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Blick hinter die Bühne einer medialisierten Gegenwart

Sven Hillenkamps neues Buch "Fußabdrücke eines Fliegenden" besteht aus rund 200 kurzen Texten: Prosaskizzen, Aphorismen, Gedichte. Sie erzählen von dem, was wir nicht sehen. Von paradoxen Gegensätzen und einem Leben hinter den Kulissen.

Von Annette Brüggemann | 30.04.2012
    Sven Hillenkamp: "Irgendwann tritt das ein, glaube ich, dass immer mehr Schriftsteller die Erfahrung machen, dass in der Welt der Sichtbarkeit die Dinge beschrieben sind und dass man deshalb einen hundert Prozent artifiziellen Weg einschlagen muss, der, das kann ich für mich zumindest sagen, in einer radikalen Enthaltsamkeit von Beschreibung besteht und der in Richtung Künstlichkeit weist."

    In Zeiten medialer Landschaften, in der Fernsehkanäle und Datenströme ein Erinnern durch allgegenwärtige Präsenz ersetzen; in Zeiten einer Rationalisierung privater Lebensbereiche, in denen jeder geheimnisvolle Winkel ausgeleuchtet und psychologisch reflektiert wird, steht das Erzählen auf dem Prüfstand. Welche Sprache ist noch die eigene im Gemurmel unzähliger Stimmen und Meinungen? Welches Phänomen ist literarisch relevant und noch nicht beschrieben? Wo ist noch Platz im lichten Blätterwald leichter Unterhaltungsliteratur?

    Sven Hillenkamp hat mit seinem Buch "Fußabdrücke eines Fliegenden" eine radikale Schneise geschlagen. Schon der Titel formuliert ein spannendes Paradoxon – eine rhetorische Figur, die sich durch die gesamte Machart des Buches zieht:

    Zitat: "Mich umgeben Bilder von täuschender Tiefe. Sie sind bewohnt von keinem Menschen. Sie beginnen und enden auf meiner Netzhaut. Ich dachte, kein Mensch habe je in einer so weitläufigen Welt gelebt wie ich. Tatsächlich lebte nie einer auf engerem Raum."

    Es ist ein Buch, das das Schwere wagt. Es wendet den Blick nach innen und versucht, psychischen Vorgängen eine eigene Sprache zu geben. Phänomenen wie Stillstand, Blockade, Schmerz, Einsamkeit, Distanz, der Verlust von Liebe, Nähe, Sprache und Identität. Dabei vermeidet Sven Hillenkamp jeglichen psychologischen Fachjargon. Ein naturalistisches Abbilden von Gefühlen findet nicht statt. Stattdessen liefert Sven Hillenkamp literarisch artifizielle Miniaturen: kurze Prosatexte, Gedichte, Aphorismen und Gedankensplitter, die immer wieder um innere Erkenntnisse kreisen.

    Sven Hillenkamp: "Es ist ein Buch, das immer wieder einen Erfahrungsraum durchschreitet, was man in der Musik vielleicht Konzeptalbum nennt, was aber in der Lyrik eigentlich etwas Übliches gewesen ist, also Rilkes Stundenbuch. Selbst noch ein locker komponiertes Buch wie die "Blumen des Bösen", da wird ja auch ein Raum immer wieder durchschritten."

    Wie in einem Marionettentheater prägen zwei Figuren, schablonenhaft und karikiert, Sven Hillenkamps Buch: Nils Nycander und Billy. Nils Nycander ist Schriftsteller. Distanziert, abgeklärt und nüchtern reflektiert er seine Abneigung gegenüber der konstruierten heilen Welt von Romanen und das eigene Schreiben. Billy ist sein jüngerer Antipode und ewige 24 Jahre jung. Billy lebt und erlebt, ohne Entwicklung. Und ist sich in seiner Unschuld vollkommen ausgeliefert.

    Zitat: "Nils Nycander sagte: "Zursprachefinden ist ein langsames Verstummen." - "Weil in meinem Leben", sagte Billy, "alles starr ist, nichts sich bewegt, nichts sich ändert, nehme ich nicht an, dass es einen Tag gegeben hat, eine Sekunde, in der dies Leben angefangen hat, von einem Nichts jäh zum Etwas werdend in unendlicher Beschleunigung und Geschwindigkeit. Wie sollte etwas, das einen Anfang hat, übergehen können in Ewigkeit?""

    In kurzen Monologen lassen Nils Nycander und Billy ständig wechselnde groteske, imaginäre Szenerien entstehen. Über rund 200 Texte hinweg entsteht so ein großes, nicht-lineares Textfragment:

    Sven Hillenkamp: "Man kann sich diese sehr kurzen Texte so vorstellen wie Bewusstseinsinseln in einem Meer von Bewusstlosigkeit. Und da schlagen die Wellen dann gleich wieder drüber. Und diese Insel versinkt wieder."

    Der Strom, der die Texte Sven Hillenkamps im Untergrund vorantreibt, ist einer, der der klassischen modernen Literatur und Sprachskepsis entspringt. Hugo von Hofmannsthal beschrieb 1902 in seinem berühmten "Brief des Lord Chandos an Francis Bacon", wie diesem die Fähigkeit zusammenhängend zu denken und zu sprechen abhandengekommen ist. Doch Lord Chandos verstummt nicht, sondern schreibt darüber und dringt so in vermeintlich unsagbare Dunkelzonen vor.

    Sven Hillenkamp hadert mit der Sprache wie Hofmannsthal, doch mobilisiert er dafür kein neues Heer von Metaphern. Ganz im Gegenteil weigert er sich, seiner Sprache Gewicht und Bedeutung zu verleihen. Entsteht so etwas wie Eindeutigkeit, wird diese sofort wieder aufgelöst und ins Absurde überführt:

    Zitat: "Ichtum. Er irrlag dem aftalen Ertum, der im Tathalt besachte, das Andern der Blicke für sein Ichtum zu standen."

    In aller Konsequenz werden die rund 200 Texte in Sven Hillenkamps Buch immer kürzer, bis keine Zeilen und Zeichen mehr übrig bleiben. Nur die rätselhaften Spuren eines Schwans sind noch sichtbar – wie in der Titelgeschichte von Sven Hillenkamps Buch berichtet wird:

    Zitat: "Fußabdrücke eines Fliegenden. Am Strand von Mälarhöjden wurde ein Schwan beobachtet, der – in der für Schwäne üblichen Weise – noch lief über den Sand, während er bereits mit den Flügen schlug (oder mit den Flügeln noch schlug, während er bereits über den Sand lief), der jedenfalls eine Ewigkeit, wie es später hieß, fliegend Spuren hinterließ, dann, während die Zuschauer, die höher auf den Klippen saßen, sich schon fragten, ob der Schwan nun landete oder startete, plötzlich verschwunden, weder am Himmel noch in dem den Strand begrenzenden Gehölz zu sehen gewesen war. Die Zuschauer konnten sich nicht einmal einigen, ob der Schwan von links nach rechts oder von rechts nach links sich fortbewegt hatte. Auch die Abdrücke, die zur linken Seite hin deutlich an Umfang und Tiefe abnahmen, gaben keinen Aufschluss darüber, ob der Schwan in nämlicher Richtung gestartet oder in Gegenrichtung gelandet war. Unter den Leuten entstand im Übrigen der Eindruck, dies Tier habe weder landen noch starten können, sei weder für die Höhe noch für die Erde bestimmt gewesen."

    Ein schwarzer Schwan galt im naturhistorischen Wissen der Neuzeit als Unmöglichkeit. Und doch tauchte er auf, als Zufall der Evolution. Sven Hillenkamps Texte fallen ähnlich überraschend aus.

    Mit Nils Nycander und Billy blicken wir hinter die Bühne einer medialisierten, von Bildern überfrachteten Gegenwart. Hinter die heitere Illusion eines "everything is possible". Grinsend halten Nils und Billy uns ihren düsteren Zerrspiegel vor.
    Sven Hillenkamps "Fußabdrücke eines Fliegenden" hinterlassen eine stille Zäsur im bunten Programm literarischer Neuerscheinungen. Seine Notizen vom anderen Ende der Welt sind nicht auf Popularität aus – das macht sie, trotz aller Sperrigkeit, sehr interessant.

    Buchinfos:
    Sven Hillenkamp: "Fußabdrücke eines Fliegenden", Klett-Cotta Verlag, 224 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, ISBN: 978-3-608-93964-4, Preis: 19,95 Euro