Donnerstag, 25. April 2024

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Bismarck

Während des Berliner Kongresses, der im Jahre 1878 die Staatsmänner der großen Mächte Europas zur Befriedung einer schweren Balkankrise zusammenführte, war der die Verhandlungen leitende deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck in ausgesprochen schlechter Verfassung:

Gustav Seibt | 26.07.1998
    "Ich schlief selten vor sechs, oft auch erst um acht Uhr morgens einige Stunden, war dann bis zwölf für niemanden zu sprechen, und in welcher Verfassung ich dann für die Sitzungen war, können Sie sich denken. Mein Gehirn war eine gallertartige, unzusammenhängende Masse. Ehe ich in den Kongreß ging, trank ich zwei bis drei Biergläser allerstärksten Portweines, um das Blut ordentlich in Wallung zu bringen - ich wäre sonst ganz unfähig gewesen zu präsidieren."

    Wenig später, am 30. März 1880, glaubte Bismarck, einen Schlaganfall erlitten zu haben. Otto Pflanze, der die ausführlichste Gesamtdarstellung von Bismarcks Zeit als Reichskanzler vorgelegt hat, die je geschrieben wurde, erzählt den bizarren Vorgang:

    "Beim Diner an diesem Abend verzehrte er ‘sechs harte Eier mit Butter’, genoß ‘unendliche Massen von Waldmeister-Bowlen-Eis’ und eine Flasche Portwein, wonach er mit gerötetem Gesicht über Übelkeit klagte. Er verließ den Raum, offenbar um sich zu übergeben, und kehrte blaß und lallend ‘wie ein Betrunkener zurück’. Seine Wangenmuskeln und sein Hinterkopf fühlten sich an wie gelähmt. Nach einer schlaflosen Nacht mit häufigem Erbrechen war die Sprechfähigkeit des Fürsten noch immer gestört. Struck diagnostizierte das Leiden als Mageninfluenza, die zeitweilig die Gesichtsmuskeln in Mitleidenschaft ziehe. Doch Bismarck, ‘widerborstiger wie je’, verhöhnte den Arzt, schlug seinen Rat in den Wind, verzehrte eine schwere Mahlzeit von Hühnersuppe, Fleisch und Gemüse und ging danach im Regen spazieren. Bismarck ließ sich auch von zwei anderen beigezogenen Ärzten nicht von der Auffassung abbringen, er habe einen Schlaganfall erlitten, und schuld seien die Beschwernisse des Staatsdienstes. Erst der feste Zuspruch einer weiteren medizinischen Autorität brachte ihn von seiner Selbstdiagnose ab. ‘Ob ich jetzt oder in fünf Jahren sterbe, ist eigentlich ganz gleich’, stammelte er, als er einen neuen Anfall erlitt. ‘Für Sie ja’, sagte darauf einer seiner Gäste, ‘aber nicht für uns und das Vaterland.’ Darauf Bismarck: ‘Wer weiß, vielleicht wäre es besser.’"

    Die Schlaganfall-Episode von 1880 enthüllt mehrere Charakterzüge Bismarcks: Hemmungslosigkeit, Maßlosigkeit, Hypchondrie bis zur Weinerlichkeit und ein ausgesprochen plastisches Verhältnis zur Wirklichkeit, die den eigenen Affekten und Absichten nach Möglichkeit angepaßt werden soll. Nicht sechs harte Eier mit Butter und viel, viel Portwein sowie Unmengen von Eisbowle verursachen die Übelkeit, nein, es sind die Beschwernisse des Staatsdienstes, worunter man den Widerstand und Widerspruch politischer Gegner auf der innenpolitischen Bühne zu verstehen hat.

    Daß Bismarck, der bei fast zwei Meter Körpergröße eine hohe Stimme hatte und zu Weinkrämpfen neigte, ein ‘hysterischer Koloß’ war, wissen wir seit Thomas Mann. Wie diese physisch-psychische Konstitution mit seiner politischen Begabung zusammenhing und was sie für sein Handeln bedeutete, das können wir dank Otto Pflanzes zweibändiger Biographie erheblich deutlicher erkennen als bisher.

    Pflanzes Werk, in der deutschen Ausgabe etwa 1500 zu lesende Seiten stark - Anmerkungen und Register nicht mitgerechnet -, entstand von 1963 bis 1990. Otto Pflanze ist ein amerikanischer Historiker, der deutsche Vorfahren hat und bei dem deutschen Emigranten Hajo Holborn studierte. Seine ursprünglich dreibändige Darstellung war zunächst für ein amerikanisches Publikum gedacht, das nicht allzuviel von der deutschen Geschichte weiß. Sie beginnt weniger als Biographie denn als Epochendarstellung, und man darf Lesern, die auf Zeitersparnis bedacht sind, den Rat geben, die ersten 200 Seiten, die Bismarcks Frühzeit in Rahmen der preußisch-deutschen Entwicklung bis zu seiner Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten behandeln, zu überspringen. Pflanze ist weder in Psychologie noch in der knappen Charakteristik einer historischen Formation sehr begnadet, denn er ist kein Physiognom, weder auf dem einen noch auf dem anderen Gebiet. "Der Strom der Zeit" heißt das erste Kapitel. Nur fließt er nicht, der Pflanzesche Strom, sondern ist hastig auf ein paar Pappwände gepinselt. Die bestimmenden Mächte der Zeit sind blasse allegorische Nixen in diesem Epochenstrom; sie heißen zum Beispiel "realistischer Konservativismus" oder "gemäßigter Liberalismus" und treiben ihr Wesen in der preußischen Politik der nachrevolutionären Epoche. Später wird Bismarck sich mit diesen und anderen Modenixen der Moderne einlassen, und dann gewinnen sie lebhaftere Farbe. Auch Bismarck als Person gewinnt zu Beginn wenig Kontur - wer den zurecht berühmten Brautwerbebrief an den Vater seiner Frau liest, weiß auf Anhieb mehr. Erst spät schiebt Pflanze ein zusammenfassendes Kapitel zu Bismarcks Charakter nach; es ist aufschlußreich weniger durch Pflanzes Theorien als durch seine vielen Zitate und Anekdoten.

    Bismarcks Politik seit seinem Machtantritt im Verfassungskonflikt von 1862 in ihrem Voranschreiten von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat, ja gelegentlich von Tag zu Tag, ist Pflanzes eigentlicher Gegenstand. Da ist er erheblich detaillierter als die beiden großen wissenschaftlichen Bismarck-Biographien der achtziger Jahre, zu denen er in Konkurrenz tritt, dem Band von Lothar Gall und der zweibändigen Darstellung von Ernst Engelberg. Der Zeit nach 1871 widmet er viermal so viel Raum wie Gall, und Engelberg übertrifft er um etwa das Doppelte.

    Da sind keine Äußerlichkeiten, schon deshalb nicht, weil Pflanze für die Reichskanzlerzeit bisher ungenutztes Material aus den für diese Zeit bereits kaum zu erschöpfenden Archivbeständen verwenden konnte. Entscheidend ist vor allem: Der Eindruck der Notwendigkeit geschichtlicher Abläufe verliert sich um so mehr, je mehr die Erzählung ins Einzelne geht.

    Lothar Galls Biographie, das intellektuell glanzvollste Bismarck-Buch der jüngeren Zeit, zeigte ihn als Handelnden in einer von ihm selbst ausgelösten Kette von historischen Sachzwängen. Den preußischen Verfassungskonflikt konnte Bismarck nur durch einen äußeren Konflikt entschärfen - den Krieg mit Dänemark im Jahre 1864. Dabei mußte das reaktionäre Preußen sich mit der liberalen Nationalbewegung verbünden. Die Dynamik der nationalen Frage führte erst in den Krieg mit Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland, dann in den französischen Krieg, der der europäischen Durchsetzung der kleindeutschen Lösung diente. Immer trieb, so stellt Gall es dar, eine "unfertige Situation" Bismarck zu weiteren Schritten voran, die wieder in auf Dauer nicht haltbare Konstellationen führten - und so fort. Gall zeigt Bismarck als einen Politiker, der die elementaren Kräfte seiner Epoche entfesselt, diese aber gerade noch meistert, als "Reiter auf der Welle". Am Ende kanalisiert er die Welle, um von ihr nicht verschlungen zu werden - sie wird zur Energiequelle des von historischen Elementarkräften betriebenen Bismarckschen Geschichtskraftwerks. Es sind die Kräfte der Epoche selbst, das liberale Bürgertum, die Nationalidee, aber auch die fortbestehenden alten Mächte von Monarchie und Standesherrschaft, die Bismarck auf seiner Bahn vorantreiben. Der Druck kommt aus der Wirklichkeit der sich in ihren Tiefen verändernden Epoche, und Bismarck gleicht ihn aus.

    Auch Ernst Engelbergs breite Lebenserzählung zeigt Bismarck als überlegenen Vollstrecker historischer Notwendigkeiten. Hier ist Bismarck weniger der Getriebene, sondern selbst der Antreibende, antreibend allerdings aus Erkenntnis. Bismarck realisiert, was an der Zeit war, den Nationalstaat, er torpediert aber anderes, was auch an der Zeit gewesen wäre, nämlich den bürgerlichen Verfassunggstaat. Immer bleibt er bei Engelberg Herr des Verfahrens.

    Vor allem Lothar Galls Darstellungsmethode macht das verwickelte, vielgliedrige Einzelgeschehen immer wieder durchsichtig auf die einfachen Grundlinien der Epoche. Selbst die Entlassungskrise des Jahres 1890, die in den äußeren Formen einer Hofkabale zwischen dem jungen Kaiser Wilhelm II., dessen Beratern und Einflüsterern auf der einen Seite und dem Kanzler und seinem Sohn auf der anderen ablief, betrachtet Gall in dieser Weise. Er schreibt:

    "Nicht was Bismarck zu tun bereit, sondern was für ihn zu tun tatsächlich möglich war, ist das Entscheidende. Von hier aus werden die Auseinandersetzung und ihr Verlauf zum Spiegelbild der real gegebenen Verhältnisse, der Kräfteverteilung, der verschiedenen Koalitions- und Frontbildungen und nicht zuletzt der Einschätzungen und Zukunftserwartungen in den verschiedenen Gruppen und Lagern. Von hier aus gewinnt der persönliche Machtkonflikt seinen überpersönlichen Stellenwert und seine überpersönliche Bedeutung. Nur wenn man sich die Sicht des jungen Kaisers und auch die des Kanzlers in ihrer personenbezogenen Einseitigkeit nicht zu eigen macht, wenn man sich vor Augen führt, daß der Konflikt als Kristallisationskern für viel tiefer reichende Gegensätze und Kräfte wirkte, wird man der Dimension des ganzen zurecht."

    Dieses von Gall entwickelte Programm läßt sich aber letztendlich nur umsetzen, wenn man fragt, in welcher Gestalt, in welchen Wahrnehmungen, Informationen, Interessen und Hoffnungen die überpersönlichen Mächte und Kräfte den Handelnden präsent waren. Man muß die bedingenden und von den Staatsmännern zu gestaltenden objektiven Tendenzen der Zeit in ihren subjektiven Formen aufsuchen. Und dabei spielen dann charakterliche und psychologische Faktoren ihre große, rational oft nicht zu verrechnende Rolle. Je mehr man sich diesen subjektiven Brechungen annähert, und das bedeutet: je ausführlicher, mikroskopischer die Darstellung wird, desto weniger zwingend und notwendig erscheinen die historischen Abläufe - nicht im Großen und Ganzen, aber doch in ihrer konkreten, ereignishaften Gestalt. So ist es bei Pflanze, und das macht sowohl den Reiz wie die Schwierigkeit seiner Darstellung aus.

    Pflanze, der kein Psychologe ist, psychologisiert die Bismarcksche Politik schon dadurch, daß er sie in der Gestalt vorführt, in der sie Bismarck selbst erschien. Man könnte sogar sagen, daß Pflanze Bismarcks Handeln somatisiert, sie ins Körperliche übersetzt, denn er führt, zumal im zweiten Teil, genauestens Buch über die parallel zur Politik verlaufenden Schwankungen von Bismarcks Gesundheit, seinem subjektiven Empfinden, bis hin zu Eßgewohnheiten, Tagesrhythmen, Kuraufenthalten, Urlauben, Entfernungen von seiner Berliner Amtszentrale. Minutiös verbucht Pflanze beispielsweise, daß Bismarck, der nach 1871 jährlich viele Monate auf seinen Gütern verbrachte und von dort aus seine Amtgeschäfte führte, zwischen Mai 1875 und November 1878 von 1275 Tagen genau 772 - also deutlich mehr als die Hälfte - fern von Berlin verbrachte. In derselben Zeit bemühte sich Bismarck unter großen Schwierigkeiten, Politik und Verfassung des Reiches auf eine neue Grundlage zu stellen, von der nationalliberalen auf die konservative Seite zu wechseln. Seine schlechte Verfassung in der Zeit des Berliner Kongresses, der einer seiner großen außenpolitischen Triumphe wurde, hat mit diesen inneren Schwierigkeiten unmittelbar zu tun.

    Bismarck reagierte, das macht Pflanzes Erzählung überaus plastisch sichtbar, auf Widerstände, vor allem auf innere Opposition, auf Gegenwirkungen am Hof, parlamentarischen Widerspruch neuralgisch im wörtlichen Sinne. Er wurde krank davon. Seine Leiden entsprangen oft einer maßlosen Lebensführung, seiner Völlerei, seinem nach heutigen Begriffen exzessiven Alkoholgenuß; diese Ausschweifungen waren aber wiederum Reaktionen auf politische Niederlagen und Widerstände. Bismarck litt unter wochenlangen nervösen Gesichtsschmerzen; er war über Jahre schlaflos und fand Ruhe nur mit Schmerz- und Schlafmitteln, vor allem Morphium. Er war ein hemmungsloser Hasser, rachsüchtig bis zur Selbstverletzung, nämlich imstande, ganze Nächte wach zu liegen und sich dabei alle jemals erlittenen Kränkungen noch einmal vor Augen zu führen. Kurz, er war ein Mensch von überspannter, reizbarster Einbildungskraft, einer ebenso nachtragenden wie den Ereignissen vorauseilenden Vorstellungsgabe. Er war alarmistisch bis zum Verfolgungswahn und von extrem scharfem analytischem Verstand.

    Bismarcks politische Virtuosität hatte viel zu tun mit seiner enormen Phantasiebegabung. Er vermochte es mit genialer Intuition, die Standpunkte, die Absichten und die Horizonte seiner Mitspieler zu erfassen und zu benutzen. Auch Otto Pflanze zeigt Bismarck als jenen Spieler mit vielen Bällen, als den er sich selber beschrieb. Seine Einsätze waren oft die höchsten, immer hatten sie mit Drohung zu tun. Er drohte einer Macht mit der anderen: den Parlamentsliberalen mit dem königlichem Zorn, dem König mit dem Aufstand der Liberalen, den Österreichern mit den Italienern, den Italienern mit den Franzosen und dem Papst, den Russen mit England. Und er hat in diesem Geschicklichkeitsspiel um Krieg und Frieden, um die Monarchie und die Verfassung, immer auch seine Existenz in die Luft geworfen. Er erzeugte oft künstliche Notlagen, deren Lösung nur ihm zugetraut werden konnte, und dann drohte er mit Rücktritt. Nach 1871 erwog er mehrmals den Staatsstreich, die Auflösung des Deutschen Reiches in seine Bundesstaaten und eine anschließende autoritär-korporative Neugründung.

    Pflanzes Darstellung ist minutiös, aber fast völlig begriffslos. Zuweilen kann man die Übersicht verlieren im dem filigranen Gewirr von Handlungsfäden, Motiven, Täuschungen, Drohungen und Optionen, das Pflanze entwickelt. Gleichwohl ist die Ausbreitung dieses Gewirrs eine gewaltige Leistung der Forschung und der Imagination. Vor allem die Rekonstruktion der Schleswig-Holstein-Krise von 1864 und der internationalen Krise, die 1887 zum Abschluß des Dreibundes führte, sind Meisterwerke diplomatischer Einfühlungskraft. Pflanze kann zeigen, wie Bismarck in jedem Augenblick mehrere Absichten gleichzeitig verfolgt, immer einen Ausweg, eine weitere Option hat, und am Ende alle widerstrebenden Mächte zu seinen Gunsten zusammenzwingt. Es entsteht der Eindruck von furchterregender, geradezu dämonischer Schläue. Diese Schläue aber ist nur die andere Seite von Bismarcks Reizbarkeit, seiner nervösen Phantasie. Daß Bismarck auch ein literarisches Genie war, weiß jeder, der seine Brautbriefe und seine Memoiren kennt; am Ende seines Lebens beklagte er selbst das Verkümmern seiner musischen Gaben. Es sei wie mit den Fischen in einem Teich, sagte Bismarck:

    "Die Politik ist wie eine große Forelle, welche die kleine Forelle auffrißt. Denn die Forelle gehört zu den Raubfischen, wie sie wissen - so hat die Politik jedes andere Steckenpferd, das ich jemals gehabt habe, verschlungen."

    Schon wer ein solches Bild finden kann, beweist eine Hintergründigkeit, die über reine Politik hinausweist. Aber es war wohl nicht zuletzt diese Hintergründigkeit, die Bismarck zu einem so kühnen und überlegenen Politiker machte. Hans-Ulrich Wehler hat in seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" für Bismarck den Begriff des "charismatischen Herrschers" gefunden, dessen Autorität auf seinen Erfolgen, auf die immer wieder erfolgreiche Bewältigung einer dauerhaft auf Dauer gestellten Krise beruhte. Pflanze zeichnet im Einklang mit Wehlers etwas schematischem Begriff durchaus eine grandiose Hasardeursnatur, einen politischen Dauerputschisten, der einen keineswegs notwendigen historischen Vorgang auf die höchste Geschwindigkeit bringt. Bei ihm verteilt Bismarck selbst den Treibstoff der Geschichte, eben in seiner Politik der wechselseitigen Drohungen, seinem Spiel mit fünf Bällen, die gleichzeitig durch die Luft fliegen.

    In diesem Spiel formt Bismarck das monströse Deutsche Reich, teils Großpreußen, teils dynastischer Staatenbund, teils Nationalstaat - ohne Demokratie -, liberal in der Gesellschaft, politisch reaktionär, ein windschiefes Riesenwerk, das beim nächsten Erdstoß einstürzen muß. Aber wozu dient es? Laut Pflanze geht es vor allem um die Rettung der preußischen Monarchie vor der modernen Welt. Preußen war ein so künstliches Gebilde, es widersprach so sehr dem, was die Zeit nahelegte, daß es nur durch neue Künstlichkeit über die Zeit zu bringen war. So trennte Bismarck, was zusammengehörte, nämlich Nationalstaat und Demokratie. Er verbündete die Nation mit der Sache der Hohenzollernmonarchie und ihres agrarischen Offiziersadels und hielt die Demokratie hintan.

    Dabei transplantierte Bismarck den selbstmöderischen Geist des friderizianischen Staates auf das kleindeutsche Reich. Friedrich der Große hatte Preußen wider alle Natur und gegen den Willen halb Europas in einem beispiellosen Gewaltakt zur Großmacht erhoben, dabei immer von Katastrophe und endgültiger Auslöschung bedroht, gerettet nur vom Mirakel des Hauses Brandenburg. Friedrichs Selbstmördernatur kehrt wieder in Bismarcks unentwegtem Drohen mit dem Rücktritt, seinen Staatstreichplänen, der beständigen Infragestellung der Grundlagen des von ihm selbst geschaffenen Gebildes. Am Ende hat Adolf Hitler diesen suizidalen Charakter der preußisch-deutschen Politik geerbt und bis ins Absurde übersteigert. Das Selbstmörderische war dem zweiten Kaiserreich gleichsam genetisch eingepflanzt, weil es in einer Serie von Tricks und Überraschungscoups entstand, als Werk reiner Staatskunst, ohne Sittlichkeit, ohnen Prinzipien, ohne Staatsidee, mit dem vorrangigen Zweck, einer Monarchie und ihrer herrschenden Kaste das Überleben in der industriellen Zeit zu sichern.

    1875 war Bismarck mit seinen Nerven so an Ende, daß er für einmal in vollem Ernst erwog zurückzutreten. Der greise Kaiser Wilhelm I. schlug es ihm ab, so wie er es immer getan hatte. An den Großherzog von Weimar schrieb er:

    "Wie lange Bismarck selbst diese Existenz ertragen wird, weiß ich nicht, aber überzeugt bin ich, daß er bestärkt in seine Stellungen zurückkehren wird. Er selbst weiß und fühlt es, daß er lebend unersetzlich wird und nach ihm die Stellung wohl besetzt, aber nie ersetzt werden wird!"

    Das war der Konstruktionsfehler des Bismarckschen Staates. Pflanze zeigt das Wirken von Bismarcks Schläue auch in seiner Innenpolitik. Dabei wird deutlich, daß der Kanzler, gerade weil er außerhalb der großen zukunftsträchtigen Strömungen seiner Zeit stand, diese mit vollendeter Kühle wie äußere Mächte behandeln konnte und behandelte, fast wie fremde Staaten. Bismarcks halbparlamentarisches Regime suchte nicht den Konsens und immer nur wechselnde Mehrheiten. Es ging ihm um okkasionelles Durchsetzen seiner Absichten. So aber läßt sich auf Dauer keine gesellschaftlich-politische Ordnung begründen, denn diese braucht mehr als den äußerlichen, kasuistischen Ausgleich von Kräften; sie braucht darüberhinaus Übereinstimmungen in Gefühlen, im Recht, in einem empfundenen Zusammenhang. Ein Polizist hat Autorität nicht so sehr durch seine Waffe, sondern weil er der autorisierte Vertreter der Allgemeinheit und ihres Rechts ist; Bismarck hat, so könnte man sagen, auch im Inneren Politik nicht mit Polizisten, sondern mit Soldaten gemacht, eben mit Drohungen. "Reichsfeinde" hießen ihm seine Gegner, die Katholiken, die Polen, die Sozialdemokraten. Kulturkampf und Sozialistengesetze waren Auseinandersetzungen, die Bismarck weit in den Ausnahmezustand vorantrieb, ja bis an den Rand des Bürgerkrieges. Bismarcks Pläne, dem Reich durch Steuerreformen eine vom Parlament unabhängige finanzielle Grundlage zu geben, scheiterten ebenso wie seine jahrelangen Versuche, den Regierungsapparat restlos gefügig zu machen.

    Schon Bismarcks charismatische Staatsleitung war eine Art "persönliches Regiment", wie man später die Regierung Kaiser Wilhelms II. genannt hat. Diesen Zusammenhang hat er selbst übrigens im letzten Band von "Gedanken und Erinnerungen" angedeutet. Die Aufgabe des leitenden, allein verantwortlichen Ministers kann, so schrieb Bismarck,

    "ohne Verletzung unsrer Verfassung von dem Monarchen in seinen Eigenschaften als Deutscher Kaiser und als König von Preußen ebenso gut erfüllt werden wie von einem Reichskanzler und Ministerpräsidenten, wenn der Monarch die dazu erforderliche Vorbereitung und Arbeitskraft besitzt und seinen Ministern gegenüber sachlich, nicht monarchisch diskutiert."

    Auch den Unterschied sah Bismarck: Ein verantwortlicher Minister unterliegt der Kritik, also der Erfolgskontrolle der Öffentlichkeit in Presse und Parlament. Die Monarchie, so befürchtete Bismarck, werde durch das absolutistische Überspringen der ministeriellen Zwischeninstanz unter modernen Bedingungen selbst in die Arena des Parteienstreits gezogen. Heute würde man sagen, das persönliche Regiment Wilhelms II. kombinierte die traditionalen Elemente einer monarchischen Verfassung mit den charismatisch-plebiszitären Zügen von Bismarcks Kanzlerautokratie. Bismarck rettete zwar die Hohenzollernmonarchie so unversehrt wie nur möglich in die moderne Welt. Dabei wurde aber ein großer Industriestaat mit allen seinen Machtmitteln zum Spielgegenstand eines selbstherrlichen Kaisers und seiner unverantwortlichen Umgebung. Das war der Preis von Bismarcks Erfolg, den nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa im zwanzigsten Jahrhundert teuer bezahlen mußten.

    Zu so weitreichenden systematischen Erörterungen versteigt Otto Pflanze sich nicht. Sein imposantes, anschauliches und gelegentlich anstrengendes Werk schließt mit der Entstehung des Bismarckmythos in der Zeit nach der Entlassung. Der alte Fürst wurde zum Volkshelden, zu einem sagenhaften Riesen, der schon bei Lebzeiten in die Gestalt der steinernen Denkmale und Türme hinüberzuwittern schien, die Deutschland ihm nach seinem Tode in allen Provinzen errichtete. Der hysterische Koloß verwandelte sich in einen vorzeitlichen Giganten, einen germanischen Helden. Nur weiß die deutsche Sage von mehr als einem ihrer Helden, daß ihre Werke Trug und Tücke waren.