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"Black Mirror: Bandersnatch"
Ein Hauch von Interaktivität

Die britische Anthologie-Serie "Black Mirror" startet mit einer interaktiven Folge bei Netflix. Der Zuschauer bestimmt den Verlauf der Handlung auf dem Bildschirm. Doch bei der Vielzahl an Erzähloptionen verliert man den Blick für das Wesentliche - und den Bezug zur Hauptfigur.

Von Hartwig Tegeler | 07.01.2019
    Credit: Netflix / Black Mirror
    Hauptfigur Stefan tüftelt an einem neuen Computerspiel. (Netflix / Black Mirror)
    Stefan kommt verschlafen in die Küche, nachdem er am 9. Juli 1984 - 1984! Ja! - von Frankie-Goes-To-Hollywood via Radiowecker aus dem Schlaf geholt wurde.
    "Trifft du dich heute mit den Computerleuten? - Mr. Tucker sagt, ich könnte ihm meine 'Bandersnatch'-Demos vorführen."
    Stefan schreibt an einem interaktiven Videospiel.
    "Du entscheidest selbst, was die Figur macht."
    "Klingt spannend", meint der Vater, um dann allerdings eine andere Option auf den Tisch zu bringen: "Wie wär's, wenn du jetzt erst einmal entscheidest, was du frühstücken willst, häh." Der Vater hält zwei Sorten Frühstücksflocken hin. Das Bild stoppt, und wir müssen, damit die "Bandersnatch"-Folge der Anthologie-Serie "Black Mirror" weiterläuft, per Mausklick oder Taste auf der Fernbedienung entscheiden, welche Stefan isst. Es wird noch schwerwiegendere, dramatischere Entscheidungen geben.
    Eine Vielzahl von Erzähloptionen
    "Die verschiedenen Möglichkeiten erscheinen auf dem Bildschirm, aber man hat nur begrenzt Zeit." Der Film, den wir jetzt sehen, ist also konstruiert wie das Spiel, das Stefan - gespielt von Fionn Whitehead, bekannt aus Christopher Nolans "Dunkirk" - programmiert. Später, immer noch 1984, schickt er auf einem der Erzählpfade im Netflix-Film Netflix eine Nachricht an Stefan.
    "Ich werde von jemandem aus der Zukunft kontrolliert." - Dass der Streaming-Dienst ihn manipuliert – Whoww! Selbstironie!
    Und wieder später, in einer anderen Erzähloption, entwickelt eine Programmiererin heute das Spiel von 1984 für Netflix neu und dreht ziemlich durch. Und manchmal, wenn wir beispielsweise entscheiden, ob Stefan, der sich beim Programmieren in den Sackgassen seiner Realitätswahrnehmung weiter verliert, eine Tasse Tee auf seine Tastatur kippt oder seinem Vater den Kristallaschenbecher auf den Kopf schlägt, manchmal war es das dann. Ende des Films. Aber nicht wirklich, denn es geht zurück zum Anfang, Kurzzusammenfassung, und dann zur Stelle im Erzählpfad, an der wir eine Entscheidung treffen müssen.
    Keine individuelle Geschichte
    "Ich war mir nicht sicher, ob das wirklich passiert ist."
    Und wir drehen uns weiter in dem Erzählstrudel einer vierzig- oder neunzig-Minuten-Version von "Bandersnatch", je nachdem, welche Entscheidung wir getroffen haben. Mit dieser interaktiven Folge - das Gesamtmaterial soll fünf Stunden lang sein - hat "Black Mirror"-Autor Charlie Brooker für Netflix einen "innovativen Meilenstein" geschaffen. So überschlagen sich Rezensenten – nun ja, zumindest ein Teil von ihnen.
    "Was ist jetzt? - Ich habe den Pfad noch nicht programmiert. - Viele Pfade also."
    Was, wenn wir einmal das Gejubel über das "irrwitzig spannende, interaktive Filmexperiment" einfach zurückstellen. Zu konstatieren ist, dass es eben doch keine eigene Geschichte ist, die wir konstruieren, sondern wir folgen nur den Pfaden, die Autor Charlie Brooker geschrieben hat. Das war es dann mit unserer interaktiven Entscheidung. Semi-philosophisches Geschnatter gibt’s dann als Zugabe: "Und wie ein Pfad endet, ist unwichtig. Es sind unsere Entscheidungen entlang des Pfades, die das Ganze beeinflussen."
    Was ist die Realität?
    Von "Matrix" über Christopher Nolans "Inception" bis zu Hans-Christian Schmids Film "23" ist die Frage, wieweit wir ein selbst- oder fremdbestimmtes Leben führen, die klassische im Science-Fiction-Film. Was ist Realität, was Fiktion? Solche Frage stellt sich der IT-Sicherheitsspezialist Elliot in der Serie "Mr. Robot". Stefan aus "Bandersnatch" scheint wie eine Zwillings-Figur zu Elliot. Und genauso verstörend, genauso intensiv wie Rami Malek den "Mr. Robot" spielt, wirkt Stefan.
    Ein toller, berührender Charakter. Bis, ja bis der Film wieder stoppt, damit wir irgendeine Option wählen. Und weg ist das Gefühl von Empathie. Mit der Konsequenz, dass uns der junge, verzweifelte Programmierer in "Black Mirror: Bandersnatch" schnell vollkommen egal ist. Und ob wir nun auf diesem oder jenem Weg zu seinem Ende kommen oder ihm das Ende bereiten: Was soll´s? Die ganze Lobhudelei über "Interaktivität" will einfach nicht den Geschmack von heißer Luft loswerden.