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Bleierne Zeit

Die deutsche Nachkriegsgeschichte vollzog sich beinahe bruchlos in einem zähen Weiter so. Das ist Hans Ulrich Gumbrechts zentrale These in "Nach 1945". Es ist ein Geschichtsbuch im besten Sinne, in dem der Romanist die Untiefen der Dekade nach dem Zweiten Weltkrieg ausleuchtet.

Von Werner Köhne | 02.01.2013
    Historische Ereignisse, literarische Zeugnisse und individuelle Erfahrung: wie lassen sie sich zu einer Prosa gestalten, die sich nicht dem Ideologieverdacht der "großen Erzählung" aussetzen will?

    Hans Ulrich Gumbrechts überaus anregendes Buch mit dem Titel "Nach 1945" ist ein Geschichtsbuch im besten Sinne. Es liefert auf den ersten Blick ein lockeres Kaleidoskop von Fakten, Geschehnissen und gedanklichen Intuitionen, die sich auf die Stimmungslage in der Nachkriegszeit richten – aber je tiefer man in das Buch hineinfindet, desto mehr verschafft es einem das Glücksgefühl: eine Erkenntnis, mit der man nicht gerechnet hat.

    Gumbrecht, Jahrgang 1948, ist ein Nachkriegskind, das sich später zu einem 68er auswuchs. In dieses generationsspezifische Raster mochte nicht recht passen, dass er mit 40 Jahren als Romanist eine Professur an der renommierten Stanford Universität in Kalifornien annahm. Leben und Geld verdienen in den USA: das war in den achtziger Jahre immer noch ein heikles Thema für deutsche Intellektuelle. Nach nun 25 Jahren Lehrtätigkeit in Stanford erinnert Gumbrecht an das Dilemma damals: es ging um das richtige Leben, was bedeutete: um starre Haltungen.

    "Zunächst als Stundenbewegter 68er, als SDS-Mitglied bin ich als Jungprofessor nach Amerika gereist und habe mit schlechtem Gewissen eine Professur in Kalifornien angenommen, weil ich dachte, man kann doch nicht in die USA reisen. Und dann hatte ich ein schlechtes Gewissen, als ich nach zwei, drei Tagen bemerkte, wie gut mir das da gefiel, die Landschaft am Pazifik. Das bedeutete jetzt nicht damals bis heute, dass ich die problematischen Momente des Landes übersehen wollte, das heute mein Land ist, das ich als mein Land gewählt habe mit den USA Citizenship, aber man war geografisch sehr weit weg von der deutschen Geschichte. Das bedeutet bis heute nicht, dass ich vergessen wollte, wo ich geboren bin und wo ich aufgewachsen bin, aber es ist eine geografische Distanz, die sich in gewisser Weise – so empfinde ich es – als Befreiung psychisch ausgewirkt hat."

    Das Initiationserlebnis erleichtert uns den Zugang auf das vorliegende Buch und dessen zentraler These: Geschichte – hier erst einmal die Nachkriegsgeschichte in Deutschland - vollzog sich beinahe bruchlos in einem zähen Weiter so, aber zuweilen ließ sich später aus den Fängen der bleiernen Kontinuität ausbrechen. Eine Entkrampfung stellte sich ein, ein Ja-Sagen zur Welt. Eine ähnliche Erweckung hatte der Student Hans Ulrich Gumbrecht schon 1972 erlebt, in München. einen Tag vor den olympischen Spielen. Er lief über die Wiesen des Olympiageländes:

    "Das waren ja die späten 60er und früheren 70er-Jahre, die Aufbruchszeit, diese Willi Brand Zeit, ein Bundeskanzler, der in der Emigration in patriotischer Weise gegen die Nazis gekämpft hatte – und das war das, was die olympischen Spiele zumindest von der Konzeption her materialisieren und verkörpern sollten. Und die Architektur, das Design die Farben, das Ganze Farbenspektrum - die Spiele sollten ja heißen die heiteren Spiele –: das gab mir das Gefühl, ja das ist mein Land - das war eine Befreiung von einer schwer traumatisierenden Vergangenheit, die wir nicht vergessen wollten, die wir aber vielleicht hinter uns lassen konnten – und das ist ja dann durch das Attentat auf die israelischen Athleten nicht vereitelt worden, sondern kollabiert, weil man dann dachte, die Vergangenheit ist immer noch nicht hinter uns geblieben."

    "Latenz als Ursprung der Gegenwart" lautet der ambitionierte Untertitel des Buches. Und mit ihm wendet sich Gumbrecht den Abgründen und Untiefen der Dekade nach dem Zweiten Weltkrieg zu. Eine Zeit, die auch heute noch etwas phantomhaftes ausstrahlt, etwas Quälendes, das sich wie Mehltau auf die jeweilige Gegenwart legte. Warum nur? Lag es an der fehlenden Dramatik der Aufräumarbeiten damals oder an einer seltsamen Blindheit gegenüber dem, was kurz zuvor geschehen war – 50 bis 100 Millionen Kriegstote?

    Gumbrecht beginnt seine Untersuchung mit einem Vergleich. Was unterschied im Bewusstsein der Menschen, vor allem der Intellektuellen, den Zweiten Weltkrieg vom ersten Weltkrieg?

    "Da war nach dem ersten Weltkrieg eine entscheidende Erfahrung des Bruchs, während nicht nur ich das Gefühl habe, dass die Erfahrung des Einbruchs, des So nicht mehr weitermachen Könnens in Reaktion auf den zweiten Weltkrieg weniger deutlich, weniger einschneidend weniger dramatisch war – dass zwischen den zerstörerischen Spuren, die der eine und der andere Krieg hinterlassen hatte, auf der einen Seite und den Reaktionen der Intellektuellen auf der anderen Seite, es eine paradoxale Umkehrung gibt. Also der Krieg, der viel stärker markierende Narben auf der Oberfläche des Planeten und den Menschen hinterlassen hat, ist der Krieg, der viel weniger direkte intellektuelle Reaktionen hervorgerufen hat."
    1945: Die Hiroshimabombe war abgeworfen, den Bewohnern von Weimar der Gang durch das kurz zuvor von den Alliierten befreite Vernichtungslager Buchenwald verordnet worden. Die Obsession für das Ökonomische ließ die Deutschen bald schon ihre traumatischen Erfahrungen vergessen. Alexander Mitscherlich hat damals von einer kollektiven Verdrängung gesprochen, der Unfähigkeit der Deutschen zu trauern. Gumbrecht geht einen anderen Weg. Und hier kommt Latenz ins Spiel. Was er darunter versteht, zeigen Erfahrungen, die er als Kind machte:

    "Ich bin in der am zweit meisten zerstörten Stadt in Europa aufgewachsen, in Würzburg. Mit den Gleichaltrigen habe ich mit großer Begeisterung in den Ruinen gespielt. Ich wusste zugleich, dass es – um es fränkisch auszusprechen – einen 'Gkrieg' gegeben hatte, aber ich hatte nicht unbedingt den 'Grkieg' als Grenze und Schwelle mit den Ruinen zusammengebracht. Das fiel mir erst auf, als ich mit sechs Jahren mit meinen Eltern erstmals ins Ausland fuhr, in die Schweiz und plötzlich hatte ich großes Mitgefühl mit den armen Schweizer Kindern, die keine Ruinen hatten. Warum haben die keine Ruinen? Und da haben meine Eltern gesagt: Ja da gab's doch keinen Krieg – und da hab ich das verstanden. Das war so ein sprechendes Beispiel von Latenz. Also keine Verdrängung, sondern eine Scheu, über bestimmte Dinge zu reden."

    Gumbrecht belässt es nicht bei der persönlichen Erfahrung. Auf der Suche nach Spuren in einer auf Spurenverwischung ausgerichteten Nachkriegsgesellschaft stößt er auf literarische und philosophische Zeugnisse. Auf Samuel Becketts "Warten auf Godot", Sartres Drama "Die geschlossene Gesellschaft" und Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür". Sie werden hier nicht als zeitenthobene Fanale der Moderne verstanden, sondern zu Zeugen einer historisch verortbaren Stimmung. Bedrohung, Unfassbarkeit, Unausweichbarkeit werden Thema der Autoren. Gleiches gilt für die Philosophie Martin Heideggers und sogar für die Liedtexte der Sängerin Edith Piaf. Es ging allen um die condition humane in einer extremen geschichtlichen Situation, die weder Präsenz noch Echtheit und Welthaltigkeit erlaubte:

    "Ich habe in dem Buch drei Konfigurationen – vor allem einmal das im Vordergrund stehende Gefühl einer Klaustrophobie, dass es keinen Ausweg und keinen Eintritt geben kann, dann das Gefühl, dass man sich nicht transparent sein kann, nicht authentisch ist. Und dann noch das Gefühl einer Abweichung von der Geschichte, wie sie vorgegeben war, und das Gefühl, sich gegen diese Abweichung zu schützen. Das sind sozusagen psychische Teilreaktionen, für die einzelnen dieser Autoren stehen aber erst zusammen in ihrer Verfugtheit ergeben sie das, was ich Latenz nenne. Latenz war eine Stimmung, zu der gehörte, dass man sie gar nicht so leicht benennen kann.

    In dieser Hinsicht glaube ich, dass literarische Texte oft lateral zu der Absicht ihrer Autoren bestimmte historische Momente absorbieren und mithin etwas von der Stimmung historischer Momente bewahren und für uns heute vergegenwärtigen können."

    Eine steile These, die sie sich nicht nur an deutschen Verhältnissen bewähren soll, sondern an der weltweiten Entwicklung überhaupt. Auch bei spanischen und brasilianischen Autoren spürt der Romanist Gumbrecht diese Latenz auf - ein weltweites Paradigma also: Nach 1945 "staut" sich die Zeit: die Vergangenheit ragt dumpf in die Gegenwart hinein, die Zukunft öffnet sich nicht, es bleibt eine undurchdringliche Gegenwart.

    Die Frage ist: Konnte sich diese beklemmende Stimmung auflösen oder stehen wir noch in ihrem Schatten? Gumbrecht nutzt das letzte lange Kapitel dazu, den Faden der Geschichte der Latenz weiterzuverfolgen, nun aber allein unter dem Neigungswinkel seiner Biografie:

    "Im letzten Kapitel versuche ich nicht die breite historische Situation zu beschreiben, sondern was meine Generation damit gemacht hat, dass sie unter dem Eindruck dieses Latenztraumas aufgewachsen ist. Ein guter Freund, Peter Sloterdijk, hat gesagt – und das war ein schönes Kompliment -, du hast das Epos der Bewegung unserer Generation geschrieben, wie sie sich aus dem historischen Weltbild herausdreht."

    Mit dem historischen Weltbild war einmal die Idee des Fortschritts gemeint, die für die 68er die brüske Überwindung der Vergangenheit einschloss. All das stand aber noch im Bann der Latenz, folgert Gumbrecht – eine These, die auf eine Clique von Intellektuellen beziehbar ist, aber kaum auf das Gesamtphänomen 68.

    Warum finden etwa die Beatles, Jack Kerouac, die unzähligen Erlebnisse von Befreiung in den sechziger und siebziger Jahren bei Gumbrecht kaum Erwähnung? Warum wird das Muster Vatermord, Kaderbildung, RAF und Deutscher Herbst wieder einmal als Standarderzählung abgerufen.
    Nach dem Ende der Großen marxistischen Erzählung ist allerdings auch keine erfüllte Zeiterfahrung getreten, sondern – wie Gumbrecht vermerkt - ein eher planlos additives und überhitztes Zeitmaß, dem wir uns inzwischen unterordnen als Surfer auf dem großen Flow der Gegenwart. Und was die Geschichte betrifft: Die Mär vom Ende der Geschichte ist ebenso latenzhaltig geblieben wie ihre nach 1990 groß ausposaunte Rückkehr. Gelassenheit tut da gut – wie Gumbrecht schließlich zu recht anrät – und ein Schuss Selbstironie und Humor. Neben blitzartig gescheiten Erkenntnissen vermittelt dieses Buch vor allem eins: hier spricht kein Renegat oder verbiesterter Ex, hier sitzt einem ein angenehmer Gesprächspartner gegenüber, den man sich nach dem Krieg als Vater gewünscht hätte.

    Hans Ulrich Gumbrecht: Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 355 Seiten, 24,95 Euro