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Bis dass der Tod sie scheidet

In der Türkei hat es im Zuge der Vorbereitung auf den EU-Beitritt Reformen gegeben. Seit 2004 ist Gewalt gegen Frauen ein Straftatbestand. Für Ehrenmorde gibt nicht mehr wie früher mildernde Umstände. Doch allgemeiner gesellschaftlicher Konsens im Mutterland und unter Emigranten sind diese gesetzlichen Veränderungen noch lange nicht.

Von Renate Bernhard und Sigrid Dethloff | 30.03.2005
    Totengebet für Semse Allak, eine junge Frau, die im Dezember 2002 von ihrer Familie und ihren Nachbarn gesteinigt wurde. Wir sind in der Türkei - Südostanatolien – auf dem Friedhof von Diyarbarkir.
    Die 35jährige war im fünften Monat schwanger, hatte erst geheiratet, nachdem sie erfahren hatte, dass sie ein Kind erwartet. Ihr Mann versucht noch, sie zu schützen. Vergeblich. Er wird mit ihr zusammen gesteinigt.
    Noch immer herrscht in vielen Ländern der Welt die Vorstellung, eine Ehrverletzung könne nur mit dem Tod gesühnt werden. Manchmal genügt es schon, dass eine Frau ins Gerede gekommen ist. Die Vereinten Nationen schätzen, jedes Jahr werden weltweit etwa 5000 Menschen im Namen der Ehre umgebracht - vor allem sind es Frauen und dies keineswegs nur in muslimischen Ländern.

    An der Studiobühne in Köln: Deutsch-Türkisches Theaterfestival. Europapremiere eines Stückes, das in doppelter Hinsicht ein Politikum ist. In kurdischer Sprache bringt das Stadtheater Diyarbarkir den Ehrenmord an Semse Allak auf die Bühne. Das Stück erinnert auch an die 16jährige Kadriye Demirel, die ein Verwandter vergewaltigt hat.
    Die Familie bestraft nicht wie üblich den Vergewaltiger, sondern ermordet Kadriye. Die Schauspieler bringen die Gewalt offen auf die Bühne und brechen damit ein Tabu - jetzt auch in Deutschland.

    Spätestens seit dem 7. Februar 2005 - seit dem Tod von Hatun Sürürcü - weiß hierzulande jeder, was ein Ehrenmord ist: eine von der Familie geplante Tötung, die mit verletzter Familienehre begründet wird.

    Es ist spätabends an einer Bushaltestelle in Berlin. Drei gezielte Schüsse in den Kopf töten Hatun Sürücü . Ihre drei Brüder - 25, 24 und 18 Jahre alt - stehen unter Tatverdacht. Innerhalb von nur vier Monaten ist Hatun die fünfte junge Frau in Berlin, die muslimische Männer ermorden.

    Was sonst oft unter "Vermischtes" in den Zeitungsseiten untergeht, bringt die Menschenrechtsorganisation "Terre des Femmes" nun mit ihrer Jahreskampagne ins Rampenlicht: Auch in Deutschland sterben Menschen, weil sie die Ehre ihrer Familie angeblich beschmutzt haben.

    Die 23jährige Hatun ist in Berlin geboren. Mit 15 verheiratet ihre Familie sie mit einem türkischen Cousin.
    Als Hatun 17 ist, ihr Sohn knapp ein Jahr, taucht sie bei einer Berliner Beratungsstelle auf. Sie habe ihren Mann verlassen, doch in ihrer Herkunftsfamilie sei nun kein Platz mehr für sie, sagt sie schüchtern.

    In einem Mutter-Kind-Heim macht Hatun ihren Hauptschulabschluss nach. Dann beginnt sie eine Lehre als Elektroinstallateurin.

    Das zuvor tief verhüllte Mädchen gewinnt an Selbstbewusstsein, entwickelt sich zur Schönheit. Sie legt ihren Schleier ab, beginnt sich zu schminken. Sie lebt allein mit ihrem kleinen Sohn, baut sich einen Freundeskreis auf, diskutiert und wird mutig, sagt ihrer Familie, dass sie sich ihren nächsten Partner selbst aussuchen will.

    Ihren Betreuerinnen hatte sie wohl erzählt, dass ihre Familie ihr mit dem Tod drohe. Doch Hatun tut, was viele Frauen in ihrer Situation tun. Obwohl einer ihrer Brüder sie prügelt, sie manchmal mit einem blauem Auge zur Arbeit kommt, sucht sie immer wieder Kontakt. Ohne ihre Großfamilie fühlt sie sich sterbenseinsam.

    Der älteste Bruder soll die Pistole besorgt haben, der zweite die Schwester aus dem Haus gelockt und der jüngste, 18 Jahre alt, wird verdächtigt, geschossen zu haben.

    Richtig aufgewühlt hat die deutsche Bevölkerung: drei türkisch-stämmige Schüler einer Berliner Oberschule heißen nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernt die Tötung öffentlich gut: Hatun sei eine Schlampe gewesen, sie habe ja schließlich wie eine Deutsche gelebt.
    Offenbar sind sie nicht allein damit.

    Pinar Ilkkaracan, eine in Istanbul geborene Psychotherapeutin, hat ihre Ausbildung in Berlin gemacht, war jahrelang Mitarbeiterin in einem Projekt gegen häusliche Gewalt. Als Gründerin von "Women for Women´s Human Rights" - einer international tätigen Frauen- und Menschenrechtsorganisation - beobachtet sie auch die Ehrenmorde in der Türkei.

    "Seit Jahren haben wir die Anforderung an die Staatsinstitut für Statistik, dass sie dann so ein Statistik führen sollen. Leider haben sie, zeigen sie Widerstand, also sie führen gar nicht so eine Statistik. Deswegen die Zahlen, die ich Ihnen sagen kann, ist nur Spitze des Berges. Aber wenn wir halt nur auf die Zeitung gucken, ja. Und wenn wir sehen, dass ungefähr jeden dritten Tag, sehen wir einen Ehrenmord in der Zeitung. Dann können Sie sich rechnen, also das würde dann halt mindestens 150 Ehrenmorde pro Jahr machen. Aber wie ich gesagt habe, das sind Dunkelziffer."

    Auch in Deutschland gibt es bislang keine Statistik. Die Berliner Organisation "Papatya", die zwangsverheirateten oder von Gewalt bedrohten Migrantinnen hilft, hat von 1996 bis Juli 2004 40 Ehrenmorde verzeichnet: in einer keineswegs vollständigen Sammlung von Zeitungsartikeln. Die Dunkelziffer dürfte weit darüber liegen. Und die alltägliche Gewalt, die im Namen der Ehre passiert, ist damit noch gar nicht erfasst.

    Die UNO greift Ehrenmorde seit Mitte der 90er Jahre als Thema auf. Seit 2000 berichtet die UN-Menschenrechtskommission regelmäßig darüber. 2004 hat die Europäische Union begonnen, zwei internationale Projekte zu fördern. Sie sollen Gewalt im Namen der Ehre aufdecken, ihr Ausmaß einschätzen und Ideen entwickeln, wie man Opfer schützen und Veränderungen bewirken kann.
    Die internationale Gemeinschaft ist sich offiziell einig, dass Staaten im Namen der Menschenrechte verpflichtet sind, ihre Bürger vor Übergriffen von Privatpersonen zu schützen und auch vorbeugend tätig zu werden. Doch wie genau das gehen kann, darauf fehlen die Antworten noch.

    "Es gibt zwei, zwei Arten von Ehrenmord: Die eine ist die sogenannten, auf Englisch heißt es "passion crimes", wenn der Ehemann den Verdacht hat, oder gehört hat, oder die Frau mit einem anderen Mann sieht, also im Sinne von Ehebruch, dass er seine Ehre verletzt fühlt, und deswegen viel Wut kriegt. Und hingeht und seine Frau tötet"

    Oft kann schon der Trennungswunsch der Frauen zum Tatmotiv werden. Die 21jährige Semra U. war ebenso wie Hatun mit ihrem Cousin zwangsverheiratet worden. Während der Scheidung streitet sie um ihr Kind. Ihr Mann ersticht sie auf offener Straße - vor den Augen der dreijährigen Tochter.

    Der anderen Art von Ehrenmorden fallen meist junge Mädchen zum Opfer. Die Täter sind fast immer deren Brüder, Väter oder Onkel, also männliche Mitglieder der Herkunftsfamilie. Manchmal wirken aber auch Frauen an der Tatvorbereitung mit. Sie folgen damit einem traditionellen Gesetz:

    "Wenn ein Mädchen oder eine Frau, die, sagen wir mal, die Begrenzungen, die ihr gesetzt wird, überschreitet – im Sinne von sexuellen Autonomie. Es kann halt eine Liebesbeziehung sein. Es kann auch sein z.B., dass sie sich entschieden hat, sich den Mann auszusuchen, und jemand zu lieben, den die Familien nicht möchte. Dann heißt es, dass sie diese Grenze überschritten hat, und dann kommt die ganze, gesamte Familie zusammen. Und sie nehmen eine gemeinsame Entscheidung, dass sie getötet wird."

    Tatmotiv ist dabei immer die verletzte Familienehre. Diese traditionellen Ehrvorstellungen haben viele Migranten in ihren Köpfen mit nach Deutschland gebracht und sie halten offenbar auch nach Jahrzehnten unverändert daran fest. In ihrem Buch "Hennamond" beschreibt die kurdische Autorin Fatma Bläser die ostanatolische Ehrerziehung, die sie als Migrantentochter mitten in Deutschland erlebte.

    "Also, die Ehre zu bewahren, bedeutet bei uns, bei den Moslems, bei den Kurden, bei den Türken, es ist egal was, bedeutet es, du sollst versuchen, dass deine Eltern niemals mit gebücktem Kopf oder Gesicht durch die Gesellschaft geht. Das bedeutet als Jungfrau in die Ehe zu gehen, das bedeutet, vor der Ehe niemals mit einen anderen Mann so in Kontakt zu kommen, wo man meint, da spielen diese sexuellen Gedanken eine Rolle. Die Ehre bedeutet dann, mit einen anderen Mann zu reden, in dem die Gesichtszüge sehr hart sind und nicht in einem Lächeln, in einer Freundlichkeit. Die Ehre bedeutet, so sich zu bewegen, dass man nicht meint deine Körperhaltung und Bewegung und so was als eben als sexuellen Lockruf zu deuten."

    Ein Dekolleté ist da meist schon zu viel.

    "Es wird nicht immer als Normalität gesehen, sondern es wird gesehen, ja, guck dir die mal an, wie sieht sie denn aus, schämt sie sich nicht? Ihre arme Familie tut mir leid, sie muss sich ja für sie schämen. Also, das ist schon Ehre, das ist schon Ehrenbeschmutzung. Und das ist natürlich für eine Frau sehr, sehr schwierig unter diesen Ehrenkodex zu leben."

    Fatma wurde in dieser Art erzogen. Typisch dabei, wenn aus einem Mädchen eine junge Frau wird: Die Brüder sind dann die Aufpasser ihrer Schwestern.

    "Nachdem ich dann in den Alter kam, wo ich dann halt für die Männer interessiert wurde – oder in dem Heiratsalter – dann hat man natürlich noch mehr auf mich aufgepasst. Und jede Bewegung wurde beobachtet. Nicht nur von meiner eigenen Familie, sondern von der türkischen Gesellschaft, eigentlich mit denen ich gar nichts zu tun habe. Es wurde beobachtet, wie ich mich zu geben habe, damit die Leute, wenn sie ja um meine Hand halten, wussten – das ist eine, die ist noch sauber, sie lebt nach türkischen und kurdischen Traditionen. Und dadurch war natürlich mir dann auch nicht erlaubt, eben mal einfach so frei, in die Stadt zu gehen. Einen Kaffee zu trinken. Oder mal, einfach mal in ein Musikladen zu gehen, und zu sagen, ach, ich würde mir mal gerne mal ein, zwei Kassetten angucken und mir meine Lieblingsmusik zu kaufen."

    Woher kommt dieses Ehrkonzept? Dazu noch einmal Pinar Ilkkarakan von "Women for Women´s Human Rights".

    "Eigentlich dieses Konzept der Ehre ist ein mediteranisches Konzept. Es hat mit Islam nichts zu tun. Also, z.B. in der muslimischen Gesellschaft in Südostasien es gibt keine Ehrenmorde."

    Das gab es in Italien. Sizilien war bekannt dafür. In Griechenland wurden Menschen im Namen der Ehre umgebracht, und auch in Portugal. Und die Portugiesen haben das Ehrkonzept nach Brasilien gebracht, wo es bis heute Tote fordert. Und nicht zuletzt gibt es auch deutsche Männer, die glauben, ihre Ehefrau ermorden zu müssen, wenn die sie verlassen. Das wird dann nicht mehr mit Ehre begründet, nur noch mit Affekt. Aber was steckt dahinter? Wo kommt es her, ein solches Besitzdenken? Pinar Ilkkarakan.

    "Die mediteranische Länder die sind dann halt, die waren Argrarländer. Wenn ein Großlandstück von einer Gruppe, einer Community besetzt wird, dann ist es ungeheuer wichtig, dass die Frau innerhalb der Familie bleibt, ja. Also, sie hat, sozusagen die Gebärfähigkeit der Frau hat einen wirtschaftlichen Wert, ja. Und sie wollen nicht, dass sie dann halt mit jemand anderes von einer anderen Community heiratet. Das ist dann halt ein wichtiger Grund gewesen, dass die sexuelle Autonomie der Frau muss kontrolliert werden in solchen Gesellschaften, und da gab es auch Gesetze früher in mediteranischen Ländern, die, wo die Strafen für Ehrenmorde niedriger gesetzt wurden, weil es als eine Provokation genommen wurde. Aber in diesen Ländern durch die wirtschaftliche Entwicklung, durch die soziale Entwicklung, sehen wir keine Ehrenmorde mehr. Und es gibt nicht mehr solche Gesetze."

    Auch in der Türkei hat es im Zuge der Vorbereitung auf den EU-Beitritt Reformen gegeben. An der Realisierung hat Pinar Illkaracan zusammen mit mehr als 120 türkischen Frauenorganisationen mitgewirkt. Seit 2001 sind Mann und Frau vor dem Gesetz nun gleichgestellt. Seit 2004 gilt Gewalt gegen Frauen als Straftatbestand, gibt es für Ehrenmorde nicht mehr wie früher mildernde Umstände. Doch bis diese gesetzlichen Veränderungen allgemeiner gesellschaftlicher Konsens und vom Mutterland auch bei den Emigranten weltweit angekommen sind, braucht es Zeit.

    "Ehrenmorde zeigen eine Philosophie, dass die Sexualität der Frau nicht zu sich gehört sondern zu ihrer Familie oder zu der Gesellschaft. Es ist genau die Mentalität, die wir abschaffen sollen. Und auch wenn es kein Mord gibt, also wenn, wie der Vater die Tochter schlägt, weil er nicht will, dass sie einen Freund hat. Also alle gucken auf die Ehrenmorde, aber ich glaube, es ist viel wichtiger, das zu sehen und dafür zu kämpfen, dass eigentlich die Frauen die sexuelle Autonomie kriegen."

    Landgericht Kassel im Ausnahmezustand. Nie da gewesene Sicherheitsvorkehrungen. Schwerbewaffnete Polizisten mit kugelsicheren Westen bewachen das Gebäude, zivile Kriminalbeamte liegen auf der Lauer. Sprengstoffspürhunde sind im Einsatz. Verhandelt wird ein Mordfall in einer kurdischen Familie. Das Gericht hält Ehrenmord für möglich, befürchtet Blutrache. Gerichtssprecher Frank Wamser:

    "Und um hier noch weitere Eskalationen und schlimme Taten zu vermeiden, soll hier die polizeiliche Präsenz einfach potentielle Angreifer abschrecken."

    Die Tat geschah im Mai 2004. Die 21jährige Saniye hatte den für sie bestimmten Ehemann abgelehnt, war mit dem Mann ihrer Wahl geflohen, erwartete ein Kind von ihm. Ihr Bruder und zwei ihrer Cousins sollen das Paar überfallen haben. Der werdende Vater wird mit 10 Schüssen getötet. Die Hochschwangere überlebt, bringt kurz danach ihr Kind zur Welt.

    "Im Rahmen dieser Beurteilung, ob die Beweggründe, wegen derer die Tötung erfolgte, niedrig waren, fließt dann auch mit ein, inwieweit die Angeklagten möglicherweise von Vorstellungen von fremden Kulturen geprägt waren, inwieweit sie aber auch die Möglichkeit hatten, sich mit deutschen Wertvorstellungen vertraut zu machen und gemäß diesen deutschen Wertvorstellungen zu leben."

    Für deutsche Gerichte ist die "Ehre" als Tatmotiv noch relativ neu. Es gab aber schon richterliche Urteile, die dabei den kulturellen Hintergrund mildernd berücksichtigten. Doch damit dürfte es spätestens seit der türkischen Strafrechtsreform vorbei sein. Und im Fall von Saniye und ihrem Partner könnte die kurdische Familie diese Gründe sowieso nicht anführen. Sie lebt seit 17 Jahren in Deutschland.

    Ob es sich in diesem Fall tatsächlich um eine von der Familie beschlossene Bluttat handelt, untersucht das Gericht seit Dezember 2004. Die Beweislage ist erdrückend. Die drei Angeklagten sind 16, 19 und 25 Jahre alt und scheinbar wollten sie die Tat dem Jüngsten in die Schuhe schieben. Das ist typisch für Ehrenmorde: Fast immer beauftragen Familien ihre jüngsten männlichen Angehörigen, denn die bekommen dann mildere Jugendstrafen.

    Da Saniye als einzige Zeugin und Überlebende der Tat unter Umständen vor Gericht gegen ihre Familienangehörigen aussagen müsste, hat man ihr einen Opferbeistand gestellt. Rechtsanwältin Regina Kalthegener betreut mehrere solcher Frauen. Wegen des laufenden Verfahrens kann sie über Saniye persönlich allerdings keine Aussagen machen, nur allgemein über die Probleme solcher Frauen sprechen.

    "In Gesprächen habe ich immer wieder den Eindruck, dass Opfer sich schuldig fühlen, obwohl sie vom Verstand her wissen, dass sie eigentlich keine Schuld haben. Aber vom Gefühl her sich schuldig fühlen, für das Dilemma in das sie jetzt, wie sie denken, ihre Familien gebracht haben. Also, es ist sehr schwer, den Frauen klar zu machen, dass sie eigentlich nichts weiter getan haben, als dass sie ihr Leben selbst entscheiden wollten und selbst zum Beispiel die Person heiraten wollten, die sie ausgesucht haben."

    Das Gericht hat Saniye ins Zeugenschutzprogramm genommen. Es hält sie für besonders gefährdet, denn die Ehre einer Familie gilt erst mit dem Tod der Sünderin als wiederhergestellt. Saniye lebt daher mit ihrem Kind an einem geheimen Ort unter Polizeischutz. Und Opferbeistand Regina Kalthegener weiß: die Frauen sind auch nach den Prozessen weiterhin sehr gefährdet.

    "Also, aus dem, was ich bisher weiß, aus Gesprächen mit verschiedenen jungen Frauen, habe ich den Eindruck, dass sie vollständig ihr Leben neu organisieren müssen – unter neuem Namen. Ich bin nicht überzeugt, dass das möglich ist, dass sie zurück in die Familie gehen können, denn das Problem ist einfach – diese familiären Angelegenheiten sind nicht einfach durch ein Urteil oder durch eine Entscheidung von einer Verwaltungsbehörde entschieden, sondern das geht in den Köpfen weiter und in den Familien weiter."

    Saniye wird dafür von staatlicher Seite die nötige Unterstützung erhalten:

    "Der Staat hat hier vielfältige Möglichkeiten, Zeugen vor Angriffen auf ihr Leben zu schützen. Das geht im Extremfall so weit, dass Personen eine neue Identität gegeben werden kann – inklusive neuer Ausweispapieren, einer neuen Legende sozusagen."

    Doch was ist das für ein Leben, in dauernder Angst versteckt und völlig allein ohne Familie? Und das für eine Kurdin, die im Geist erzogen ist, dass die Familie und die Gemeinschaft alles für sie ist.

    Gerade dieser Gemeinschaftsgeist aber sei es, der junge, hier in Deutschland aufgewachsene Türken dazu bringt, sich von der Elterngeneration als Rächer von Ehrverstößen gewinnen zu lassen. So jedenfalls erklärt es Necla Kelek. Die in Istanbul geborene Soziologin untersucht seit 15 Jahren islamisches Alltagsleben in Deutschland. Mit ihrem gerade erschienenen Buch "Die fremde Braut" erregt sie derzeit die Gemüter.

    "Die Kindererziehung funktioniert so, dass das Kind erst mal in ein Kollektiv reingeboren wird, also ein, permanentes Daseinsschuld für die Eltern hat. Also, die Eltern sagen, wir haben dir das Leben geschenkt und du schuldest dir dafür dein Leben. Und deshalb kann man über dieses Leben auch so hart bestimmen oder so selbstverständlich bestimmen."

    Necla Kelek fordert ihre Landsleute auf, radikal umzudenken. Integration und Teilhabe an der deutschen Gesellschaft könnten nur auf der Basis demokratischer Grundregeln funktionieren.

    "Das Selbstbestimmungsrecht, auf die wir hier so stolz sind in dieser Gesellschaft, dass Kinder so erzogen werden, dass sie ihr eigenes Leben irgendwann leben dürfen – heiraten wollen oder nicht heiraten wollen, Beruf ausüben wollen, vielleicht in einer anderen Stadt für sich selbst leben wollen – dieses Recht gilt für viele, viele türkische Mädchen und auch für den Jungen nicht. Und das klage ich an. Das muss aufhören, wenn wir demokratiefähig in dieser Gesellschaft uns beteiligen wollen. Und wenn wir auch diese Gesellschaft mitgestalten wollen."