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Blair contra Chirac

Seit dem gescheiterten EU-Gipfel in Brüssel sind die Beziehungen zwischen Frankreich und Großbritannien getrübt. Der Streit um die Zukunft Europas zwischen dem britischen Premier Tony Blair und dem französischen Präsidenten Jaques Chirac bringt der Union keinen Fortschritt.

23.06.2005
    Der Rundfunkkorrespondent sprach von einer zweiten Schlacht von Waterloo, zwischen Franzosen und Briten, zwischen Jacques Chirac und Tony Blair.

    Die Presse deutet den Streit zwischen dem französischen Präsidenten und dem britischen Premierminister als Auseinandersetzung um zwei unterschiedliche Europa-Visionen: während Paris die Union zu einem Machtfaktor im Konzert der großen politischen und wirtschaftlichen Kraftfelder ausbauen wolle, setzte sich London für eine große Freihandelszone ein. Unser Sozial- und Wirtschaftsmodell ist kein angelsächsisches, unterstreicht Präsident Chirac:

    In der Zeitung Le Figaro fordert der Publizist Alexandre Adler eine neue europäische Union bestehend aus den sechs Gründungsnationen, erweitert um Spanien und Portugal, Österreich, Ungarn, Slowenien und Kroatien. Das es so wie bisher nicht weitergeht, ist zwischen Regierung und Opposition unstrittig. Europa ist auf dem Rückzug, bedauert die frühere Arbeitsministerin Martine Aubry von der Sozialistischen Partei, die Tochter des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors.

    " Europa ist auf dem Rückzug. Es ist noch schlimmer, als wir uns das vorgestellt haben. Wir benötigen ein anderes Europa als dieses liberale, das gegenwärtig alles überdeckt und zwar nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den Verstand und die Herzen. Es geht mittlerweile nur noch darum, materielle Güter anzuhäufen. Es gibt keine Solidarität mehr. "

    Nur Valéry Giscard d`Estaing wundert sich. "Alle sprechen von einer Krise in Europa", sagt der frühere französische Staatspräsident, unter dessen Leitung der europäische Konvent den Verfassungsvertrag ausgearbeitet hat.

    " Alle sprechen von einer Krise in Europa. Wer hat diese Krise ausgelöst? Wir! Hätte Frankreich die Verfassung ratifiziert, gäbe es keine Krise in Europa. Man kann nicht gleichzeitig eine solche Krise verursachen und sich dann in dramatischem Ton über ihre Folgen auslassen. Darüber muss man sich vorher im Klaren sein. "

    Dass die Briten nach dem Nein der Franzosen beim Verfassungsreferendum die Lage nutzten, um die gemeinsame Landwirtschaftspolitik in Frage zu stellen, sei verständlich und in der Tat müsse die Union mehr Geld für Forschung, Wissenschaft und Technologie ausgeben. Andererseits sei der Beitragsrabatt des Königreiches nicht mehr gerechtfertigt.

    "Präsident Chirac und Tony Blair hatten beide nicht Unrecht", meint Giscard d`Estaing: "Nur ist die Art und Weise, wie sie Recht haben, gegenwärtig nicht miteinander zu vereinbaren".

    Offiziell bekräftigt die französische Regierung ihre Position: der britische Beitragsrabatt müsse gestrichen werden, denn das Land sei inzwischen eines der reichsten der Europäischen Union. Dass Paris gleichzeitig die Agrar-Subventionen mit allen Mitteln verteidigt, hat auch mit der schwierigen Haushaltslage zu tun. Gerade hat Finanzminister Thierry Breton eine ernüchternde Bilanz gezogen:

    " Erstmals in unserer Geschichte werden die gesamten Einnahmen aus der Einkommensteuer im kommenden Jahr so hoch sein, wie die Belastungen durch die Verschuldung. Die Einkommensteuer wird also erstmals nicht für die Zukunft ausgegeben, etwa für Krippenplätze oder die Schule, sondern für die Vergangenheit. "

    Dass Frankreich und Deutschland gegenwärtig nicht als Vorbild für Europa dienen, wird auch in Paris eingesehen. Und da die ordnende Funktion der europäischen Verfassung auf absehbare Zeit fehle, hätten die Briten gegenwärtig die besseren Karten, meint der frühere Staatspräsident Valéry Giscard d`Estaing.

    " Mit der Verfassung stand ein organisiertes gegenüber einem unorganisierten Europa zur Wahl. Die Ablehnung bedeutet ein nicht-organisiertes Europa. Dies eröffnet denjenigen mehr Raum, die für einen großen Markt sind. "

    Jetzt fehlte nur noch, Dass Paris - anders als erwartet - nicht den Zuschlag für die Olympischen Spiele 2012 erhält. Wichtigster Mitbewerber ist ausgerechnet London.