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Bittere Mandeln

Als Max Aub nach dreißig Jahren Exil 1972 in Mexiko-Stadt starb, meldete Radio Nacional seinen Tod "Ha muerto Max Ob”, Es war wohl nicht nur der deutsche Name des spanischen Autors,- zu dessen Vorfahren Karl Marx zählt-, der für mexikanische Zungen schwer auszusprechen war. Aub hatte in Mexiko Erfolg nur mit einer fiktiven Malerbiographie. In Francos Spanien war der republikanische Schriftsteller verboten und lange Zeit vergessen – in Deutschland hingegen ab Ende der sechziger Jahre waren immerhin ein paar versprengte, kaum beachtete Titel publiziert worden.

Hans-Jürgen Schmitt |
    Was wir kaum zu hoffen wagten, dass tatsächlich Max Aubs großer sechsbändiger Zyklus über den Spanischen Bürgerkrieg, Das magische Labyrinth , einmal auf deutsch erscheinen würde, wurde zu seinem 100. Geburtstag doch noch Wirklichkeit. Man wird Max Aubs einst ironisch gemachte Bemerkung, der Generalisimus Franco habe ihn zum Romancier gemacht, leichter begreifen, wenn man Aubs Schicksal im Kontext seines Bürgerkriegsepos im Blick hat.

    Mit einem ahnungsvollen Bild begann der Editions-Auftakt in Nichts geht mehr vor vier Jahren:

    Auf einen Schlag verlöschen die Lichter. Zehn Uhr, der Mond fällt fahl auf die gekalkten Wände; die Tünche teilt sich, halb weiß, halb grau. Wie ein alter Schauer läuft das Schweigen durch die Straßen des Dorfes…Mit dem letzten Schlag des Zehn-Uhr –Läutens ist die Plaza der Nabel der Welt. Tausendfünfhundert Seelen eng gedrängt und Kind und Kegel aus der Raya der Aragón….Vor den Wänden die Schatten der sonnengegerbten Alten in ihren schwarzen Bauernhemden, die sich trotz ihrer Jahre noch immer nicht geschlagen geben wollen. Plötzlich erstirbt der lärmende Trubel, ein Murmeln hat ihn erstickt.

    So weit Rafael López Serrador auch zurückdenkt, in seiner Erinnerung findet er kein älteres Bild. Aus seiner Kindheit ist dies der ursprünglichste Eindruck: Dieser Augenblick, bevor bei der September-Fiesta der Feuerstier losgelassen wird.

    Es ist dieses Bild des an seinen Hörnen mit Pech beschmierten flammenden Stiers, der durch ein Dorf bei Valencia rast,- ein unheimliches Bild, das sich dem Gedächtnis einbrennt. Dreitausend Seiten später endet der schaurige Reigen des Bürgerkriegsgeschehen in einem Lager in Alicante, das Aub, weil es auf einem Mandelbaumfeld errichtet ist, >campo de almendras< nennt. Der deutsche Titel >>Bittere Mandeln<< verweist direkter auf die Tragik der Ereignisse dort. Zehntausende geschlagene Republikaner erhofften sich die Flucht mit Schiffen übers Meer, doch die Schiffe blieben aus. Rafael Serrador, der im ersten Band an Typhus starb, taucht hier mehr als Phantom in Gestalt eines Guerilleros in den Bergen auf- zumindest halluziniert ihn die verzweifelte Phantasie der Geschlagenen bzw. die des Erzähler selbst. Rückkehr zum Anfangsbild beim Untergang am Ende von Bittere Mandeln:

    Vielleicht gibt es dieses Jahr wieder Stiere…< Anfang September, und über den Rücken des Ragudo weht es kalt herunter; oben, über den Bergen die Sterne und, am Boden, das Rauschen des fließenden Wassers: Quellen, Brunnen, Bewässerungsgräben. Unten, hinter Jérica und Segorbe, liegen zum Meer hin Algar, Estivella, Sagunt, El Puig; bergauf Sarrión, der nackte steinige Weg nach Teruel. Manche Leute sagen, sie hätten Rafael López Serrador gesehen, als Guerillero in den Bergen.

    Ist der Guerillero nicht er selbst, der Erzähler Max Aub, der uns da hinter seinem gewaltigen Werk auch immer wieder zu entschwinden droht? Gerade weil er sich in der Haltung des >autor exit < im sechsten Band als Erzähler verabschiedet? Aubs alter ego, der republikanische Schriftsteller Ferrís, notiert in seinen Heften:

    Der Ort der Tragödie: am Meer, unter dem Himmel, am Land. Der Hafen von Alicante, am 30. März 1939. Tragödien geschehen immer an einem bestimmten Ort, zu einem präzisen Datum, in einer Stunde, die keinen Aufschub duldet. - Der Himmel ist bedeckt, weil er sich schämt für das, was passieren wird. Gott ist der Verantwortliche für das menschliche Unglück, auch wenn er das in seiner Gleichgültigkeit nicht zugeben will...Für den Menschen ist es gleich, ob Gott existiert oder nicht: das Leid ist identisch...

    Bittere Mandeln , dieser 700seitige Abschlussband, kann – entgegen der wohlmeinenden Ansicht der Übersetzer im Nachwort- mit größerem Gewinn nur im Kontext des ganzen Bürgerkriegslabyrinths gelesen werden. Einbeschlossen darin das Schicksals Max Aubs, das durch die europäischer Barbarei der beiden Weltkriege bestimmt wurde.

    Es waren die wildbewegten Zeitläufte eines tragischen Lebens, die ihn zwangen, alle Grenzen zu überschreiten und im Exil schließlich dieses Bürgerkriegsepos 1966 zu vollenden, in dem sich Aub dann und wann direkt zu Wort meldet, wenn er nach 600 Seiten etwa sagt:

    Nie werde ich diesen Roman schreiben, und auch keinen anderen. Die wahrhaftige Dichtung ist die Tragödie. Diese Tage in Alicante, dieser Hafen, diese Menschenmenge, dieses Labyrinth sind bestimmt die größte Tragödie, die ich in meinem Leben erleben kann. Die Dichtung. Für mich ist das die Dichtung: diese Anhäufung auswegloser Schicksale, Auge in Auge mit dem Selbstmord. Das ist nichts Neues in der Geschichte, im Gegenteil: Das hat sich wiederholt, auf die eine oder andere Weise, in allen Breitengraden, unter ganz unterschiedlichen Bedingungen.

    Das "ausweglose Schicksal" wie der Begriff der Tragödie von Aub umschrieben wird – hat ihn und seine Familie selbst früh getroffen.

    Allein ihre Internationalität sollte schon mit Ausbruch des 1. Weltkrieges folgenreich für sie werden: Max Aub wurde am 2. Juni 1903 in Paris geboren; er war Jude, sein Vater, ein erfolgreicher Kaufmann im Schmuckhandel, stammte aus München, die Mutter, Susanna Mohrenwitz, war eine Französin aus Paris mit sächsischen Vorfahren. Über Nacht wurde die Familie nun in Frankreich zum Feind erklärt. Der Vater mit deutschem Pass weilte in Geschäften in Valencia, zu dem die Familie ohne Hab und Gut nach etlichen Wochen Flucht gelangte, - die Franzosen hatten alles konfisziert. Die ersten glücklichen, geborgenen 11 Jahre waren für den jungen Max Aub vorüber. Er sprach fließend Deutsch und Französisch, erlernte nun Spanisch, legte in Valencia die Reifeprüfung ab und sagte entschlossen, man sei wohl dort zu Hause, wo man sein Abitur gemacht habe.

    Mit der freien Wahl, über seine Wurzeln zu entscheiden, wurde ein spanischer Schriftsteller jenseits aller Nationalismen geboren. Früh wurde er Sozialist, dann Republikaner, der als Kulturattaché in Paris das neue Spanien repräsentierte und Picasso für die Weltausstellung den Auftrag zum berühmten Guernica-Bild verschaffte; er leitete in Valencia ein Theater mitten im Bürgerkrieg und drehte mit André Malraux im umkämpften Barcelona den Film >Sierra de Teruel< nach dessen Roman >Die Hoffnung<. Aber welche Hoffnung blieb ihm wirklich?

    Max Aub floh nach dem Bürgerkrieg, nach Aufenthalten in Konzentrationslagern in Frankreich und Nordafrika 1942 nach Mexiko, wo er nach 30 Jahren eines schwierigen Exils beim Kartenspiel starb.

    Er, der Spanien sieht,/ kehrt nie zurück…/ er, der von ihm träumt,/ hier muß er bleiben./… warum stirbst du nicht gleich/ wenn du Spanien vergessen hast?

    Diese tristen Verse stehen in einer Lyrik-Anthologie, in der Aub von ihm erfundene arabische Dichter übersetzt hatte; darunter erscheint dann auch ein Gedicht von einem gewissen Max Aub mit der fatalistisch wirkenden Anmerkung zur Exilzeit:

    Das einzige, was feststeht, dass ich viele nicht sonderlich interessante mexikanische Filmdrehbücher geschrieben habe.

    Der wirkliche, der andere Max Aub wiederum sagte bitter, er sei ein unbekannter Schriftsteller, ein Schriftsteller ohne Leser. In Spanien, das er erst wenige Jahre vor seinem Tod erstmals wieder bereisen durfte, war er verboten; erst in den siebziger Jahren des 20.Jahrhunderts begann sein Werk – lieblos ediert- bei
    Bruguera - Alfaguara zu erscheinen. Das hat sich seit den neunziger Jahren schlagartig geändert. Vor allem Autoren der jungen Generation Spaniens wie Rafael Chirbes und Antonio Muñoz Molina sehen in ihm das große Vorbild und den Antrieb, nun von Verwüstung und Tod durch den Bürgerkrieg zu sprechen, über die bislang im gegenwärtigen Spanien weitgehend geschwiegen worden war.

    Wer sich inzwischen in die ersten fünf Bände versenkt hat, weiß, dass DAS MAGISCHE LABYRINTH sich nicht primär in einer traditionellen Erzählform darbietet und nicht durch die Kontinuität eingängiger Fabelstränge strukturiert ist.
    Nichts geht mehr spielt zunächst zu Beginn des Jahrhunderts in der Provinz von Valencia , dann hauptsächlich im Juli 1936, also bei Ausbruch des Bürgerkriegs und endet im brennenden Barcelona. In Theater der Hoffnung sind es die Mitglieder einer Theatergruppe, die ins Kriegsgeschehen zwischen Valencia, Burgos und Madrid verwickelt werden. In Blutiges Spiel treffen sich vier Freunde zu Silvester in Barcelona, während die erbitterte Schlacht um Teruel tobt. Zeit: Dezember 1937 bis März 1938. Die Stunde des Verrats beschwört die letzten Tage des republikanischen Madrid mit Trauer, Schrecken und Verrat. Ende der Flucht enthält, in erschütternden Dialogen erzählt, die Flucht der Republikaner im Januar 1939 über die Pyrenäen nach Frankreich und Szenen im französischen Konzentrationslager Le Vernet, wo Max Aub inhaftiert war.

    Aubs Erzählgestus ist eine Mischform aus Historie und Fiktion, Bericht und Chronik mit fließenden Grenzen, was gerade die unerhörte Authentizität schafft. Szenische Schilderungen gehen über in Miniporträts, in prismatische Kurzviten. Beschreibung, Bericht, Gespräch, Dialog bilden auffällig die vielstimmige Erzählstruktur von Bittere Mandeln – dem Anti-Roman, in dem der Chronist Aub als fiktive wie reale Figur einen letzten, schmerzhaften Klärungsversuch durch zahlreiche Schicksale, Meinungen und Ansichten die republikanische Niederlage zu deuten.

    Der Romancier muss von Tausenden von Figuren, die in der kalten Nacht vom 30. auf den 31. März 1939 im Hafen versammelt sind, einige auswählen; unter den Besiegten, die noch immer Hoffnung haben, gerettet zu werden. Er wählt und wählt doch nicht, lässt sich von denen führen, die er kennt, und von anderen, die unerwartet auftauchen. Er wollte einen reinen Roman schreiben – wie den über Asunción und Vicente, die sich suchen, deren Wege sich kreuzen und die sich nur von den selbe Strömungen getrieben wieder sehen, die sie- für den Augenblick ins Lager der bitteren Mandeln führen; er wollte seine Chronik verkappen zu einem wahrhaftigen Roman, doch erkonnte nicht. Dort sind dreißigtausend mögliche Hauptdarsteller des großen Spanischen Bürgerkrieges, den der Autor auf seine Weise seit einem Vierteljahrhundert erzählt hat.

    Vicente und Asunción durch die Kriegsereignisse getrennt - tauchen immer wieder einmal im Zyklus des Epos auf-, und wollen sich in Alicante wiederfinden; Vicente halb träumend, halb schlafend, schildert Aub hier in einer apokalyptischen Meeresszenerie:

    Das Meer, ein Meer ohne Wellen, schwarz. Endlos: aus Teer. Ohne Himmel. Wenn es einen gibt, sieht er ihn nicht. Vicente sieht das schwarze Wasser von oben. Wo ist er? Auf einem Schiff? Auf der Spitze des höchsten Mastes? Denn fliegen, fliegen tut er nicht. Er steht still, sieht von oben die wundersame Fläche des schwarzen Ozeans, der allmählich um sich selbst zu kreisen beginnt. Schweres, schwarzes Wasser, ölig, mit weiten, dünnen Spiralen aus bräunlichem Schlamm, moosig und schmutzig. Wer, was verursacht die Drehung...Das Auge des Strudels, das immer weiter in die Tiefe sinkt...Alles in seinem Gesichtskreis dreht sich auf diesen unendlichen, grundlosen Schlund zu. Ein Mahlstrom. Diese Kraft der Strömung fesselt ihn, ruft ihn zu sich, bannt ihn. Widerstehen...die Strömung reißt alles fort... Der Sinne beraubt bricht er zusammen. Ertrunken, der Verstand setzt aus; alles ist Auge, Schwindel, Beklemmung , Schauder. Wetterleuchtendes Erwachen, Kopfschmerz. Ende der Welt. Er interpretiert: Wir sind verloren. Ich bin verloren. Einziges Licht: Asunción. Sie suchen, sie suchen. Sie muss hier sein...Wie sie finden unter Tausenden?...Er geht, sucht, stolpert; erstarrt. Das Meer, das dunkle Meer. Still...Die Leute auf einem Haufen, wie nie zuvor. Nie waren es so viele. Er geht, sieht , stolpert, schreit: >Asunción!< -- Diese Passagen zeigen die große, vielfältige erzählerische Klaviatur, derer sich Aub zu bedienen weiß, wie wir sie etwa auch aus seinen Romanen vor dem Bürgerkriegszyklus kennen, aus Beste Absichten oder der Romanbiographie über den Maler Jusep Torres Campalans, dessen fiktive Existenz Aub uns wunderbar täuschend als reale vorspiegelt.

    Aub erzählt also nicht vorrangig wie in einem rundgebauten Roman das Schicksal von Vicente und Asunción, sondern sie gehören zu den vielen Gestalten, die hier verzweifelt auftauchen, über die Niederlage diskutieren, verschwinden, untergehen.

    Aub wollte in seinem ewigen Spiel der Fiktion von Wahrheit und Wirklichkeit immer auf die Grundstimmung hinaus: das heißt, er wollte hier in
    Bittere Mandeln den unausweichlichen Untergang der Republikaner darstellen, analysieren, reflektieren-, erzählen von Flucht, Gefangenschaft und Tod. Sein Erzählprogramm , in dem auch der fiktive Erzähler geopfert wird, erläutert er in Bittere Mandeln in den von ihm genannten >blauen Seiten< von so:

    Um eine Vorstellung von der Wirklichkeit zu geben, müsste der Autor Tausende von Schädeln öffnen, Tausende ineinander verdrehter Gedanken darstellen(wenn sie denn aus dem Schädel kommen), die Qualen erklären, die Hoffnungen, die Enttäuschungen der im Hafen Zusammengedrängten, der Schlafenden, der wachenden, der Frierenden. Er ist sich nicht sicher, ob er das möchte, denn dafür ist er zu alt. Er kann nicht. Er tröstet sich mit dem Gedanken, dass es nicht ganz stimmt: dass die Wahrheit nur Poesie ist, dass die Poesie nur die Worte sind, dass die Wahrheit wenig mit ihnen zu tun hat und dass er, wenn er es schafft, zwanzig zu erfinden, erreicht hätte, was sein Ziel gewesen ist. Was denken in dieser Nacht die Flüchtlinge im Hafen von Alicante, der letzten Zuflucht – kein Bollwerk – der spanischen Republik, letzter Exzess des großen Spanien Bürgerkrieges, der einmal mehr die eine Hälfte Spaniens gegen die andere aufgehetzt hat?

    Es sind signifikante, bleibende Bilder für die "wahrhaft dramatische Exposition", die durch die Ereignisse des Bürgerkriegs vorgegeben waren: der mit Pech beschmierte brennende Stier, die Gespräche über den Untergang etwa vor einer Reproduktion des berühmten Goya-Bildes: "Die Erschießung der Aufständischen vom 2.Mai" durch napoleonischen Truppen; die grandiose Meeresmetaphorik: im Hafen von Alicante wird das Meer zum Malstrom, dem nur wenige entkommen. -- Dank der editorischen Großtat des Eichborn Verlags, der peniblen und glanzvollen Arbeit der beiden Übersetzer Albrecht Buschmann und Stefanie Gerold und der profunden Kommentierung von Mercedes Figueras, liegt nun mit dem Band Bittere Mandeln DAS MAGISCHEN LABYRINTH ,Max Aubs bedeutender Epochenroman, sein Zauberberg, abgeschlossen vor uns. Es ist zudem eine splendid gestaltete, lesefreundliche Ausgabe, die einen Schönheitspreis verdient hat. Verlockung von allen Seiten also im Aub’schen Labyrinth, für Aub-Liebhaber, Spurensucher und nicht zuletzt für neugierige Leser.