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"Bis heute Alpträume"

Am 10. Jahrestag des Massakers von Srebrenica – dem schlimmsten Kriegsverbrechen seit dem 2. Weltkrieg – wird auch in den Niederlanden der Opfer gedacht. Denn die UNO-Schutzzone, die damals von den Truppen der bosnischen Serben eingenommen wurde, stand unter niederländischem Blauhelm-Kommando. Ihr Oberbefehlshaber Thom Karremans sah sich später dem Vorwurf ausgesetzt, die bosnischen Muslime an die Serben ausgeliefert zu haben. Kerstin Schweighöfer berichtet.

    Ein niederländisches Gericht in Den Haag Ende Juni: Thom Karremans, der ehemalige Kommandant der niederländischen Blauhelme in Srebrenica, erscheint zu einer Anhörung. Sie findet im Vorfeld eines zivilrechtlichen Verfahrens statt, in dem zwei Familien aus Srebrenica den niederländischen Staat auf Schadenersatz verklagen wollen. Karremans ist inzwischen pensioniert und lebt in Spanien. In den Niederlanden kann der 57-Jährige nicht mehr über die Straße gehen, ohne auf den Völkermord in Srebrenica angesprochen zu werden. Karremans wollte den Vertretern der beiden bosnischen Familien die Hand geben. Doch die weigerten sich:

    Karremans und seine Soldaten hätten seinen Vater, seine Mutter und seinen kleinen Bruder vor zehn Jahren wissentlich in den Tod geschickt, erklärt der 37 Jahre alte Hasan Nuhanovic. Vor seinen Augen! Wie könnte er denen die Hand geben?

    Hasan war Dolmetscher für Dutchbat, wie sich die niederländischen Blauhelme nennen. Er durfte nach dem Fall der Moslemenclave auf der Basis in Potocari bleiben – seine Familie wurde weggeschickt. Sonst würden Tausende anderer Flüchtlinge auch bleiben wollen, hieß es. Außerdem könne man sowieso nur mit einem UN-Ausweis bleiben, und den könne man für die Nuhanovics unmöglich nachmachen.

    Doch erstens seien Hasans Eltern und sein Bruder die allerletzten gewesen, die man weggeschickt habe, betont Hasans Anwältin Liesbeth Zegveld. Zweitens habe Dutchbat ein paar Monate zuvor für englische Soldaten problemlos ein paar UN-Ausweise nachgemacht. Die niederländischen Blauhelme hätten nichts getan, um auch nur ein Menschenleben zu retten, Kommandant Karremans habe enorm versagt.

    Die Amsterdamer Anwältin vertritt in einem anderen Verfahren auch die Frauen von Srebrenica in einer Schadenersatzforderung. Eine Summe will sie in keinem der beiden Fälle nennen. Aber um kleine Beträge, so findet auch Hasan, könne es angesichts dieses Verbrechens nicht gehen. Die Niederländer seien mitverantwortlich für diesen Völkermord – und sollten das nach zehn Jahren endlich zugeben.

    Statt dessen waren die letzten zehn Jahre für die Niederländer eine Dekade des Abstreitens und Leugnens. Zwar gab es eine Reihe von Untersuchungen. Eine führte im Mai 2002 zum Rücktritt des Kabinetts. Doch das brachte dem damaligen Ministerpräsidenten Wim Kok den Vorwurf der Fahnenflucht ein: Damit habe er dem geplanten parlamentarischen Untersuchungsausschuss den Wind aus den Segeln genommen. Denn zur Rechenschaft gezogen wurde niemand, Kommandant Karremans wurde sogar befördert. Dutchbat habe Schlimmeres verhindern können, lautete der offizielle Standpunkt, und zumindest 25.000 Frauen und Kindern das Leben retten können.

    Dabei hätten die wahrscheinlich auch ohne Dutchbat überlebt, sagt der Amsterdamer Universitätsprofessor Mient Jan Faber. Er gehört zur wachsenden Zahl von Niederländern, die sich anlässlich des 10. Jahrestages kritisch mit dem Selbstbild ihrer Nation auseinandersetzen.

    Im Scheinheiligsein verdienten die Niederländer eine Eins, sagt Faber. Er erinnert an den Kolonialkrieg in Indonesien, der noch heute beschönigend Polizeiaktion genannt wird. Oder an den Zweiten Weltkrieg, als niederländische Behörden für einen reibungslosen Abtransport der Juden sorgten. Doch das wurde Jahrzehnte unter den Teppich gekehrt. Auch was Srebrenica betreffe, seien mindestens zehn weitere Jahre nötig, bis die Niederländer endlich in den Spiegel sehen würden:

    Von den 400 Dutchbat-Soldaten leiden überdurchschnittlich viele noch heute unter einem posttraumatischen Stresssyndrom, haben Drogen- oder Alkoholprobleme. Viele Ehen sind zerbrochen. Rund 170 Blauhelm-Soldaten haben sich ihre Erfahrungen jetzt in einem Buch von der Seele geschrieben. Den meisten machen noch heute Gefühle von Schuld und Ohnmacht zu schaffen. So auch dem damals 19 Jahre alten Patrick Cremers: In Potocari hatte er mit dem Moslemjungen Mirza Freundschaft geschlossen, der ebenfalls abtransportiert wurde: "Ich werde den Blick in Mirzas Augen nie vergessen", schreibt Patrick. "'Hilf mir doch', sagten sie, 'so hilf mir doch!’ Das lässt dich nicht mehr los, das bereitet mir noch heute Albträume."