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Bismarcks geheimnisvolle und dämonische Kraft

Der US-amerikanische Historiker Jonathan Steinberg umreißt das Leben und Wirken Otto von Bismarcks. Dabei will er Charaktereigenschaften des ersten deutschen Reichskanzlers zeigen, die paranormal und im Mystischen angesiedelt sind.

Von Volker Ullrich | 15.10.2012
    Auf der Feier von Bismarcks 150. Geburtstag in Friedrichsruh im Jahr 1965 fragte der Göttinger Historiker Percy Ernst Schramm:

    Wann wird es wenigstens eine Biografie geben, die ihm wirklich entspricht?

    Nun, mittlerweile gibt es nicht nur eine, sondern deren drei: Lothar Galls Darstellung des "weißen Revolutionärs" von 1980, der das Kunststück gelang, zwischen der Skylla der Bismarck-Verehrung und der Charybdis der Bismarck-Verdammung souverän hindurchzusteuern; Ernst Engelbergs zweibändiges Werk aus der Spätphase der DDR, das sich dem preußischen Junker überraschend verständnis-, ja geradezu liebevoll annäherte; und schließlich die dreibändige, 1990 abgeschlossene und 1997/98 in deutscher Übersetzung erschienene Biografie des amerikanischen Historikers Otto Pflanze, die sich von den beiden anderen vor allem dadurch unterscheidet, dass sie die komplizierte Persönlichkeit Bismarcks in den psychoanalytisch geschulten Blick nimmt. Jonathan Steinbergs nun ebenfalls auf Deutsch vorliegende Biografie tritt mit dem Anspruch auf, den drei großen Darstellungen von Gall, Engelberg und Pflanze eine korrigierende Sicht entgegenzusetzen. Ein "neuer Begriff", verkündet er, müsse her, um Bismarcks Lebensgeschichte zu erklären. Was damit gemeint ist, erläutert der amerikanische Historiker in seinem einführenden Kapitel:

    Bismarcks Macht beruhte nicht auf Institutionen, einer Massengesellschaft oder "Kräften und Faktoren", sondern auf seiner Persönlichkeit. Sie beruhte auf der Souveränität eines außergewöhnlichen, gigantischen Selbst.

    Das "souveräne Selbst" - so das neue Zauberwort - soll der Schlüssel zur Biografie sein. Der Autor versteht darunter eine geheimnisvolle, ja dämonische Kraft, die es Bismarck erlaubt habe, sich über alle Schranken hinwegzusetzen und 28 Jahre lang, von 1862 bis 1890, die politische Bühne in Preußen-Deutschland zu dominieren. Nun wird niemand bestreiten, dass Bismarck ein Politiker von ungewöhnlichem Format war. Doch dass alle seine Erfolge allein auf die bezwingende Macht seiner Persönlichkeit zurückzuführen seien - das ist eine Mystifikation, für die Bismarck selbst vermutlich nur milden Spott übrig gehabt hätte, weil er sich zeitlebens der Grenzen seines Handelns bewusst war.

    Denn der Mensch kann den Strom der Zeit nicht schaffen und nicht lenken, er kann nur darauf hinfahren und steuern, mit mehr oder weniger Erfahrung und Geschick, kann Schiffbruch leiden und stranden und auch zu guten Häfen kommen.

    So beschied er Besucher in Friedrichsruh noch nach seinem Sturz 1890. Was Gall, Engelberg und Pflanze, je auf ihre Weise, geleistet haben, das hat Steinberg weitgehend versäumt: nämlich Bismarcks Denken und Handeln in Beziehung zu setzen zu den bewegenden Kräften und Tendenzen seiner Zeit. Trotzdem liest man sein Buch mit Gewinn. Denn er hat sich, intensiver als seine Vorgänger, darum bemüht, Zeugnisse von Zeitgenossen Bismarcks, Bewunderern und Gegnern, Deutschen und Ausländern, zusammenzutragen. In Tagebüchern, Briefen und Memoiren kommen sie ausgiebig zu Wort.

    Ich möchte die lange zum Schweigen gebrachten Stimmen der vielen, vielen herausragenden Menschen wieder hörbar machen, die Bismarcks kennengelernt und ihre Beobachtungen niedergeschrieben haben.

    Auf diese Weise gelingen dem Autor immer wieder Nahaufnahmen, welche Einblick geben in die frappierenden Widersprüche Bismarcks. Er war ein kühler, rational handelnder Realpolitiker und ließ sich doch immer wieder zu wilden Hassausbrüchen gegen seine innenpolitischen Gegner hinreißen. Er war ein charmanter Gastgeber und anregender Plauderer und konnte selbst gegenüber langjährigen Mitarbeitern von abweisender Kälte sein. Zu seiner massigen Gestalt in merkwürdigem Kontrast stand nicht nur die weiche, leise Stimme, sondern auch ein labiles Nervenkostüm, das ihn auf politischen Verdruss aller Art höchst reizbar reagieren ließ. Das galt vor allem für sein kompliziertes Verhältnis zum preußischen König und späteren deutschen Kaiser Wilhelm I. - ein wahres Psychodrama, dem der Autor zu Recht besondere Aufmerksamkeit zuwendet. So rabiat Bismarck den Monarchen immer wieder seinem Herrschaftswillen unterwarf, so abhängig war er zugleich von der Bestätigung des königlichen Wohlwollens. Er fiel regelmäßig in tiefe Depression, wenn sie ausblieb, und ...

    Zitat
    ... verkroch sich wie ein Kind, das von seinem wütenden Vater getadelt worden war, ins Bett.

    Sprecher
    Die vielen Beschwerden und Krankheiten, von denen Bismarck mit zunehmendem Alter geplagt wurde, waren, wie der Autor zeigt, vorwiegend psychosomatischer Natur.

    Sein kolossaler Machtwille und die mit ihm zusammenhängende Wut auf jeden - Freund oder Feind -, der sich ihm in den Weg stellte, machten ihn buchstäblich krank.

    Jonathan Steinberg ist hin- und hergerissen zwischen Faszination und Abscheu. Einerseits preist er Bismarck als den "größten Staatsmann des 19. Jahrhunderts", ja als "eine der größten politischen Gestalten aller Zeiten", und besonders im Abschnitt über die Annexion Schleswig-Holsteins 1864 bis 1866 hat er das kunstvolle diplomatische Spiel Bismarcks, das stets mit mehreren Optionen jonglierte, trefflich dargestellt. Andererseits aber geißelt er Bismarcks Menschenverachtung, seine kleinliche Rachsucht, seinen Hang zur Lüge, seine Neigung, Verantwortung für selbst verschuldete Fehlschläge bei anderen abzuladen, sein Selbstmitleid und seinen Verfolgungswahn. Es ist nicht ohne irritierenden Reiz, den Autor auf der Achterbahn seiner zwiespältigen Urteile über seinen Protagonisten zu beobachten. Entschiedenen Widerspruch fordert allerdings heraus, wenn Steinberg am Ende vom autoritären System Bismarcks eine direkte Linie zu Hitler zieht. Denn so schwer die Hypotheken auch wogen, die der Reichsgründer seinen Erben hinterließ - Scheitern und Untergang waren damit nicht unausweichlich vorherbestimmt. Nach 1890 hätte es immer wieder Möglichkeiten zur Kurskorrektur gegeben. Dass sie nicht genutzt wurden, kann man nicht mehr Bismarck zur Last legen.

    Jonathan Steinberg:
    Bismarck: Magier der Macht.
    Propyläen, 745 Seiten, 29,99 Euro.

    ISBN: 978-3-549-07416-9