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Blick in die Feuilletons

Die Woche begann mit einem verwunderten Rückblick auf die Ehrungen vom Wochenende. Alexander Kluge hatte den Georg-Büchner-Preis bekommen, aber auf die Frankfurter Rundschau wirkte der Preisträger, der seine Dankrede frei vorgetragen hatte, zwar optimal entspannt, die Rede aber war brillant und fahrig zugleich. In der FAZ sah Hubert Spiegel:

    In seiner Dankesrede zeigte der Preisträger, dass auch Gründe der Bequemlichkeit für die Metamorphose sprechen können, und führte, gemächlich seine Zettel sortierend, vor, wie sich bereits am Vorabend Vorgetragenes mit Prosastücken seines letzten Buches und anderen Fragmenten eben nicht zu einer Preisrede fügen wollte. Das hatte den nonchalanten Charme des Improvisationskünstlers, atmete aber auch ein wenig von der Geringschätzung jener Institution gegenüber, die den Büchnerpreis für ein Lebenswerk vergibt und eine große Rede dafür erwartet. Die hat Kluge nicht gehalten. Statt dessen hat er am lebenden Objekt vorgeführt, wie seine Texte wirken: nicht als geschlossene Form, die eine präzise zu benennende Erkenntnis transportiert, sondern als Materialsammlung und Reflektionsangebot. Dieser Autor dekoriert kein Schaufenster, er gewährt freundlichen Zugang zu dem Steinbruch seines Denkens. Alexander Kluge ist kein narrativer Weltenschöpfer, er ist der empathische Weltenbeobachter, nicht der unbewegte, sondern der nervöse, der bewegte Beweger.

    In Berlin wurde die Aufstellung der 2700 Beton- Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas gestoppt, weil die Firma, welche die Stelen-Oberflächen gegen Wetterwidrigkeiten und Sprayerattacken versiegeln sollte, eben jene Degussa ist, deren Tochter DeGesch einst das Todesgift Zyklon B nach Auschwitz geliefert hatte.
    Eine umstrittene Maßnahme. Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung:

    Tatsächlich fragt man sich, warum die Degussa nicht die Sensibilität aufbrachte, der Ausschreibung fern zu bleiben. War ihr angeblich besonders günstiges Angebot eine Art Spende? Dann hätte sie als solche deklariert werden müssen, um nicht den Verdacht zu erregen, dass hier diejenigen, die schon am Holocaust verdient haben, auch am Gedenken verdienen wollen. Wer allerdings die Gründe des Kuratoriums teilt, kann dieses Denkmal kaum von deutschen Firmen bauen lassen.

    Auch der Architekt Peter Eisenman sprach sich gegen den Ausschluss von Degussa aus. Eisenman in der ZEIT:

    Indem wir Degussa das Recht an einer Beteiligung absprechen, erlauben wir es der Vergangenheit, uns blind zu machen für all das, was sich bis heute getan hat.

    Überhaupt war die letzte Woche deutlich geprägt von der Frage, an welcher Stelle die deutsche Erinnerungskultur nach Günter Grass Im Krebsgang, nach den Diskussionen über das Zentrum gegen Vertreibung, nach dem neuesten Buch von Jörg Friedrich, angekommen ist. Günter Franzen hatte zu Beginn der Woche im Spiegel den Anfang gemacht: Ohne die Vorgängigkeit deutscher Verbrechen zu leugnen, stellte er fest, dass auch bei den deutschen Opfern der Schrecken des Krieges, der diese vielen Einzelnen ganz unbestreitbar im Zustand der vollkommenen Wehrlosigkeit überwältigte, durchaus ein eigenes Recht auf unsere Gefühle und Erinnerungen hat.

    Ihm antworteten am Donnerstag u.a. die Süddeutsche und DIE ZEIT. Ulrich Raulff in der Süddeutschen:

    Neu ist nicht das Reden über die Leiden der Deutschen in Zeiten des Kriegsendes – neu sind die Massivität und die selbstgewisse Unschuld dieses Redens. Neu ist die Gleichzeitigkeit der vier großen Reizthemen Bombenkrieg, Gefangenschaft, Vertreibung und Vergewaltigung. Sie stecken gleichsam die Ecken des neuen Diskursfeldes ab, über dem sich jetzt das Geschichtszeichen 1945 erhebt: das Jahr, in dem die Deutschen litten wie zu keiner anderen Zeit im vergangenen Jahrhundert. 1945 ist dabei, zur Chiffre eines neuen Leidens-Gedächtnisses der Deutschen zu werden, das sich neben das Schuld-Gedächtnis setzen wird – wenn nicht sogar an seine Stelle.

    Und in der ZEIT schreibt Bernd Ulrich:

    Die Gefahr sieht zu Beginn des 21. Jahrhunderts anders aus: Heute haben die meisten lebenden Deutschen sich persönlich nichts mehr vorzuwerfen, und sie finden auch kaum noch jemanden, dem man persönlich etwas vorwerfen könnte. Darum stünde so oder so die Verwandlung von persönlicher Schuld in politisch-historische Verantwortung an. Ein heikler Prozess, in dem das Gefühl für das Grauen und für die Gefährdung verloren gehen kann. Nun kommt, historisch zufällig, noch etwas Zweites hinzu: Da die Ökonomie labil wird, suchen die Deutschen neue Identitätsanker, nicht zuletzt in der Historie. Daraus ergibt sich leicht eine Tendenz zur Verkitschung, Verharmlosung, Verflachung. Geschichte, wo man gerne hingeht.

    Geschichte, wo man gern hingeht, scheint nicht nur Das Wunder von Bern, sondern auch der neu angelaufene Luther- Film des kanadischen Regisseurs Eric Till zu sein. Für die FAZ ist dieser Luther ein wunderschöner Ephebe, mit schmalem Gesicht, sanften dunklen Großaugen und hochgradig ambivalenter, bisexueller Körpersprache. Ob Dr. Martinus vor seinen Predigten wohl zur Wimpernpflege in ein Wittenberger Kosmetikstudio eilte? , fragt die FAZ. Auch für DIE WELT ist Joseph Fiennes alles andere als das deutsche Mannsbild, das unter dem Namen Luther in der kollektiven Erinnerung herumspukt. Fiennes' Luther ist ein Gutmensch überirdischen Maßes mit ewig aufgerissenen Augen, hager und asketisch, eine Mischung aus Jesus und Dutschke. Und wenn er sich unter seiner Kutte versteckt, sieht er aus wie Savonerola - ein Luther ohne Butzenscheiben.

    Die Süddeutsche bietet gleich zwei Film-Besprechungen an, eine katholisch gesehen, die andere protestantisch betrachtet. Beide kommen zu ganz un-deutschen Vergleichen: Während die katholische Seite sich beim Treffen zwischen Luther und seinem weisen Kurfürsten, gespielt von Peter Ustinov, an ein Wimbledon-Herrendoppel erinnert fühlt, sieht die evangelische Seite deutlich, dass die Luther-Geschichte an einem Harry-Potter-Syndrom leidet. Zitat: Der Held hat schon von allein viel zu viele Fans, auf deren Erwartungen jeder Film Rücksicht nehmen muss.

    Am Freitag eröffnete Matthias Lilienthal in Berlin-Kreuzberg ein neues Theater, bestehend aus dem traditionsreichen Hebbel-Theater, dem Theater am Halleschen Ufer sowie dem Theater am Ufer. Ein Drittel Tanz, ein Drittel freies Schauspiel und ein Drittel Gastspiele - das ist verkürzt die dramaturgische Formel. Das HAU, wie es abgekürzt heißt, fand auch sofort überregionale Beachtung. Nina Peters in der Stuttgarter Zeitung:

    Wozu aber braucht Berlin, das gerade seinen Universitäten die Gelder streicht und damit den Wissenschaftsstandort verspielt, eigentlich ein neues Theater? Die Debatte ist müßig. Ergiebiger ist da die Frage nach den Zukunftsmodellen, die das Kreuzberger Kombinat derzeit entwickelt. Mit dem Hebbel am Ufer positioniert sich ein Haus in der Berliner Theaterlandschaft, das die Extreme der so genannten Globalisierung konsequent mitdenkt. .... Die Nabelschau ist beendet, sagt Lilienthal heute, den inzwischen der Blick ins Ausland interessiert. Dem Hau verpasst er kein erkennbares ästhetisches Profil, stattdessen setzt er auf Penetranz. Möglicherweise ist das in der finanziell gebeutelten Berliner Theaterszene die beste Methode.

    Das war der Rückblick auf das Feuilleton, diese Woche zusammengestellt von Matthias Sträßner.