Montag, 06. Mai 2024

Archiv


Bitteres aus dem Hönigtöpfchen

Nach dem umjubelten Erfolg mit "Wozzeck" im vergangenen Jahr hatten sich Daniel Barenboim und die Regisseurin Andrea Breth wieder zu einem Berg-Werk verabredet. Mit "Lulu" wählten sie einen Brocken, der kaum zu stemmen ist. Das Publikum reagiert gespalten.

Von Georg-Friedrich Kühn | 01.04.2012
    Eine lastende Dumpfheit liegt über der Szene. Der Vorhang hebt sich zu Beginn nur einen Spalt. Eine am Boden auf dem Rücken liegende Figur zitiert Kierkegaard, spricht von einem alten Mann, der hinabtauchend ins Vergessen, einem Kind erzählen will, woran es sich schon erinnert, noch ehe es erzählt ist.
    Dann der gellende Schrei einer Frau, und der erste Akt beginnt. Links eine abfallende Halde verdreckter, ineinander verkeilter Autowracks. Ansonsten auf der Bühne Erich Wonders nur Eisengestänge, das zwei Gassen bildet, in denen die Figuren in Slowest Motion sich bewegen. Lulu zunächst vorn in einem silbrigen Glitzerkleid wie eine Puppe mit ausgebreiteten Armen in einem gleichsam Bilder-Rahmen.
    Den Prolog hat Regisseurin Andrea Breth gestrichen. Das Ablenkende des Zirkusbildes, in Wedekinds Schauspielfassung ohnehin erst später angefügt zur Abwehr der Zensur, wollte sie tilgen. Lulu ist für Breth eine Frau, die Liebe sucht, aber diese nicht finden kann, weil sie – Findelkind, das vom Ziehvater Schigolch an Männer verkauft wird – Liebe gar nicht akzeptiert.
    Die Männer, die ihre sexuellen Begierden auf sie projizieren, sind von Moidele Bickel alle in schwarzgraue Gehröcke, Mäntel, Anzüge gesteckt. Lediglich die lesbische Gräfin Geschwitz, der Breth allein Liebesfähigkeit zubilligt, kommt wie ein Vamp der Zwanziger-Dreißiger Jahre im bodenlangen nachtblauen Ensemble daher, sich Lulu immer mehr nähernd.
    Im London-Bild des dritten Akts steckt sie sich eine Zigarre in den Mund. Am Ende häufelt sie sich aus schwarz-pulvrigem Sand ein Bett, auf dem sie ihren vergeblichen Emanzipationsträumen entgegen dämmert. Jack the Ripper hat da seine Trophäe Lulu schon mit Benzin getränkt. Und Lulu reicht ihm selbst das Feuer. Das Schlussbild ist dann eine kleine Göttinnen-Dämmerung. Flammen schießen aus dem Eisengestänge. Der Rest ist Erinnerung, oft auch mit murmelnden Dopplungen signalisiert.
    Klugerweise greift Andrea Breth nicht auf die von Friedrich Cerha ergänzte Partitur von Alban Bergs unvollendet hinterlassener "Lulu"-Oper zurück. Das Paris-Bild ist wie auch der Prolog gestrichen.
    Für die Übergänge hat Musikchef Daniel Barenboim den Komponisten David Robert Coleman beauftragt, aus dem Particell eine eigene Fassung herzustellen. Diese bleibt kammermusikalisch ausgedünnt, lässt durch den Einsatz von Steeldrums und Vibrafon gelegentlich an den Klang früher Musikautomaten denken. Dramaturgisch entsteht dennoch nicht die von Breth angestrebte Dichte. Die Figuren, mit Ausnahme der Frauen, bekommen kein eigentliches Profil. Zumal im London-Bild schleichen immer wieder Schlapphüte durch die Szene mit ständig repetierten Aktionen à la Wilson. Viel Beckett ist da wohl auch mitgedacht.
    Musikalisch ist die Aufführung grandios. Barenboim disponiert im Graben die Staatskapelle äußerst differenziert. Mit Mojca Erdmann agiert eine Lulu auf der Bühne, die mit engelhafter Leichtigkeit ihre oft sehr hochgelegte Partie singt. Mit Deborah Polaski steht ihr eine Geschwitz von starker körperlicher Ausstrahlung zur Seite. Michael Volle ist als eifersüchtiger Ehemann Dr. Schön und Jack the Ripper der gleichsam Lulu-Pate und Hin-Richter.
    Begeisterter Beifall denn auch am Ende für die Sänger, fürs Orchester und Daniel Barenboim. Andrea Breth und ihr Team mussten auch heftige Buhs einstecken. Die Regisseurin, deren "Wozzeck" vor einem Jahr am gleichen Ort umjubelt war, trug es mit Fassung. Einmal mehr erweist sich die Bergsche "Lulu" als ein Brocken, der – zumal in dieser Form heute – kaum zu stemmen ist.