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Blick in die Feuilletons

"Wie würde ich werden, wenn ich täglich in Haifa mit dem Linienbus zur Arbeit fahren müsste?", fragt Ulrich Beck in der "Süddeutschen Zeitung", in Tagen, in denen ein Bombenterror unbekannten Ausmaßes den Mittleren Osten und Istanbul erschüttert. Beck fährt an anderer Stelle fort: "Sichtbar wird eine verräterische Einäugigkeit der Deutschen und Europäer. Man protestiert gegen die israelische Militanz und übersieht leichtfertig, den Selbstmordterror, mit dem Palästinenser die israelische Zivilgesellschaft tyrannisieren".

    Beck spricht in einer Woche, in der es auch in Westeuropa zu Anschlägen gekommen ist, von einer "türkischen Intifada" und einer "französischen Intifada" und kommt zu dem Schluss, dass wir uns auf dem Wege zu einer "Globalisierung der Emotionen" befinden. "Die Theorie der Identität, der Gesellschaft und der Politik", schreibt er, "die davon ausgeht, dass wir nach wie vor in klar gegeneinander abgegrenzten, nationalstaatlich organisierten Containern leben, wird historisch falsch. Auch das Mitleiden ist in der globalisierten Fernsehkultur nicht länger an das nationale Freund-Feind-Schema gebunden. Seit die Fernsehbilder der Kriegshandlungen und ihrer Opfer überall empfangen werden, begreift man, dass Gewalt in einem Winkel des Globus Gewaltbereitschaft in vielen anderen Winkeln des Globus hervorbringen kann. Wenn Zivilisten und Kinder in Israel, Palästina, im Irak oder in Afrika leiden und sterben, und dieses Leiden in ergreifenden Bildern in den Massenmedien präsentiert wird, dann entsteht ein kosmopolitisches Mitleiden, das zur Stellungnahme aufruft".

    Nachbetrachtungen zum SPD-Parteitag in Bochum stellt Franz Walter, der Göttinger Parteienforscher, in der "Süddeutschen Zeitung" an. Niemandem falle derzeit auf, so Walter, "dass wir jetzt vielleicht tatsächlich am Ende der Volksparteien, wie wir sie kannten, angelangt sein könnten. Denn sie verlieren all das, was sie einst groß, stark und stabil gemacht hat. Sie verlieren ihre Leitziele, ihre historischen Subjekte, ihre sozialen Verwurzelungen. Und sie bleiben ohne Talente und Nachwuchs. Man mag sagen: sie reproduzieren sich nicht mehr".
    Walter beschreibt in der Folge, wo die SPD ihre "Kraftquellen" und "Emanzipationsüberschüsse" gelassen hat. "Das ehemals aktive Subjekt der SPD, die Elite der Facharbeiterschaft, hat die Arbeiterklasse im letzten Vierteljahrhundert verlassen und ist im Zuge der ersten Bildungsreform in den 1970er Jahren in die akademische Dienstleisterklasse der neuen Mitte aufgestiegen. Der Vater war noch Dreher, der Sohn avancierte dann zum Studienrat, und ein wenig später rückte auch die Tochter in den öffentlichen Dienst auf – solche Karrieren findet man im sozialdemokratischen Personal tausend-, ja hunderttausendfach. Und in diesem Prozess ist die SPD insgesamt sozial hochgeklettert und ebenfalls in der Mitte des bundesdeutschen juste milieu angelangt".

    Walter meint, dass diese Entwicklung die SPD "politisch entleert, sozial enger, kulturell dünner" hat werden lassen. Neu sei das allerdings nicht. Man habe das historisch hundertfach erlebt. "Der Erfolg frisst die eigenen Voraussetzungen unerbittlich auf. Die SPD leidet, kurzum", so das Resümee von Walter, "am eigenen Erfolg. Die Sozialdemokraten haben es geschafft, - und eben das macht ihnen zu schaffen".

    Sonja Zekri beschreibt in der "Süddeutschen Zeitung" den großen Grenzverkehr, wie die Titelzeile lautet, zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik. "Eine Zeit lang galt Kinderkleidung im Fenster als Signal. Oder ein Kinderwagen vor dem Haus: Als Zeichen für die Männer im Mittelklassewagen, die aus Sachsen, Bayern oder dem Rest der Republik über die Grenze nach Tschechien fuhren. Nach Cheb, As oder Karlovy Vary und in all die anderen Orte, die Tschechien in den letzten Jahren in eine Art Thailand unter den EU-Beitrittskandidaten verwandelt haben, in eine Region, die der Polizeipsychologe Gallwitz "das größte Freiluftbordell Europas" nennt". Manchmal", beschreibt Sonja Zekri ihre Eindrücke, "erreicht die Karawane aus Deutschland Konvoistärke".

    Zur Realität an der deutsch-tschechischen Grenze wenige Wochen vor der EU-Osterweiterung weiß die Autorin ferner zu berichten, dass manchmal auch Ehepaare nach Tschechien reisen. "Sie geht zum Friseur, er besucht eine Prostituierte. Billiger Sprit, billiges Essen, billiger Sex", so der Sprecher der grenznahen tschechischen Stadt Cheb, "das sei das "klassische" Programm".

    In Deutschland macht unterdessen ein Amerikaner Furore. Er füllt die großen Säle der Republik nach Belieben. Die Rede ist von Michael Moore, bei dem alle 15 Sekunden das Wort Bush fällt. Jochen Förster beschreibt in der "Welt" einen Auftritt in der Berliner Columbiahalle. "Michael Moore hat drei Themen und einen Witz", berichtet Förster. "Erstens: die US-Regierung verkauft ihr Volk für blöd. Zweitens: das Volk lässt sich für blöde verkaufen. Das aber, drittens, immer weniger, da derzeit "tons of millions" an US-Bürgern zu kapieren beginnen, dass es so nicht weitergeht. Was sich viertens, den Amerikanern und dem Rest der Welt ganz gut verkaufen lässt, indem man über sich selbst lacht. Also mimt Moore den dummen Amerikaner, der nicht weiß, wo der Irak liegt, Fußballregeln nicht begreift und am Gartenzaun seine Weltsicht begrenzt".

    Förster ortet unter den 1500 Zuhörern "einen neuen linken Positivismus. Das Wiehern der Selbstgerechten führt ein strenges Regiment". Förster beschließt: "In Berlin präsentiert sich Michel Moore als hochprofessioneller Unterhalter. Die geistige Einzelligkeit indes, die er kritisiert, trifft ihn selbst, ...lösen sich die Grenzen zwischen George W. Bush und Michael Moore erschreckend schnell auf."
    Holger Kreitling schreibt in der "Welt" zu einer Kennedy-Ausstellung in Berlin und zu den Nachwirkungen seiner Ermordung vor genau 40 Jahren in der Pop-Kultur: "Der Traum von der "new frontier", Kennedys griffige Aufbruchs-Metapher, zerbrach auf der Elm Street. An das Attentat knüpft sich bis heute der Glaube vom Ende der Unschuld der USA. Wenn selbst Superman in einem Comic-Heft von 1964 den Präsidenten ehrt, muss John F. Kennedy der letzte gute Geist der sechziger Jahre gewesen sein. Superman irrt nie".