Montag, 13. Mai 2024

Archiv


Bleibt Gewalt der einzige Ausweg?

Mit Erstaunen registrieren Kriminal-Experten den relativ hohen Anteil türkischer Jugendlicher in der Statistik tatverdächtiger Ausländer. Einerseits lässt sich das dadurch erklären, dass Türken auch die größte Gruppe der in Deutschland lebenden Ausländer stellen. Doch andererseits: Viele von ihnen sind hier geboren und aufgewachsen. Wie kommt es, dass gerade junge Türken der dritten Generation, die doch eigentlich besser integriert sein müssten, stärker auffällig werden, als die der ersten und zweiten Generation.

Reiner Scholz | 01.10.2003
    In der Hamburger Jugendstrafanstalt auf Hahnöfersand sitzen gut 200 Gefangene hinter Gittern. Zu den jüngsten gehört Fatih, ein vierzehnjähriger schmächtiger Junge aus Hamburg. Zwar war er bereits als Zwölfjähriger durch kleinere, jungentypische Straftaten aufgefallen - wie beispielsweise das so genannte Abziehen von Jacken - doch nichts deutete darauf hin, dass Fatih bald zum Schwerverbrecher werden würde. Mitte letzten Jahres merkte seine Lehrerin Heidi Ruwe dann, dass sich der junge Türke verändert hatte:
    Nach den Sommerferien kam Fatih sehr verändert wieder, hatte auch ein anderes Outfit, trat nur noch mit einer Wollmütze auf, gab sich entsprechend großspurig. Es fiel mir auch auf, dass er andere recht hart anging und er machte überhaupt nichts mehr und er kam permanent zu spät".

    Von der Lehrerin eingehend befragt, berichteten fast alle Schüler seiner Klasse, dass der körperlich eher zierliche Fatih sie drangsalierte. In den Pausen schlug er Mitschülern ins Gesicht, beschimpfte sie und belästigte Mädchen sexuell. Anfang Dezember 2002 wurde er per Konferenzbeschluss von der Schule verwiesen. Seine Betreuer, Lehrer und Sozialarbeiter entwickelten einen Therapieplan für den Jungen. Weil aber nicht genügend Personal vorhanden ist und die Ressorts chronisch unterbesetzt sind, sollte die regelmäßige Betreuung erst im Januar anlaufen. Doch dazu kam es nicht mehr. Fatih hatte sich einer brutalen Bande angeschlossen. Sie zogen durch die Stadt, auf der Suche nach Opfern und Geld. Ein 24jähriger behinderter Junge begegnete ihnen zufällig: Sie raubten ihn aus und traten ihn tot. Wenige Stunden später fanden sie ihr nächstes Opfer, einen 17jährigen. Auch ihn beraubten sie, malträtierten ihn mit Tritten so lange, bis sie glaubten, dass er tot sei. Doch er überstand den Überfall, lebensgefährlich verletzt.

    Diese Taten sind erschreckende Einzelfälle, bei denen Jugendliche offenbar aus Langeweile und um kleinster Beute willen zu Mördern wurden.
    Insgesamt ist die Jugendkriminalität aber rückläufig. Im vergangenen Jahr verzeichnete die Polizeiliche Kriminalstatistik rund 297.000 Tatverdächtige Jugendliche, also im Alter von 14-18 Jahren. Das waren 0,4 Prozent weniger als im Jahr 2001. Davon waren etwa 51.000 der Verdächtigen ausländische Jugendliche, das sind 3,8 Prozent weniger als im Vorjahr. Insgesamt ist im vergangenen Jahr die Zahl nichtdeutscher Tatverdächtiger bis zum Alter von 25 Jahren um 0,3 Prozent gesunken - eine Tendenz, die schon seit 1998 anhält.

    Mit Erstaunen registrieren Experten aber den Anteil tatverdächtiger türkischer Jugendlicher, der relativ hoch ist. Einerseits lässt sich das dadurch erklären, dass Türken auch die größte Gruppe der in Deutschland lebenden Ausländer stellen. Doch andererseits: Viele von ihnen sind hier geboren und aufgewachsen. Wie kommt es, dass gerade junge Türken der dritten Generation, die doch eigentlich besser integriert sein müssten, stärker auffällig werden, als die der ersten und zweiten Generation? Der Berliner Psychologe und Literaturwissenschaftler Haci-Halil Uslucan, beschäftigt sich seit längerem mit den Ursachen dieser scheinbar paradoxen Entwicklung:
    Eines der wichtigen sozialwissenschaftlichen Erklärungsmuster ist, dass man annimmt, in den ersten Jahren der Migration hält die Familie noch sehr zusammen. Sie hat ein klares Normensystem, die Hierarchien innerhalb der Familie sind klar. Auch aus der Not heraus werden Regeln befolgt, man lebt weitestgehend in ethnischen Nischen und hat ein Orientierungssystem für die Eltern wie auch für die Kinder. Wenn sie lange genug hier leben, dann brechen eigenethnische, das heißt in unserem Fall türkische Muster auf. Es fangen die Mädchen an, deutsche Rechte einzufordern, die Frauen emanzipieren sich und vielfach werden Männer unsicher. Sie haben das Neue an deutschen Erziehungs- und Umgangsformen noch nicht übernommen, wissen aber, das Alte ist nicht mehr ganz so gültig. Diese Verunsicherung kann sich auswirken in Gewalt.

    Warum fällt es immer mehr türkischen Jugendlichen - genauer gesagt: türkischen Jungen - so schwer, in der westlichen Gesellschaft zurecht zu kommen? Uslucan verweist auf die hohe Zahl von Risikofaktoren, die in vielen türkischen Familien anzutreffen seien: Türken, die nach Deutschland gingen, entstammten und entstammen in hohem Maße der Unterschicht. Das Heiratsalter der Mädchen ist traditionell niedrig, das Bildungsniveau - viele haben nur die fünftklassige Volksschule durchlaufen - gering. In den türkischen Familien findet sich überproportional häufig Armut und Arbeitslosigkeit. Nicht immer fühlen sich Türken von der Mehrheitsgesellschaft genügend respektiert und anerkannt.

    Und eine weitere wichtige Ursache liege wohl in der Erziehung. Viele türkische Jungen würden nicht gut genug auf die westliche Gesellschaft vorbereitet - selbst wenn sie hier aufwachsen. Auf dem vielfach vergötterten männlichen Nachwuchs laste eine große Bürde:

    Jungen können die Eltern viel, viel stärker enttäuschen als Mädchen. Wenn Mädchen in der Erziehung, in der Bildung versagen, sage ich mal, wenn sie die Bildung nicht schaffen, steht für sie immer noch der traditionelle Ausweg mit Heirat, Kinderkriegen, gute Ehefrau sein, das ist auch gesellschaftlich akzeptiert. Es ist kein großer Verlust, kein großes persönliches Versagen. Wenn aber in Jungen sehr viel investiert wird, sie zugleich sehr machohaft, sehr paschahaft verwöhnt werden, dann erwarten einerseits Eltern sehr viel, und hier in Blick auf die deutsche Gesellschaft ist der Umstand wohl wichtig, dass Kinder, die zu stark verwöhnt werden, die zu wenig auf Selbständigkeit getrimmt werden, Herausforderungen selbst meistern zu müssen.


    Selbstverständlich machen türkische Migranten nicht nur negative Schlagzeilen und jede Pauschalisierung verbietet sich von selbst. An deutschen Universitäten studieren mittlerweile mehr als 20.000 Studenten türkischer Herkunft. Vor allem Mädchen sind es, die über Fleiß und Bildung den gesellschaftlichen Aufstieg finden und die entstehende türkische Mittelschicht vergrößern.


    Sorgenkind bleibt aber eine kleine Gruppe muslimischer Jungen, die sich von der Mehrheitsgesellschaft abgelehnt fühlt, vom eigenen Elternhaus keine Unterstützung erfährt und sich als Mini-Rambo zum Schrecken von Polizei, Sozialarbeitern, und Bürgern entwickelt. Es sind dies männliche Jugendliche ohne jegliche so genannte Frustrationstoleranz, für die Gewalt ein legitimes Mittel zu sein scheint.



    Der Einsatz körperlicher Gewalt spielt in der türkischen Gesellschaft seit alters her eine große Rolle. Redewendungen, wie es sie im Deutschen kaum noch gibt, etwa: "Wer seine Tochter nicht beizeiten schlägt, wird es später bereuen" oder "Schläge kommen aus dem Paradies" sind auch heute durchaus noch zu hören.


    Vor einigen Jahren hat das kriminologische Forschungsinstitut in Niedersachsen eingehende Untersuchungen zum Thema Gewalt gemacht. Seine Befunde - die landläufigen Annahmen durchaus widersprechen - bestimmen mittlerweile die öffentliche Diskussion: Erstens: In den Familien gibt es viel mehr körperliche Gewalt als in den Schulen etwa. Zweitens: In etwa 10 Prozent der Familien kommt es zu massiver Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und Ehefrauen. Drittens: In türkischen Familien ist das Gewaltpotential mit 15 bis 20 Prozent deutlich höher als in vergleichbaren deutschen Familien. Opfer der Schläge seien nicht nur Kinder sondern auch Frauen, so der Kriminologe Peter Wetzels:

    ...und ein Junge erlebt dies mit, dann wird ihm ein sehr problematisches Rollenmodell vorgelebt, und junge Menschen, die beides erlebt haben, also Opfer gewaltförmiger Handlungen der Eltern waren und auch noch solche Beobachtungen gemacht haben, bei denen stellen wir fest, ist das Risiko, dass sie, wenn es sich um männliche Jugendliche handelt, sie selbst aktiv gewalttätig handeln, deutlich höher, als wenn sie solche Erfahrungen nicht gemacht haben.


    Dabei seien mit Gewalt in diesem Sinne keineswegs nur ein paar sporadische Ohrfeigen gemeint, hebt der Kriminologe hervor. Es ginge vielmehr um Formen massiver körperlicher Züchtigung, um Faustschläge ins Gesicht, Schlagen mit Gürteln, Verletzungen mit Messern, Zufügungen von Verbrennungen.


    Wer aber Täter wird, so sagen es die Kriminologen, der war nicht selten vorher Opfer. Gewalt in den Familien ist demnach für viele - zum Glück nicht für alle - der Grund, warum auch sie gewalttätig werden.


    Recherchen unter Strafgefangenen bestätigen diesen Befund. In der Justizvollzugsanstalt von Neumünster machen Muslime etwa ein Drittel aller Gefangenen aus. Viele sitzen hier wegen Drogendelikten, aber eben auch wegen schwerer Körperverletzungen. Sie berichten von Gewalt, die sie im Elternhaus erlitten haben und sind durchaus der Ansicht, dass es ohne oft auch gar nicht ginge. So Mehmet, der zu vier Jahren verurteilt wurde, und dessen Antworten übersetzt werden:

    Meine Vater schlagen zu mir, Hocam, tercumam missin. Ich bin oft geschlagen von meinem Vater. Er denkt immer, das ist die gute Erziehung mit Gewalt und so. Wenn mein Vater mich nicht geschlagen hätte, dann hätte es heute ganz schlimme Menschen geworden.

    Auch sein 31-jähriger Mitgefangener Mahmud sei mit Gewalt erzogen worden. Heute sieht er das kritisch:

    Ich war damals genauso eingeprägt in der Schule und. Genau den gleichen Fehler habe damals genauso gemacht. Das ist ja so, dass man eine gewisse Erwartung hat, seinen Stolz, oder dass man irgendwie, wie soll ich denn das jetzt formulieren. Man erwartet ja im Grunde genommen, dass man seine Familie gründen kann, dass man seine Frau aufpassen kann, und das kriegt man nicht auf einmal alles auf die Reihe, weil man in zwei Generationen aufwächst, und das übt dann natürlich automatisch Gewalt aus, ne. Und wenn irgendein falscher Spruch kommt, weil man sich auch irgendwie beweisen will, aber nicht ausdrücken kann, das macht automatisch dann Gewalt.
    In den türkischen Familien, in denen es häufig zu Gewalt kommt, beobachtet der Psychologe Haci-Halil Uslucan immer wieder ähnliche Problemlagen. Der Junge versagt in der Schule, darf aber nach außen keine Schwäche zeigen. Er wird renitent, die hilflose Mutter ruft den Vater zur Hilfe. Er ist es, der den Jungen wieder auf die rechte Bahn zu bringen soll; ein Vater, der selbst den Autoritätsverlust kompensieren muss, den er als Migrant in der westlichen Gesellschaft erleidet:

    Vielleicht ist das eine der großen Unterschiede zwischen den deutschen und der türkischen Kultur, dass vielfach der Vater auch von der Mutter instrumentalisiert wird als die harte, strafende Instanz. Wenn Mütter teilweise spüren, dass sie nicht mehr klar kommen, dann sagen sie, warte ab bis der Vater kommt. Das heißt, der Vater ist noch viel mehr zentrale strafende normgebende, regelsetzende Instanz. Mütterliche Gewalt wird teilweise auch ausgeglichen, kompensiert durch die starke mütterliche Fürsorge auch bei meinem Studien in der Türkei hat sich gezeigt, dass väterliche Gewalt sich viel gravierender auswirkt auf jugendliche Gewaltbelastung als mütterliche Gewalt, das heißt, eine Auflehnung gegen den Vater ist auch sozial viel stärker geächtet als eine Auflehnung gegen die Mutter.


    Nicht genug damit, dass in einigen Elternhäusern aggressives Verhalten gewissermaßen normenhaft vorgelebt wird. Es werde, so hat der Kriminologie Peter Wetzels herausgefunden, den Jungen häufig sogar auf den Weg gegeben, sich von anderen Jugendlichen nichts gefallen zu lassen. Ein Rat mit fatalen Folgen:

    Im Elternhaus ist nicht selten der Fall, dass die Reaktion der Eltern darauf, dass ein Jugendlicher enttäuscht ist, dass er sich zurückgesetzt fühlt und dass er auch die Erfahrung macht, dass andere ihm gegenüber mit Häme reagieren, mit Spott reagieren, mit Ausgrenzung reagieren, dass das nicht zum Anlass genommen wird, sich mit den Gefühlen dieses Jugendlichen auseinanderzusetzen, sondern oft auch aktiv mit der Anforderung, sich das nicht gefallen zu lassen, sich dort durchzusetzen, doch ein Mann zu sein.


    Auch im Alltag des 14jährigen Hamburger Türken Fatih, der zusammen mit Freunden einen anderen Jugendlichen brutal zusammenschlug und lebensgefährlich verletzte, gab es offenbar viel Gewalt, wie seine Lehrerin Heidi Ruwe weiß:

    Über den Vater weiß ich weniger, das weiß ich nur aus den Akten. Ich habe aber mitbekommen, dass die Mutter, die weinte ja auch so viel, dass der ältere Bruder Fatih körperlich züchtigte. Und das habe ich auch zur Sprache gebracht, als wir alle zusammengesessen haben, darum hatte Fatih mich auch gebeten, und die Mutter hat zugesichert, dass sie dafür sorgen würde, dass damit Schluss sei, aber es fand in der Familie sehr viel körperliche Gewalt statt, das war mein Eindruck.


    Dabei war Fatih keineswegs der einzige muslimische Junge, der seiner Lehrerin Sorgen machte. Kurze Zeit später erfuhr Heidi Ruwe von einem zweiten Fall in der Klasse, auch ein muslimischer Junge, der nicht weniger brutal vorging und dessen massive Drohungen ebenfalls dazu führten, dass die drangsalierten Mitschüler ihr Wissen über viele Monate für sich behielten:

    Ich habe türkische Mädchen in meiner Klasse, drei, zauberhaft, hilfsbereit, mit so viel sozialer Kompetenz, die muss man wirklich suchen, fleißig, aber nicht angepasst. Und dann wiederum habe ich in Fachklassen türkische Jungen, sie stören, sie sind nicht bereit, zuzuhören, sie ziehen andere ab, und das ist wirklich so. Ich würde sagen, der größte Teil der Disziplinarkonferenzen, die wir haben, ist oft wegen muslimischer Jungen. Sie werden scheinbar anders erzogen.

    Lehrerin Heidi Ruwe ist eine erfahrene Pädagogin, die sich sehr stark in der so genannten Streitschlichterausbildung engagiert. Dabei sollen die Schülerinnen und Schüler lernen, bei Konflikten unter Gleichaltrigen an der eigenen Schule vermittelnd einzugreifen. Eigentlich ein erfolgreiches Modell, meint die Pädagogin:
    Mit moslemischen Jungen habe ich die Erfahrung gemacht, dass sie sehr schnell gewaltbereit sind, sich sehr schnell angegriffen fühlen. In der Streitschlichterausbildung haben wir festgestellt, haben wir noch nie einen muslimischen Jungen gehabt und wenn, dann waren die immer nur ein, zwei mal da und sind dann von sich aus weggeblieben. Wir haben immer muslimische Mädchen ausgebildet.

    Was der Lehrerin in ihrem täglichen Umgang mit Problemkindern auffiel, liefert eine weitere Antwort auf die Frage, warum gerade diese Jungen gelegentlich "ausrasten", um im Pädagogenjargon zu bleiben:
    Die sind nicht in der Lage zu einem Perspektivenwechsel. Zum Beispiel, einen Stuhl zu tauschen und zu sagen, versetz dich jetzt mal in die Lage von dem anderen, das können die nicht.

    Auch in deutschen Familien spielte, wie Untersuchungen eindeutig belegen, körperliche Züchtigung früher eine größere Rolle. Mittlerweile hat der Gesetzgeber allerdings die körperliche Züchtigung ausdrücklich verboten. Und so findet in der Gesellschaft langsam ein Umdenken statt.


    Ein Umdenken, welches sich aber noch nicht überall durchgesetzt hat. Im Gegenteil: Der oft anzutreffende Männlichkeitskult innerhalb der türkischen Kultur erhält auch hier immer wieder neue Nahrung aus der Türkei selbst. Junge Türken in Deutschland heirateten immer noch - oder verstärkt - Frauen aus der Türkei, so der Berliner Psychologe Haci-Halil Uslucan:
    Dahinter ist auch die Vorstellung von der Reinheit der türkischen Mädchen im Gegensatz zu den deutschen, im Gegensatz aber auch zu den emanzipierten türkischen Mädchen hier, weil wie vermutet, die werden sich beispielsweise auf bestimmte traditionelle Rollenmuster nicht einlassen, zum Beispiel das Zusammenleben mit der Schwiegermutter, sie werden auf familiäre Werte nicht mehr soviel Wert legen.

    Für überwunden gehaltene Verhaltensweisen, die in den ländlich strukturierten Gebieten der Türkei womöglich ihren Sinn haben, werden auf diese Weise immer wieder neu nach Deutschland importiert.
    Dadurch passiert folgendes: Es werden natürlich immer wieder neue erste Generationen reproduziert. Indem eine Frau aus der Türkei kommt, die vorher keinen Kontakt mit Deutschland hatte, bringt sie ihre eigenkulturellen Standards mit nach Deutschland. Und vielfach ist sie mit der Erziehung der Kinder beauftragt und sie wird dann - wenn sie es nicht anders gelernt hat - die Erziehungsziele an ihre Kinder weiter geben, mit denen sie selber erzogen worden ist. Dadurch trägt sie ein Stück weit Tradition und Rückständigkeit in die deutsche Gesellschaft, und die ursprünglichen Abstände werden reproduziert.

    Es bedarf, da sind sich alle Experten einig, großer Anstrengungen in den nächsten Jahren, um den Umfang der Jugendkriminalität im Migrantenmilieu zu reduzieren. Der Kriminologe Christian Pfeiffer, der frühere Justizminister Niedersachsens, mahnt eine Kultur des Hinschauens und der Anerkennung an. Gute Deutschkenntnisse, ein Schulabschluss und eine gute Ausbildung, dass sind die unverzichtbaren Zutaten für eine gute Integration. Andererseits wird auch die türkische Gemeinschaft mehr für ihre Jugendlichen tun müssen. Türkische Eltern sind Vorbilder für ihre Kinder. Viel zu selten engagieren sie sich an den Schulen und professionelle Hilfe, selbst bei massiven eigenen Problemen, nehmen sie kaum in Anspruch. Zudem ist eine allgemeine Gewaltdebatte in den türkischen Massenmedien überfällig.


    Für den vierzehnjährigen Fatih kommt all dies zu spät. Der schmächtige Junge wurde vor kurzem vor einer großen Strafkammer des Hamburger Landgerichts zu vier Jahren Gefängnis verurteilt - wegen versuchten Totschlags. Sein nur wenig älterer Kumpel Emrah erhielt acht Jahre wegen versuchten Mordes.