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'Blast to Freeze'

Es ist immer leichter, eine Ausstellung über die Kunst eines bestimmten Landes außerhalb dieses Landes zu machen, meint Gijs van Tuyl, der Leiter des Kunstmuseums Wolfsburg ein wenig verschmitzt. Seit Kunst von der Insel mit den sogenannten Young British Artists wieder international von sich reden macht, ist sie gerade im eigenen Land heftig umstritten. In England stünde der Kurator einer solchen Ausstellung von vornherein auf der Abschussliste, weil er es unmöglich allen gerecht machen könnte, im Ausland dagegen braucht man sich um solche Probleme nicht zu scheren. "Blast to Freeze" konzentriert sich auf das, was international von Bedeutung war und ist an der britischen Kunst des 20. Jahrhunderts, sie würdigt die großen Namen wie Henry Moore, Bridget Riley, Francis Bacon oder David Hockney - aber zugleich entdeckt man, wie wenig man trotzdem wußte über die Szene der Insel, und selbst bei den großen Namen finden sich Überraschungen, wie die selten gezeigten Gipsbozzetti eines Henry Moore, seine frühen Kleinskulpturen aus den dreißiger Jahren und Sammlungen von Strandgut, das ihm als Inspiration für neue Formen diente.

Ein Beitrag von Carsten Probst |
    Man beginnt, wie es sich gehört, oben, bei den großen Geistern, im Künstlerhimmel der Verstorbenen, also auf der großen Empore der bahnhofs-hohen Wolfsburger Ausstellungshalle, die vom Architekten David Chipperfield mit weißen Stoffbahnen ätherisch dekoriert wurde, und wird dort von John Epsteins bedrohlich wirkender Skulptur "Rock Drill" von 1915 empfangen, einer Altarinstallation des technischen Fortschritts, die ein wenig "Star Wars" vorwegzunehmen scheint: eine roboterhafte Figur ist die auf eine reale, große Bohrmaschine aus dem Bergbau montiert wie ein Todesengel. Doch in der Folge bewahrheitet sich ihre Drohung nur selten: dies ist keine Ausstellung, um "shocking" zu sagen. Die Kuratoren Gijs van Tuyl und Henry Meyric Hughes haben eine solide Chronologie aufgebaut und Themenschwerpunkte herausgehoben, die es dem Besucher leicht machen, sich zurechtzufinden, zu vergleichen, zu lernen. Man lernt, dass John Epstein hier als Ikone der Vortizisten, also der britischen Variante des Futurismus, dient, mit der die Ausstellung das 20. Jahrhundert der Kunst auf der Insel beginnen lässt. Schon hier könnte man sich in unendlichen Anekdoten verlieren, über Roger Fry, den sagenhaften Kunstkritiker, der die postimpressionistische Bewegung angestoßen hat, über Ezra Pound und sein Wort vom "great English Vortex", dem großen englischen Wirbel, der der Bewegung ihren Namen gab, und über Marinetti in England. Aber schon befindet man sich in der Abteilung der britischen Primitivisten und Surrealisten ab 1920 mit Henry Moore und Barbara Hepworth, und schon beschäftigen einen die Vorausdeutungen eines Graham Sutherland auf Bacon oder eines Stanley Spencer auf Lucian Freud. Spuren werden gelegt in den unteren, zweiten Teil der Ausstellung, wo sich die Werke ab 1950 befinden. Sherlock Holmes gleich sich kann der Besucher überzeitliche Linien zusammenreimen, die sich nicht an bestimmte Schulen oder Stile halten. Erhellend spielen so beispielsweise die "Newton Stones" von Tony Cragg, eine Bodeninstallation aus lauter kleinen Zufallsfunden, auf Henry Moores "Strandgut" im oberen Teil an. Wenn man die Wendeltreppe vom Künstlerhimmel in die Halle hinuntersteigt, verliert sich auf einmal die strenge Vorgabe der Chronologie. Die Ausstellung verzweigt sich, und man kann entweder die Abstraktion der 50er Jahre und die dann folgenden Räume des Pop mit David Hockney und Richard Hamilton als Zugpferden und der Op Art einer Bridget Riley wählen, oder die Anti-Künstlerischen Provokationen eines Gilbert & George oder Richard Long aus den sechziger Jahren. Daran schließt sich der Bacon-Raum an in der Gesellschaft von Lucien Freud oder auch der mit dicken Farbwülsten skulptierenden Malerei eines Frank Auerbach. Alle Wege führen letztlich auf "YBA", auf die Young British Artists der neunziger Jahre, und, um beim Ausstellungstitel zu bleiben, auf "Freeze", jene inzwischen zur Legende erklärten Ausstellung von 1988, die Damien Hirst organisierte und die inzwischen als Gründungsveranstaltung der "YBA" verklärt wird. Damien Hirst beendet mit Rachel Whiteread auch diese Ausstellung. Whiteread ist, wie sollte es anders sein, mit einem Raum-Negativ-Abdruck vertreten, Hirst, um sich treu zu bleiben, mit einer kleinen martialischen Installation, bei der Fliegen aus einem plexigläsernen Kubus durch ein Loch in einen anderen gelockt werden, in dem ein elektrischer Fliegenfänger hängt und die Insektenkörper mit einem kurzen Brutzeln verbrennt. Man überläßt die Fliegen schließlich und endlich aber doch ihrem Schicksal und entscheidet sich für das Museumsrestaurant.

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