nach Hasch-Klumpen suchen. Hasch ist doch heute kein Problem mehr, das ist doch allein politisch motiviert, die wollen die Leute hier bloßstellen. Kokain und all diese neuen Designerdrogen - das ist ein Problem, ja ein Riesenproblem. Aber die werden ja auch nur von den Sprösslingen der besseren Leute konsumiert und nicht von uns Linkssozialisten hier."
Nach etwa einer halben Stunde bricht Anders Schütt den Einsatz ab, 128 Gramm Haschisch und eine Tüte mit Einpackpapier haben die Beamten beschlagnahmt. Nicht viel, gesteht Schütt, doch man sollte den Bogen nicht überspannen. Es gehe darum, Präsenz zu zeigen, und Nervosität unter den Dealern zu erzeugen. Tatsächlich war die Stimmung von Minute zu Minute aggressiver geworden. Aus einem Hinterhalt hatten Unbekannte zwei handgroße Steine nach den Beamten geworfen. Zahlreiche Christianiter hatten die Polizisten mit Mobiltelefonen und Videokameras aus kürzester Distanz bei der Arbeit gefilmt.
" Ich bin froh, dass ich nicht jeden Tag hier herkommen muss, denn das würde einen psychisch mitnehmen. Man stößt hier nur auf Ablehnung, es gibt niemanden, der der Polizei hier positiv gegenübersteht. Es gibt viele Kollegen, die im Laufe der Zeit krank geworden sind. Zu viele Eindrücke dieser Art sind einfach nicht gesund. Und darum machen wir das auch so, dass die gleiche Mannschaft hier eine Woche lang Dienst verrichtet und dann eine lange Pause erhält, damit sie sich erholen und auf den nächsten Einsatz vorbereiten kann."
" Die Politiker? Nein, grundsätzlich glaube ich nicht, dass sie wissen, was es bedeutet, hier in Polizeiuniform Dienst zu verrichten, unter welchem Druck wir stehen. Ab und an ist das ein bisschen frustrierend. Natürlich erfüllen wir unsere Aufgaben, aber irgendwo gibt es doch Grenzen für das, was wir leisten können. Das gilt für uns wie für alle Menschen."
Nun waren fünf Jahre vergangen, und das ganze Land bekam eine wirklich große Trauer, denn sie hatten im Grunde alle ihren Kaiser gern: nun sei er krank und müsse sterben, sagte man. Ein neuer Kaiser war schon gewählt, und die Leute standen draußen auf der Straße und fragten den Kavalier, wie es ihrem Kaiser gehe.
"P!" sagte er und schüttelte den Kopf.
Aber der Kaiser war noch nicht tot; steif und blass lag er in dem prächtigen Bett mit den langen Samtgardinen und den schweren Goldquasten; hoch oben stand ein Fenster offen und der Mond schien herein auf den Kaiser und den Kunstvogel.
Da ertönte auf einmal dicht am Fenster der schönste Gesang; es war die kleine lebende Nachtigall, die draußen auf einem Zweig saß; sie hatte von des Kaisers Not gehört und war darum gekommen, ihm Trost und Hoffnung zu singen. Und sie sang, von dem stillen Kirchhof, wo die weißen Rosen wachsen, wo der Fliederbaum duftet, und wo das frische Gras von den Tränen der Überlebenden benetzt wird. Da bekam der Tod Sehnsucht nach seinem Garten und schwebte wie ein kalter, weißer Nebel zum Fenster hinaus.
"Immer musst Du bei mir bleiben", sagte der Kaiser, als er gestärkt und gesund erwachte.
"Ich kann nicht auf dem Schloss nisten und wohnen", sagte die Nachtigall; "aber lass mich kommen, wenn ich selbst Lust habe, dann will ich am Abend auf dem Zweig dort beim Fenster sitzen und dir vorsingen, auf dass du froh und gedankenvoll zugleich werden kannst. Ich liebe dein Herz mehr als deine Krone, und doch hat die Krone einen Duft von etwas Heiligem um sich. Nur um eins bitte ich dich: erzähle niemand, dass Du einen kleinen Vogel hast, der dir alles erzählt, dann wird es noch besser gehen!"
Und dann flog die Nachtigall fort.
Die Diener kamen herein, um nach ihrem toten Kaiser zu sehen; - ja, da standen sie, und der Kaiser sagte: "Guten Morgen!"
Nicht mit wilden Nachtigallen, aber mit den Kanarienvögel der Minenarbeiter vergleichen sich die Bewohner Christianias: sollte ihr Projekt sterben, wird auch für die restliche Bevölkerung Dänemarks die Luft bald zu dünn zum Atmen. In einer Gesellschaft, deren politisches und gesellschaftliches Klima härter wird für die schwächeren Mitglieder, in der Neoliberalismus, Intoleranz und Rassismus immer mächtiger werden, will Christiania nach wie vor zeigen, dass eine andere Welt möglich ist.
Der Nutzungsvertrag jedoch ist Ende letzten Jahres ausgelaufen, nun wächst die Angst vor den Bulldozern. Der öffentlich ausgeschriebene Architekturwettbewerb zur Neugestaltung des Geländes wurde zwar ebenso zurückgezogen wie der Plan, das Gelände zu räumen, nach den Protesten von Bewohnern, namhaften Künstlern und zehntausenden Unterstützern aus der ganzen Welt. Und die Optimisten hoffen jetzt, dass es nicht mehr um Normalisierung geht, sondern um Legalisierung von Christiania. Doch bis es soweit ist, sind viele Gespräche nötig mit staatlichen Instanzen - und Christiania braucht gute Fürsprecher.
" Wir haben die Vermutung, dass es dort nach wie vor Hasch gibt. Das sagen die Christianiter ja auch selbst - allein seien wir nicht in der Lage, es zu finden. Deswegen versuchen wir, unsere Strategien zu variieren. Heute etwa haben wir Drogenhunde dabei, die ja eine sehr viel bessere Nase haben als wir Menschen. Die Dealer mögen die Hunde natürlich überhaupt nicht, weil sie fast immer etwas finden - meist nur irgendwo gelagertes Haschisch, so dass wir die Besitzer nicht fassen können. Aber das ist auch okay."
Nach einer kurzen Lagebesprechung geht es von der Polizeiwache in Richtung Christiania. Zwei Einsatzwagen a sechs Polizisten - in Gruppen zu Dritt sollen sie sich auf dem Gelände bewegen und auf ein abgesprochenes Kommando hin ihre Positionen einnehmen. Anders Schütt sitzt auf dem Beifahrersitz und geht noch einmal alle Einzelheiten durch. Der 38jährige Vater von zwei Kindern ist seit sechzehn Jahren Polizist. Einsätzen wie diesem sieht er gelassen entgegen.
" Die Stimmung in Christiania uns gegenüber ist sehr unterschiedlich, freundlich gesinnt aber ist sie selten. Wie feindlich sie ist, das hängt auch davon ab, ob wir gerade eines der Cafes dort geschlossen oder eine große Menge von ihrem Haschisch beschlagnahmt haben. Dann sind die Leute meist ziemlich sauer, aber das kann man irgendwo ja auch verstehen. Es ist immer spannend zu sehen, wie es wohl diesmal sein wird. Es gibt hier eigentlich keine zwei Tage, die gleich sind."
Die Polizisten nehmen einen der Seiteneingänge Christianias, verteilen und bewegen sich langsam in Richtung der abgesprochenen Positionen. An die täglichen Polizeikontrollen, sagt Schütt, haben sich die Christianiter inzwischen gewöhnt. Nur wann und wo die Beamten auftauchten, könnten sie nicht vorhersehen.
" Vormittags sind hier nicht so viele Leute, aber es gibt verschiedene Signale,, wenn wir kommen - einige pfeifen, andere rufen "Käse", das heißt Polizei - und das verbreitet sich dann wie ein Lauffeuer. Ah, hören Sie nur."
Anders Schütt gibt das Startsignal, das alle Beamten über ihren Knopf im Ohr empfangen. Die vier Dreiergruppen sperren das besprochene Gebiet der Pusherstreet ab - jeder, der den Anschein macht, die Zone zu verlassen, wird angehalten und nach Haschisch durchsucht, gleichzeitig durchkämen die Hunde das Gelände. Willkommen sind die Polizisten hier nicht.
" Die Polizei hat kein Verständnis für das Leben hier in Christiania, das ist das Problem. Natürlich sollen sie die Arbeit tun, mit der man sie nun einmal beauftragt hat, aber sie müssen auch Prioritäten setzen. Statt Leute anzuhalten, die auf dem Weg in die Wäscherei sind, sollten sie sich vernünftige Dinge vornehmen - das hier ist reine Geldverschwendung."
" Wir haben uns stets selbst zu helfen gewusst. Kamen Kriminelle oder Hehler hierher, haben wir sie rausgeschmissen. Die Bullen müssen hier doch nicht rumrennen und nach Hasch-Klumpen suchen. Hasch ist doch heute kein Problem mehr, das ist doch allein politisch motiviert, die wollen die Leute hier bloßstellen. Kokain und all diese neuen Designerdrogen - das ist ein Problem, ja ein Riesenproblem. Aber die werden ja auch nur von den Sprösslingen der besseren Leute konsumiert und nicht von uns Linkssozialisten hier."
Nach etwa einer halben Stunde bricht Anders Schütt den Einsatz ab, 128 Gramm Haschisch und eine Tüte mit Einpackpapier haben die Beamten beschlagnahmt. Nicht viel, gesteht Schütt, doch man sollte den Bogen nicht überspannen. Es gehe darum, Präsenz zu zeigen, und Nervosität unter den Dealern zu erzeugen. Tatsächlich war die Stimmung von Minute zu Minute aggressiver geworden. Aus einem Hinterhalt hatten Unbekannte zwei handgroße Steine nach den Beamten geworfen. Zahlreiche Christianiter hatten die Polizisten mit Mobiltelefonen und Videokameras aus kürzester Distanz bei der Arbeit gefilmt.
" Ich bin froh, dass ich nicht jeden Tag hier herkommen muss, denn das würde einen psychisch mitnehmen. Man stößt hier nur auf Ablehnung, es gibt niemanden, der der Polizei hier positiv gegenübersteht. Es gibt viele Kollegen, die im Laufe der Zeit krank geworden sind. Zu viele Eindrücke dieser Art sind einfach nicht gesund. Und darum machen wir das auch so, dass die gleiche Mannschaft hier eine Woche lang Dienst verrichtet und dann eine lange Pause erhält, damit sie sich erholen und auf den nächsten Einsatz vorbereiten kann."
" Die Politiker? Nein, grundsätzlich glaube ich nicht, dass sie wissen, was es bedeutet, hier in Polizeiuniform Dienst zu verrichten, unter welchem Druck wir stehen. Ab und an ist das ein bisschen frustrierend. Natürlich erfüllen wir unsere Aufgaben, aber irgendwo gibt es doch Grenzen für das, was wir leisten können. Das gilt für uns wie für alle Menschen."
Nun waren fünf Jahre vergangen, und das ganze Land bekam eine wirklich große Trauer, denn sie hatten im Grunde alle ihren Kaiser gern: nun sei er krank und müsse sterben, sagte man. Ein neuer Kaiser war schon gewählt, und die Leute standen draußen auf der Straße und fragten den Kavalier, wie es ihrem Kaiser gehe.
"P!" sagte er und schüttelte den Kopf.
Aber der Kaiser war noch nicht tot; steif und blass lag er in dem prächtigen Bett mit den langen Samtgardinen und den schweren Goldquasten; hoch oben stand ein Fenster offen und der Mond schien herein auf den Kaiser und den Kunstvogel.
Da ertönte auf einmal dicht am Fenster der schönste Gesang; es war die kleine lebende Nachtigall, die draußen auf einem Zweig saß; sie hatte von des Kaisers Not gehört und war darum gekommen, ihm Trost und Hoffnung zu singen. Und sie sang, von dem stillen Kirchhof, wo die weißen Rosen wachsen, wo der Fliederbaum duftet, und wo das frische Gras von den Tränen der Überlebenden benetzt wird. Da bekam der Tod Sehnsucht nach seinem Garten und schwebte wie ein kalter, weißer Nebel zum Fenster hinaus.
"Immer musst Du bei mir bleiben", sagte der Kaiser, als er gestärkt und gesund erwachte.
"Ich kann nicht auf dem Schloss nisten und wohnen", sagte die Nachtigall; "aber lass mich kommen, wenn ich selbst Lust habe, dann will ich am Abend auf dem Zweig dort beim Fenster sitzen und dir vorsingen, auf dass du froh und gedankenvoll zugleich werden kannst. Ich liebe dein Herz mehr als deine Krone, und doch hat die Krone einen Duft von etwas Heiligem um sich. Nur um eins bitte ich dich: erzähle niemand, dass Du einen kleinen Vogel hast, der dir alles erzählt, dann wird es noch besser gehen!"
Und dann flog die Nachtigall fort.
Die Diener kamen herein, um nach ihrem toten Kaiser zu sehen; - ja, da standen sie, und der Kaiser sagte: "Guten Morgen!"
Nicht mit wilden Nachtigallen, aber mit den Kanarienvögel der Minenarbeiter vergleichen sich die Bewohner Christianias: sollte ihr Projekt sterben, wird auch für die restliche Bevölkerung Dänemarks die Luft bald zu dünn zum Atmen. In einer Gesellschaft, deren politisches und gesellschaftliches Klima härter wird für die schwächeren Mitglieder, in der Neoliberalismus, Intoleranz und Rassismus immer mächtiger werden, will Christiania nach wie vor zeigen, dass eine andere Welt möglich ist.
Der Nutzungsvertrag jedoch ist Ende letzten Jahres ausgelaufen, nun wächst die Angst vor den Bulldozern. Der öffentlich ausgeschriebene Architekturwettbewerb zur Neugestaltung des Geländes wurde zwar ebenso zurückgezogen wie der Plan, das Gelände zu räumen, nach den Protesten von Bewohnern, namhaften Künstlern und zehntausenden Unterstützern aus der ganzen Welt. Und die Optimisten hoffen jetzt, dass es nicht mehr um Normalisierung geht, sondern um Legalisierung von Christiania. Doch bis es soweit ist, sind viele Gespräche nötig mit staatlichen Instanzen - und Christiania braucht gute Fürsprecher.
Das soziale Experiment braucht gute Fürsprecher
Der Rechtsanwalt Knud Foldschack über die Zukunft des Freistaates
Der Rechtsanwalt Knud Foldschack über die Zukunft des Freistaates
Die Kanzlei liegt inmitten der Kopenhagener Innenstadt - dicht am Universitätsviertel und der juristischen Fakultät. Vier Anwälte teilen sich die Räume im vierten Stock unter dem Dach, darunter auch die Fraktionsvorsitzende der sozialistischen Einheitsliste im dänischen Parlament.
Knud Foldschack - klein, zottiges, rot-braunes Haar, hellwache Augen - entschuldigt sich bei seiner Sekretärin. Fahrig sei er heute gewesen, habe sich vorhin im Ton vergriffen, gelobe Besserung für alle Zukunft. Die junge Frau nickt ungläubig, aber nachsichtig:
" Für meine Arbeit bekomme ich kein Geld. Ich arbeite seit drei Jahren für Christiania, und meine Bezahlung ist die innere Zufriedenheit. Wenn ich abends in den Spiegel gucke, denke ich oft, okay, das war heute ein guter Tag - und das ist ja auch eine Art Lohn. Christiania ist eine sehr spannende, aber auch sehr problematische Aufgabe."
Knud Foldschack blickt auf die Uhr. In zwanzig Minuten hat er den nächsten Termin - bei der Schloss- und Eigentumsbehörde, mit der er über das weitere Schicksal Christianias verhandelt. Der 53jährige wirkt optimistisch wie ein Boxer, der von seinem Gegner unterschätzt wurde und diesen nun ganz gut im Griff hat.
Christiania ist ein Experimentarium, sagt Foldschack, ein Experimentarium, um das man Dänemark europaweit beneide. Ein alternativer Stadtteil mit günstigen Wohnungen und spannender Architektur, mit gemischter Anwohnerschaft und einem hohen Maß an Selbstverwaltung und sozialem Engagement, und genau dies versuche man andernorts zu adaptieren. Darum gelte es, Christiania zu erhalten - und von seinen anarchistischen Ursprüngen in eine tragfähige und zukunftssichere Rechtskonstruktion zu überführen.
" Der größte Schutz gegen kapitalistische Verhältnisse ist eine Stiftung. Niemand kann an einer Stiftung verdienen, niemand kann Kapital aus ihr herausnehmen - sie ist die beste Vorkehrung dagegen, dass unberechtigte Kräfte und Spekulanten den enormen Wert Christianias in die Hände bekommen. Und der Wert Christianias ist sehr hoch, in der Tat enorm - wir reden hier über 30, 40 Hektar Land in der teuersten Lage Dänemarks. Wenn man die anarchistischen Verhältnisse Christianias also normalisieren, d.h. in geregelte Verhältnisse bringen möchte, dann ist die Stiftung dafür das richtige Modell. Auf diese Weise bleibt es uns allen erhalten."
Knud Foldschack redet sich warm - vermutlich hält er vor Gericht brillante Plädoyers. In den vergangenen Jahren, erzählt er, hat man große Fortschritte erzielt. Als die rechtsliberal-konservative Regierung 2001 an die Macht kam, habe sie Christiania binnen weniger Monate schließen wollen. Heute würde man auf gleicher Augenhöhe miteinander verhandeln, die Regierung hätte begriffen, dass auch die Christianiter nach 35 Jahren und diversen Vereinbarungen mit den Behörden über gewisse Rechte verfügen. Der Staat zeige sich derzeit keineswegs abgeneigt gegenüber dem von ihm vorgeschlagenen Stiftungsmodell. Uneins aber sei man sich nach wie vor über viele Einzelheiten - etwa welche Summe die Christianiter für die Übernahme des Geländes zahlen sollten bzw. wer hier künftig wohnen dürfe und wer nicht.
" Da stehen wir natürlich auf dem Standpunkt, dass wenn man in Christiania leben möchte, dessen grundlegende Werte akzeptieren muss. Es geht ja nicht an, dass dann Leute einziehen, die etwa den Kollektivgedanken und die sozialen Verpflichtungen Christianias nicht akzeptieren oder an den kulturellen Aktivitäten dort nicht teilnehmen wollen, dass man sich etwa dem gemeinsamen Postverteilungssystem nicht anschließen möchte, sich an den gemeinsamen Instandhaltungsarbeiten nicht beteiligt oder seinen Müll nicht sortieren will. Wer in Christiania wohnen möchte, muss auch Christianit sein, denn gerade das macht Christiania doch zu einem solch spannenden Ort."
Christiania ist einzigartig, sagt Foldschack und schaut dabei aus dem Fenster - wie die Nachtigall in Hans Christian Andersens Abenteuer brauchen die Christianiter ihre Freiheit. Die Behörden würden noch immer versuchen, den Freistaat in irgendwelche Kästen zu packen, doch eben dann gehe seine Schönheit, sein besonderer Wert verloren.
" Wenn die Regierung nicht den Fehler macht zu glauben, dass man Christiania mit Bulldozern einfach platt machen kann, wenn man auf die Christianiter eingeht und ihre vernünftigen Forderungen akzeptiert, dann denke ich, wird Christiania auch in zehn Jahren noch bestehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ein so spannendes Experiment, einen so spannenden Ort, wie er Christiania ist, einfach zerstören will."
Knud Foldschack - klein, zottiges, rot-braunes Haar, hellwache Augen - entschuldigt sich bei seiner Sekretärin. Fahrig sei er heute gewesen, habe sich vorhin im Ton vergriffen, gelobe Besserung für alle Zukunft. Die junge Frau nickt ungläubig, aber nachsichtig:
" Für meine Arbeit bekomme ich kein Geld. Ich arbeite seit drei Jahren für Christiania, und meine Bezahlung ist die innere Zufriedenheit. Wenn ich abends in den Spiegel gucke, denke ich oft, okay, das war heute ein guter Tag - und das ist ja auch eine Art Lohn. Christiania ist eine sehr spannende, aber auch sehr problematische Aufgabe."
Knud Foldschack blickt auf die Uhr. In zwanzig Minuten hat er den nächsten Termin - bei der Schloss- und Eigentumsbehörde, mit der er über das weitere Schicksal Christianias verhandelt. Der 53jährige wirkt optimistisch wie ein Boxer, der von seinem Gegner unterschätzt wurde und diesen nun ganz gut im Griff hat.
Christiania ist ein Experimentarium, sagt Foldschack, ein Experimentarium, um das man Dänemark europaweit beneide. Ein alternativer Stadtteil mit günstigen Wohnungen und spannender Architektur, mit gemischter Anwohnerschaft und einem hohen Maß an Selbstverwaltung und sozialem Engagement, und genau dies versuche man andernorts zu adaptieren. Darum gelte es, Christiania zu erhalten - und von seinen anarchistischen Ursprüngen in eine tragfähige und zukunftssichere Rechtskonstruktion zu überführen.
" Der größte Schutz gegen kapitalistische Verhältnisse ist eine Stiftung. Niemand kann an einer Stiftung verdienen, niemand kann Kapital aus ihr herausnehmen - sie ist die beste Vorkehrung dagegen, dass unberechtigte Kräfte und Spekulanten den enormen Wert Christianias in die Hände bekommen. Und der Wert Christianias ist sehr hoch, in der Tat enorm - wir reden hier über 30, 40 Hektar Land in der teuersten Lage Dänemarks. Wenn man die anarchistischen Verhältnisse Christianias also normalisieren, d.h. in geregelte Verhältnisse bringen möchte, dann ist die Stiftung dafür das richtige Modell. Auf diese Weise bleibt es uns allen erhalten."
Knud Foldschack redet sich warm - vermutlich hält er vor Gericht brillante Plädoyers. In den vergangenen Jahren, erzählt er, hat man große Fortschritte erzielt. Als die rechtsliberal-konservative Regierung 2001 an die Macht kam, habe sie Christiania binnen weniger Monate schließen wollen. Heute würde man auf gleicher Augenhöhe miteinander verhandeln, die Regierung hätte begriffen, dass auch die Christianiter nach 35 Jahren und diversen Vereinbarungen mit den Behörden über gewisse Rechte verfügen. Der Staat zeige sich derzeit keineswegs abgeneigt gegenüber dem von ihm vorgeschlagenen Stiftungsmodell. Uneins aber sei man sich nach wie vor über viele Einzelheiten - etwa welche Summe die Christianiter für die Übernahme des Geländes zahlen sollten bzw. wer hier künftig wohnen dürfe und wer nicht.
" Da stehen wir natürlich auf dem Standpunkt, dass wenn man in Christiania leben möchte, dessen grundlegende Werte akzeptieren muss. Es geht ja nicht an, dass dann Leute einziehen, die etwa den Kollektivgedanken und die sozialen Verpflichtungen Christianias nicht akzeptieren oder an den kulturellen Aktivitäten dort nicht teilnehmen wollen, dass man sich etwa dem gemeinsamen Postverteilungssystem nicht anschließen möchte, sich an den gemeinsamen Instandhaltungsarbeiten nicht beteiligt oder seinen Müll nicht sortieren will. Wer in Christiania wohnen möchte, muss auch Christianit sein, denn gerade das macht Christiania doch zu einem solch spannenden Ort."
Christiania ist einzigartig, sagt Foldschack und schaut dabei aus dem Fenster - wie die Nachtigall in Hans Christian Andersens Abenteuer brauchen die Christianiter ihre Freiheit. Die Behörden würden noch immer versuchen, den Freistaat in irgendwelche Kästen zu packen, doch eben dann gehe seine Schönheit, sein besonderer Wert verloren.
" Wenn die Regierung nicht den Fehler macht zu glauben, dass man Christiania mit Bulldozern einfach platt machen kann, wenn man auf die Christianiter eingeht und ihre vernünftigen Forderungen akzeptiert, dann denke ich, wird Christiania auch in zehn Jahren noch bestehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ein so spannendes Experiment, einen so spannenden Ort, wie er Christiania ist, einfach zerstören will."
Literatur
Hans Christian Andersen: Die Nachtigall. Manesse Verlag Zürich 2000 (Übersetzung: Fl. Storrer-Madelung)