Ute Wegmann: Shaun Tan, bevor ich Sie ausführlich vorstelle: Was bedeutet für Sie Heimat? Welche Bilder, welche Töne, welche Gefühle verkörpern ihr Heimatbild?
Shaun Tan: Bei dem Begriff Heimat denke ich an einen weiten offenen Raum, den Strand in der Nähe, Ruhe, Vögel, Insekten, ein sehr blauer Himmel, breite Straßen, heiße Sommer, Gewitter, eine kleine Familie, die auf engem Raum zusammenlebt und Freunde, die 50 Kilometer entfernt wohnen.
Das alles hat viel mit dem Ort zu tun, an dem Shaun Tan geboren wurde. Geboren wurde er 1974 in Perth. Er studierte Kunst und Englische Literatur und lebt heute in Melbourne. Seine Bücher sind international preisgekrönt. Im Jahr 2001 erhielt er den World Fantasy Award als bester Künstler. In Deutschland war er gleich mit zwei Büchern für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Den Jugendliteraturpreis hat er gewonnen für sein Buch "Geschichten aus der Vorstadt des Universums". In früheren Zeiten verließen ganze Volksgruppen ihre Heimat, um sich in der Fremde niederzulassen. Heute führen kriegerische oder politische Auseinandersetzungen zu Vertreibung und Verlust der Heimat. Mehr als zu jeder anderen Zeit trifft die Auswanderung und Konfrontation mit Fremdheit den Einzelnen, das Individuum. Arbeitslosigkeit, religiöse oder politische Verfolgung, aber auch die Vernetzung vieler Firmen auf internationaler Ebene fordern Mobilität und Flexibilität des Menschen. Was aber die Entwurzelung und Auseinandersetzung mit einer neuen Umgebung, oder vielleicht sogar einer neuen Kultur mit dem Menschen macht, davon erzählen die Geschichten Shaun Tans.
Wegmann: Shaun Tan, waren Sie jemals in einer solchen Situation?
Tan: Nein, ich muss zugeben, ich habe sehr wenig Interesse an Geschichten, die mit meiner persönlichen Erfahrung zu tun haben, aber ich denke gern über Geschichten nach, die meine Erfahrungslücken ausfüllen. Die Vorstellung, aus Not in ein fremdes Land auswandern zu müssen, ist für mich sehr bedrohlich. Eine gruselige Idee. Aber viele Menschen sind dazu gezwungen, und deshalb wollte ich mir das vorstellen, wie das ist.
Wegmann: The Arrival – in Deutsch "Ein neues Land” – so heißt die Graphic Novel, mit der Sie in Deutschland berühmt wurden. Ein großformatiges, 130 Seiten umfassendes Buch, das gänzlich ohne Worte auskommt. Gezeichnet mit Graphitstift sind die Bilder digital koloriert. Es überwiegen grau-beige Farbtöne und geben ebenso wie der Einband, dem Buch etwas Altertümliches. Die Buchdeckel sind stilistisch einem alten Ledereinband nachempfunden. Doppelseitige Bildtafeln wechseln mit Reihungen kleinerer oft quadratischer Zeichnungen. Das beginnt beim Vorsatzpapier: Es zeigt 60 passbildgroße Porträts von Emigranten unterschiedlicher Nationalität. "Ein neues Land" ist die Geschichte einer Emigration. Gegenstände, Mobiliar und Kleidung suggerieren eine Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein Mann verlässt seine Familie. Er nimmt mit vielen anderen ein Schiff in eine fremde Welt. Die Ankunft, Hochhäuser und Hafen, Einreiseabfertigungen, das alles erinnert an NY, obwohl es sich um eine surreale, fiktive Großstadt handelt. Einiges, was man sieht, ist vertraut, vieles fremd: Sprache und Schriftzeichen sind unverständlich, Uhren zeigen eine andere Zeit, Haustiere sind surreale Wesen. Geometrische Hochhäuser stehen neben Renaissance-Kirchenkuppeln und Fassaden, die an Mandalas erinnern. Ihr Vater wanderte 1960 von Malaysia nach Australien aus. Aber es handelt sich hier nicht um die Geschichte Ihrer Familie. Sie haben fünf Jahre an diesem umfangreichen, vielfältigen Bilderwerk gearbeitet und recherchiert. Auf welche Quellen haben Sie zurückgegriffen?
Tan: Die Idee entstand schon durch die Geschichte meines Vaters, aber ich wollte es allgemeiner erzählen: Die Geschichte eines Chinesen, der nach Australien geht. In unserem Viertel gab es einen Park, der vor hundert Jahren eine Art Garten war: Chinesen bauten hier Lebensmittel an und verkauften sie an die anderen Einwohner. Es gab damals nicht viele Berührungspunkte zwischen der englischsprachigen Bevölkerung und den Chinesen, obwohl sie ja dort lebten. Und heute verweist nichts auf diese Zeit. Das hat mich fasziniert und ich begann zu recherchieren, wer diese Menschen waren. Diese Recherche führte mich zu dem Schicksal bestimmter Personen, zu verschiedenen europäischen, afrikanischen und alle möglichen anderen Einwanderern. Und es gab natürlich viele Informationen über Auswanderer, die in Ellis Island waren. So entwickelte sich das Buch zu einer ganz allgemeinen Emigrationsgeschichte.
Wegmann: Die surrealen Stadtbilder zeigen dadaistische und futuristische Einflüsse. Kurt Schwitters Triadisches Ballett fällt mir ein. Aber auch Chaplins Moderne Zeiten und Fritz Langs Metropolis. Architektur und Kunst im Allgemeinen beeinflussen Sie. Wie wichtig ist das Medium Film neben den kunstgeschichtlichen Einflüssen von Architektur und moderner Malerei?
Tan: Film hat einen sehr starken Einfluss auf mich. Aber darüber bin ich mir am wenigsten bewusst. Wenn ich in Ausstellungen gehe, ist das verbunden mit einem professionellen Interesse. Das Buch war anfangs eigentlich ein Bilderbuch, aber je mehr ich daran arbeitete, um so mehr wurde es zu einem Comic und jetzt ähnelt es einem Film. Ich habe zwei Räume in meinem Haus mit Möbeln aus Pappkarton zu Filmsets ausgestattet und meine Familie musste die Rollen spielen. Zuerst habe ich davon Fotos gemacht, später nahm ich eine Videokamera. Bild für Bild habe ich mir dann die Szenen am Computer angeschaut und das wurde die Basis meiner Zeichnungen. So änderte sich der Fokus vom Malen zum filmischen Sehen. Dadurch, dass Menschen in diesem Set agierten, führte ich eigentlich Regie bei einem Kurzfilm. Der Hauptunterschied zwischen Buch und Film liegt darin, dass das Buch keine Zeitvorgabe macht. Du musst also Bilder benutzen, um die Zeit und ihr Verstreichen zu dokumentieren. Wenn man ein Bild auf einer Doppelseite zeigt, wirkt das langsamer und länger, als wenn man eine Doppelseite mit zwölf oder mehr Bildern präsentiert. Außerdem geht es um die Bildinhalte: Das Bild einer Wolke wirkt langsamer als eine Eisenbahn. So wurde es auch eine Auseinandersetzung mit dem Zeitbegriff. Das faszinierte mich und ich habe eine Menge gelernt, in dem ich mir die Werke anderer Comickünstler und vor allem auch Filme anschaute.
Wegmann: Die Geschichte ist eine Verbeugung vor allen Menschen, die Heimat und Familie verlassen müssen, um in der Fremde, in einer ungewissen Zukunft neu zu beginnen. Sie zeigt aber vor allem Hoffnung. Im Miteinander, durch die Hilfe der anderen, in Kommunikation, im gemeinsamen Essen und Spiel kann die Fremdheit überwunden werden. Ist es auch ein Plädoyer für Freundschaft und soziales Miteinander?
Tan: Bei meiner Recherche stellte ich fest, dass die Einwanderer viele Probleme vor allem durch den Austausch gemeinsamer Erfahrungen mit anderen Menschen überwinden konnten. Oder, was natürlich noch schöner war, durch Menschen, die bereits dort lebten, die ihnen die neuen, fremden Sachverhalte vermittelten. Ich glaube, dass es im Leben oft so ist. Und deshalb ist "Ein neues Land" auch keine reine Emigrationsgeschichte, sondern eine Geschichte über das Leben im Allgemeinen. Ein Kind, das dieses Buch liest, erinnert sich an die Gefühle, die mit dem Wechsel auf eine neue Schule verbunden sind. Man schließt neue Freundschaften und die Kinder, die schon länger da sind, helfen dir, dich zurechtzufinden. Meine eigene Erfahrung zeigt, dass es oft Kleinigkeiten sind, die das Gefängnis der Distanz aufbrechen. Das kann eine Einladung zum Essen sein oder einfach die Hilfe beim Kauf eines Bustickets.
Wegmann: Betrachtet man die Porträts auf den Vorsatzpapieren erkennt man unter alle den Erwachsenen ein Kinderbild. Auch Kinder müssen sich in einer bereits funktionierenden Welt zurechtfinden, alles neu erlernen, angefangen bei der Sprache. Hier findet man die Parallele zum erwachsenen Emigranten. Das Porträt des Fünfjährigen ähnelt Ihnen sehr. Haben Sie als Kind eine vergleichbare Einsamkeit empfunden wie der Fremde im fremden Land?
Tan: Vielleicht nicht unbedingt Einsamkeit, aber eine gewisse persönliche Ausgeschlossenheit, die alle Kinder spüren. Ich hatte viele Freunde, ich hatte eine schöne Kindheit. Ich wusste wohl, dass ich physisch anders war. Mit dieser gemischten Familie als Halbchinese. Ich kannte niemanden, der so war und das in einer Schule mit überwiegend englischsprachigen Schülern. Und ich war sehr klein. Ein kleiner Junge. Mal unabhängig davon hatte ich nie das Gefühl, dass ich so anders bin als andere. Allerdings wurde ich oft von neuen Freunden gefragt: Woher kommst du? Und das, obwohl ich in Australien geboren wurde. Bewusst oder unbewusst machte mich das nachdenklich: Was bedeutet das? Wie beantwortet man diese Frage. Es ist eigentlich eine gute Frage für jeden!. Vielleicht hat mich das beeinflusst. Als Künstler wende ich mich mehr und mehr meiner Kindheit zu und werfe einen neuen Blick auf diese Zeit. Das Problem der Erwachsenen ist, dass sie zu gemütlich, zu familiär mit der Welt sind. Sie nehmen alles zu selbstverständlich. Die Kinderfragen, die oft Seinsfragen sind, finde ich weitaus spannender.
Wegmann: Vom Anderssein oder sich fremd fühlen davon handeln auch die Erzählungen in "Geschichten aus der Vorstadt des Universums" (Tales from Outer Suburbia). Eine Sammlung von 15 Kurzgeschichten, in denen ungewöhnliche Figuren in außergewöhnlichen Zusammenhängen auftauchen und die anderen Figuren aus ihrem Alltag und Trott holen. Ein Wasserbüffel im Grasfeld, ein Austauschschüler, der in einer Teetasse in der Speisekammer übernachten möchte, ein plötzlich auftauchender Taucher, Stockgestalten, Totenwache haltende Hunde, das unerwartete Ende einer Straßenkarte. Immer verändern ungewöhnliche, unerwartete Ereignisse die Menschen, weichen sie auf, wenden Situationen ins Positive. Die Neugierde auf das Fremde, die wenn auch mühsame Auseinandersetzung damit, ist gleichzeitig ein Schritt zur Toleranz und zur Bereitschaft, das Fremde als Bereicherung zu betrachten?
Tan: Ja, das stimmt: Es geht nicht darum, dass man zum Schluss besser dasteht oder glücklicher ist. Manche Geschichten sind mehrdeutig. Aber ich denke, Vieldeutigkeit ist besser als Sicherheit, weil es deinen Blick auf das Fremde zulässt. Die Geschichte der Stockgestalten zum Beispiel hat keinen richtigen Schluss, es passiert nicht viel, die Figuren sollen lediglich die Gemeinschaft stören, im Sinne des Aufweckens. Eine Gemeinschaft, die denkt, dass es einen richtigen oder falschen Weg gibt. Darum geht es. Die meisten Geschichten sollen mich selber aufwecken, während ich sie schreibe. Ich bin nicht anders als die anderen. Ich bin auch intolerant, besitze die gleiche Art von langweiliger Apathie. Und Malen und Schreiben ist eine gute Art, mich wachzurütteln und die Welt um mich herum zu betrachten.
Wegmann: Dieses Buch der Vorstadtgeschichten überrascht mit seiner Vielfalt an Bildgestaltungen, an Stilen. Von der S/W-Zeichnung, über Öl- und Acrylbilder, zu Collagen und dem Spiel mit unterschiedlichen Schriften. Wann fiel die Entscheidung für den jeweiligen Stil?
Tan: Das passiert schrittweise. Wenn ich anfange, sieht in meinem Skizzenblock alles gleich aus. Alles ist noch wage. Je weiter ich mit der inhaltlichen Entwicklung der Geschichte voranschreite, je mehr entwickelt sich die Stimmung. Manchmal weiß ich nicht, ob die Geschichte fröhlich oder duster und Angst einflößend ist. Manches zeichne ich fünf bis zehn Mal, unter Umständen auch in unterschiedlichen Stilen. Manchmal weiß man aber auch direkt, wie eine Sache sein soll.
Wegmann: Wir hören jetzt aus dem Kurzgeschichten-Bilderbuch:
Der Austauschschüler. Eric ist übrigens eine gabelgroße, schwarze, schlanke Figur mit einem ahornblattähnlichen Kopf.
Shaun Tan, der australische Künstler, ein Star der Grafic Novel Szene, ist heute Gast im Büchermarkt. Diese Geschichte wird zwischen den Texten durch S/W-Zeichnungen weitererzählt. Was Eric zurücklässt, sei kurz beschrieben, weil es ungeheuer berührend ist: Auf einem Regalbrett der Speisekammer, das über eine Doppelseite angelegt ist, stehen winzige Alltagsgegenstände: Spitzer, Kronkorken, Verschlüsse, eine halbe Eierschale, die Eric gesammelt hat und in denen futuristische Blumen mit großer farbiger Leuchtkraft blühen. Vor seiner Betttasse steht ein Schild: Vielen Dank. Es war sehr schön bei Ihnen. Das ist große Erzählkunst und ein wundervolles Beispiel, wie Bild und Text sich ergänzen. Sie haben in einem Katalogtext vermerkt: Wörter und Bilder sollen eine Spannung erzeugen wie zwei Pole und die Lücke, die entsteht, muss von der Fantasie des Lesers und Betrachters geschlossen werden. Das gelingt Ihnen genau auf diese Weise. Welche Bedeutung hat Kunst für Sie?
Tan: Ich habe nicht das Gefühl, dass ich viel Ahnung von der Welt habe. Kunst ist eine Möglichkeit, die Welt etwas besser zu verstehen, sogar wenn es sich nur um ein Glas Wasser handelt, das ich zeichne. Je mehr ich jedoch begreife, um so mehr verstehe ich auch, wie weit entfernt es von mir ist, wie seltsam es ist. Das ist Teil des Verstehens: Je mehr du kennen lernst, um so mehr erfährst du, wie komplex und groß alles ist und wie wenig du weißt. Das bringt eine kleine Erleuchtung. Und gleichzeitig ist es auch ein merkwürdiges Paradox. Ich fokussiere nur Gefühle, bringe sie in eine andere Form. Meine eigene Geschichte ist dabei nicht interessant. Wichtig ist ein allgemeines Gefühl, ein Gefühl, dass man mit anderen teilen kann. Somit kann Kunst uns zu diesem Gemeinschaftsgefühl bringen.
Wegmann: Zuletzt in Deutschland erschienen, ein Buch, das bereits 2000 in Australien veröffentlich wurde: "Die Fundsache". Auch hier geht es um Einsamkeit in der Fremde. Erzählt wird aber nicht aus der Sicht des Fremden, sondern aus der Sicht eines Jungen, der am Strand ein großes, rotes Ding findet, eine Mischung aus Gefäß und surrealem Lebewesen. Er nimmt das Es mit nach Hause, kann es aber nicht behalten und sucht nach einem Ort, wo es hinpasst. Knapp entgeht das Ding der Einordnung und damit dem Untergang. Der Junge findet schließlich: Einen fröhlichen, besonderen Ort, an dem sich andere besondere Dinge eingefunden haben. Auf alten Zeitungsseiten befinden sich die Bild- und Texttafeln. Diese Zeitungsseiten referieren naturwissenschaftliche. Texte und Formeln. Viele der gezeichneten Gegenstände haben technischen Charakter.
Tan: Ich bin fasziniert davon. Es hat bestimmt etwas damit zu tun, dass ich ein männliches Wesen bin. Jungs sind nun mal für Technik mehr zu begeistern. In dem Buch hat das ja eher einen negativen Charakter. Die Collage präsentiert eine Welt, in der Menschen zu sehr von der Mechanik ihres Lebens beeinflusst werden und nicht mehr mitbekommen, was das Wesentliche ist. Diese Zweiteilung geht bis in die Konzeption der Figuren. Sie sind halborganisch und halbmechanisch. Die Figuren verkörpern beides, Mechanik und Fantasie. Ich glaube, dass wir alle so sind und wir brauchen auch beides.
Wegmann: Nur das Kind nimmt noch das Besondere, das Andersartige wahr. Die Erwachsenen folgen einem Alltagstrott und fahren in festgelegten Bahnen. Und wollen auch immer alles gleich einordnen und zuordnen. Ist das Buch somit auch Kritik am Schubladendenken, an Standardisierung?
Tan: Ja! Es geht weniger um eine Kritik an der Mechanisierung, als vielmehr an einer Standardisierung von Verhaltensweisen. Man kann Die Fundsache aber auch durchaus politisch lesen: Das Buch erzählt von der Standardisierung der Fantasie und des Bewusstseins. Das ist Thema in nicht-demokratischen Systemen. Diese Systeme haben durch standardisierte Menschen viele Vorteile: Du kannst sie besser kontrollieren. Es ist verrückt, wir brauchen in der Welt eine Art Standardisierung. Das ist auch gut so. Und die Fantasie ist etwas Gutes. Es muss in der richtigen Spannung gehalten werden. Ich habe keine Lösung. Im Grunde stellt die Geschichte die Frage, was diese richtige Spannung sein könnte, wie sie hergestellt werden kann.
Wegmann: Diese Einordnung der Dinge in fest gefügte Systeme thematisiert ebenfalls den falschen Ansatz von Integration?
Tan: Die Frage, wohin man gehört, wird dann kompliziert, wenn man feste Antworten finden möchte, anstatt es als eine offene Frage zu betrachten. Das Buch handelt von Klassifizierung oder davon den richtigen Platz für eine Sache, einen Menschen zu finden. Es geht auch um Intoleranz, oder mehr noch um Blindheit. Wenn jemand keine Vorstellung mehr davon hat, dass es alternative Handlungsweisen gibt. Das ist das Gefährlichste überhaupt. Das Wesen in Die Fundsache ist eine große Alternative, weil es nirgendwohin gehört. Das Problem liegt aber nicht so sehr in der Figur, die verloren wurde, sondern mehr in der Gesellschaft rundherum, die keinen Wert mehr in dem Wesen erkennt, die das Wesen selber nicht mehr wahrnimmt. Der Titel bezieht sich zwar auf das Wesen, aber auch auf die Welt, denn auf irgendeine Weise ist die Welt verloren. Es gibt kaum etwas Neues zu entdecken. Alles ist eingeordnet, klassifiziert und dafür arbeiten alle sehr hart, um das genauso einzurichten. Kinder haben diese Kategorien noch nicht verinnerlicht. Ihre Fantasie ist flexibler und spielerischer. Sie haben keine Angst, etwas falsch zu machen, sie wollen sich nicht anpassen. Sie haben eine größere Offenheit.
Shaun Tans Geschichten werfen einen ernsten Blick auf unsere Geschichte und auf unsere Zeit, aber – und das ist das Wundervolle – auch einen Blick in Fantasiewelten, die uns träumen oder assoziieren lassen, die uns erinnern und in gewisser Weise auch mahnen.
Vor allem aber berühren seine Figuren und selbst seine Fantasiewesen strecken ihre Arme oder Fühler aus nach unseren Herzen. Und immer gibt es Hoffnung. Selbst beim Abschiednehmen überwiegt der Gedanke: Schön, dass du da warst. Schön, dass ich dir begegnen durfte.
Shaun Tan, thank you, that you have been my guest.
Have a nice time and I hope that you never feel lonely in Germany.
Wir sprachen über:
- Ein neues Land, 128 Seiten, Euro 29,90
- Geschichten aus der Vorstadt des Universums, 96 Seiten, Euro 19,90
- Die Fundsache, 32 Seiten, Euro 16,90
Alle Bücher erschienen im Carlsen Verlag.
Für Menschen jeden Alters! Ab 6 Jahre
Shaun Tan: Bei dem Begriff Heimat denke ich an einen weiten offenen Raum, den Strand in der Nähe, Ruhe, Vögel, Insekten, ein sehr blauer Himmel, breite Straßen, heiße Sommer, Gewitter, eine kleine Familie, die auf engem Raum zusammenlebt und Freunde, die 50 Kilometer entfernt wohnen.
Das alles hat viel mit dem Ort zu tun, an dem Shaun Tan geboren wurde. Geboren wurde er 1974 in Perth. Er studierte Kunst und Englische Literatur und lebt heute in Melbourne. Seine Bücher sind international preisgekrönt. Im Jahr 2001 erhielt er den World Fantasy Award als bester Künstler. In Deutschland war er gleich mit zwei Büchern für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Den Jugendliteraturpreis hat er gewonnen für sein Buch "Geschichten aus der Vorstadt des Universums". In früheren Zeiten verließen ganze Volksgruppen ihre Heimat, um sich in der Fremde niederzulassen. Heute führen kriegerische oder politische Auseinandersetzungen zu Vertreibung und Verlust der Heimat. Mehr als zu jeder anderen Zeit trifft die Auswanderung und Konfrontation mit Fremdheit den Einzelnen, das Individuum. Arbeitslosigkeit, religiöse oder politische Verfolgung, aber auch die Vernetzung vieler Firmen auf internationaler Ebene fordern Mobilität und Flexibilität des Menschen. Was aber die Entwurzelung und Auseinandersetzung mit einer neuen Umgebung, oder vielleicht sogar einer neuen Kultur mit dem Menschen macht, davon erzählen die Geschichten Shaun Tans.
Wegmann: Shaun Tan, waren Sie jemals in einer solchen Situation?
Tan: Nein, ich muss zugeben, ich habe sehr wenig Interesse an Geschichten, die mit meiner persönlichen Erfahrung zu tun haben, aber ich denke gern über Geschichten nach, die meine Erfahrungslücken ausfüllen. Die Vorstellung, aus Not in ein fremdes Land auswandern zu müssen, ist für mich sehr bedrohlich. Eine gruselige Idee. Aber viele Menschen sind dazu gezwungen, und deshalb wollte ich mir das vorstellen, wie das ist.
Wegmann: The Arrival – in Deutsch "Ein neues Land” – so heißt die Graphic Novel, mit der Sie in Deutschland berühmt wurden. Ein großformatiges, 130 Seiten umfassendes Buch, das gänzlich ohne Worte auskommt. Gezeichnet mit Graphitstift sind die Bilder digital koloriert. Es überwiegen grau-beige Farbtöne und geben ebenso wie der Einband, dem Buch etwas Altertümliches. Die Buchdeckel sind stilistisch einem alten Ledereinband nachempfunden. Doppelseitige Bildtafeln wechseln mit Reihungen kleinerer oft quadratischer Zeichnungen. Das beginnt beim Vorsatzpapier: Es zeigt 60 passbildgroße Porträts von Emigranten unterschiedlicher Nationalität. "Ein neues Land" ist die Geschichte einer Emigration. Gegenstände, Mobiliar und Kleidung suggerieren eine Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein Mann verlässt seine Familie. Er nimmt mit vielen anderen ein Schiff in eine fremde Welt. Die Ankunft, Hochhäuser und Hafen, Einreiseabfertigungen, das alles erinnert an NY, obwohl es sich um eine surreale, fiktive Großstadt handelt. Einiges, was man sieht, ist vertraut, vieles fremd: Sprache und Schriftzeichen sind unverständlich, Uhren zeigen eine andere Zeit, Haustiere sind surreale Wesen. Geometrische Hochhäuser stehen neben Renaissance-Kirchenkuppeln und Fassaden, die an Mandalas erinnern. Ihr Vater wanderte 1960 von Malaysia nach Australien aus. Aber es handelt sich hier nicht um die Geschichte Ihrer Familie. Sie haben fünf Jahre an diesem umfangreichen, vielfältigen Bilderwerk gearbeitet und recherchiert. Auf welche Quellen haben Sie zurückgegriffen?
Tan: Die Idee entstand schon durch die Geschichte meines Vaters, aber ich wollte es allgemeiner erzählen: Die Geschichte eines Chinesen, der nach Australien geht. In unserem Viertel gab es einen Park, der vor hundert Jahren eine Art Garten war: Chinesen bauten hier Lebensmittel an und verkauften sie an die anderen Einwohner. Es gab damals nicht viele Berührungspunkte zwischen der englischsprachigen Bevölkerung und den Chinesen, obwohl sie ja dort lebten. Und heute verweist nichts auf diese Zeit. Das hat mich fasziniert und ich begann zu recherchieren, wer diese Menschen waren. Diese Recherche führte mich zu dem Schicksal bestimmter Personen, zu verschiedenen europäischen, afrikanischen und alle möglichen anderen Einwanderern. Und es gab natürlich viele Informationen über Auswanderer, die in Ellis Island waren. So entwickelte sich das Buch zu einer ganz allgemeinen Emigrationsgeschichte.
Wegmann: Die surrealen Stadtbilder zeigen dadaistische und futuristische Einflüsse. Kurt Schwitters Triadisches Ballett fällt mir ein. Aber auch Chaplins Moderne Zeiten und Fritz Langs Metropolis. Architektur und Kunst im Allgemeinen beeinflussen Sie. Wie wichtig ist das Medium Film neben den kunstgeschichtlichen Einflüssen von Architektur und moderner Malerei?
Tan: Film hat einen sehr starken Einfluss auf mich. Aber darüber bin ich mir am wenigsten bewusst. Wenn ich in Ausstellungen gehe, ist das verbunden mit einem professionellen Interesse. Das Buch war anfangs eigentlich ein Bilderbuch, aber je mehr ich daran arbeitete, um so mehr wurde es zu einem Comic und jetzt ähnelt es einem Film. Ich habe zwei Räume in meinem Haus mit Möbeln aus Pappkarton zu Filmsets ausgestattet und meine Familie musste die Rollen spielen. Zuerst habe ich davon Fotos gemacht, später nahm ich eine Videokamera. Bild für Bild habe ich mir dann die Szenen am Computer angeschaut und das wurde die Basis meiner Zeichnungen. So änderte sich der Fokus vom Malen zum filmischen Sehen. Dadurch, dass Menschen in diesem Set agierten, führte ich eigentlich Regie bei einem Kurzfilm. Der Hauptunterschied zwischen Buch und Film liegt darin, dass das Buch keine Zeitvorgabe macht. Du musst also Bilder benutzen, um die Zeit und ihr Verstreichen zu dokumentieren. Wenn man ein Bild auf einer Doppelseite zeigt, wirkt das langsamer und länger, als wenn man eine Doppelseite mit zwölf oder mehr Bildern präsentiert. Außerdem geht es um die Bildinhalte: Das Bild einer Wolke wirkt langsamer als eine Eisenbahn. So wurde es auch eine Auseinandersetzung mit dem Zeitbegriff. Das faszinierte mich und ich habe eine Menge gelernt, in dem ich mir die Werke anderer Comickünstler und vor allem auch Filme anschaute.
Wegmann: Die Geschichte ist eine Verbeugung vor allen Menschen, die Heimat und Familie verlassen müssen, um in der Fremde, in einer ungewissen Zukunft neu zu beginnen. Sie zeigt aber vor allem Hoffnung. Im Miteinander, durch die Hilfe der anderen, in Kommunikation, im gemeinsamen Essen und Spiel kann die Fremdheit überwunden werden. Ist es auch ein Plädoyer für Freundschaft und soziales Miteinander?
Tan: Bei meiner Recherche stellte ich fest, dass die Einwanderer viele Probleme vor allem durch den Austausch gemeinsamer Erfahrungen mit anderen Menschen überwinden konnten. Oder, was natürlich noch schöner war, durch Menschen, die bereits dort lebten, die ihnen die neuen, fremden Sachverhalte vermittelten. Ich glaube, dass es im Leben oft so ist. Und deshalb ist "Ein neues Land" auch keine reine Emigrationsgeschichte, sondern eine Geschichte über das Leben im Allgemeinen. Ein Kind, das dieses Buch liest, erinnert sich an die Gefühle, die mit dem Wechsel auf eine neue Schule verbunden sind. Man schließt neue Freundschaften und die Kinder, die schon länger da sind, helfen dir, dich zurechtzufinden. Meine eigene Erfahrung zeigt, dass es oft Kleinigkeiten sind, die das Gefängnis der Distanz aufbrechen. Das kann eine Einladung zum Essen sein oder einfach die Hilfe beim Kauf eines Bustickets.
Wegmann: Betrachtet man die Porträts auf den Vorsatzpapieren erkennt man unter alle den Erwachsenen ein Kinderbild. Auch Kinder müssen sich in einer bereits funktionierenden Welt zurechtfinden, alles neu erlernen, angefangen bei der Sprache. Hier findet man die Parallele zum erwachsenen Emigranten. Das Porträt des Fünfjährigen ähnelt Ihnen sehr. Haben Sie als Kind eine vergleichbare Einsamkeit empfunden wie der Fremde im fremden Land?
Tan: Vielleicht nicht unbedingt Einsamkeit, aber eine gewisse persönliche Ausgeschlossenheit, die alle Kinder spüren. Ich hatte viele Freunde, ich hatte eine schöne Kindheit. Ich wusste wohl, dass ich physisch anders war. Mit dieser gemischten Familie als Halbchinese. Ich kannte niemanden, der so war und das in einer Schule mit überwiegend englischsprachigen Schülern. Und ich war sehr klein. Ein kleiner Junge. Mal unabhängig davon hatte ich nie das Gefühl, dass ich so anders bin als andere. Allerdings wurde ich oft von neuen Freunden gefragt: Woher kommst du? Und das, obwohl ich in Australien geboren wurde. Bewusst oder unbewusst machte mich das nachdenklich: Was bedeutet das? Wie beantwortet man diese Frage. Es ist eigentlich eine gute Frage für jeden!. Vielleicht hat mich das beeinflusst. Als Künstler wende ich mich mehr und mehr meiner Kindheit zu und werfe einen neuen Blick auf diese Zeit. Das Problem der Erwachsenen ist, dass sie zu gemütlich, zu familiär mit der Welt sind. Sie nehmen alles zu selbstverständlich. Die Kinderfragen, die oft Seinsfragen sind, finde ich weitaus spannender.
Wegmann: Vom Anderssein oder sich fremd fühlen davon handeln auch die Erzählungen in "Geschichten aus der Vorstadt des Universums" (Tales from Outer Suburbia). Eine Sammlung von 15 Kurzgeschichten, in denen ungewöhnliche Figuren in außergewöhnlichen Zusammenhängen auftauchen und die anderen Figuren aus ihrem Alltag und Trott holen. Ein Wasserbüffel im Grasfeld, ein Austauschschüler, der in einer Teetasse in der Speisekammer übernachten möchte, ein plötzlich auftauchender Taucher, Stockgestalten, Totenwache haltende Hunde, das unerwartete Ende einer Straßenkarte. Immer verändern ungewöhnliche, unerwartete Ereignisse die Menschen, weichen sie auf, wenden Situationen ins Positive. Die Neugierde auf das Fremde, die wenn auch mühsame Auseinandersetzung damit, ist gleichzeitig ein Schritt zur Toleranz und zur Bereitschaft, das Fremde als Bereicherung zu betrachten?
Tan: Ja, das stimmt: Es geht nicht darum, dass man zum Schluss besser dasteht oder glücklicher ist. Manche Geschichten sind mehrdeutig. Aber ich denke, Vieldeutigkeit ist besser als Sicherheit, weil es deinen Blick auf das Fremde zulässt. Die Geschichte der Stockgestalten zum Beispiel hat keinen richtigen Schluss, es passiert nicht viel, die Figuren sollen lediglich die Gemeinschaft stören, im Sinne des Aufweckens. Eine Gemeinschaft, die denkt, dass es einen richtigen oder falschen Weg gibt. Darum geht es. Die meisten Geschichten sollen mich selber aufwecken, während ich sie schreibe. Ich bin nicht anders als die anderen. Ich bin auch intolerant, besitze die gleiche Art von langweiliger Apathie. Und Malen und Schreiben ist eine gute Art, mich wachzurütteln und die Welt um mich herum zu betrachten.
Wegmann: Dieses Buch der Vorstadtgeschichten überrascht mit seiner Vielfalt an Bildgestaltungen, an Stilen. Von der S/W-Zeichnung, über Öl- und Acrylbilder, zu Collagen und dem Spiel mit unterschiedlichen Schriften. Wann fiel die Entscheidung für den jeweiligen Stil?
Tan: Das passiert schrittweise. Wenn ich anfange, sieht in meinem Skizzenblock alles gleich aus. Alles ist noch wage. Je weiter ich mit der inhaltlichen Entwicklung der Geschichte voranschreite, je mehr entwickelt sich die Stimmung. Manchmal weiß ich nicht, ob die Geschichte fröhlich oder duster und Angst einflößend ist. Manches zeichne ich fünf bis zehn Mal, unter Umständen auch in unterschiedlichen Stilen. Manchmal weiß man aber auch direkt, wie eine Sache sein soll.
Wegmann: Wir hören jetzt aus dem Kurzgeschichten-Bilderbuch:
Der Austauschschüler. Eric ist übrigens eine gabelgroße, schwarze, schlanke Figur mit einem ahornblattähnlichen Kopf.
Shaun Tan, der australische Künstler, ein Star der Grafic Novel Szene, ist heute Gast im Büchermarkt. Diese Geschichte wird zwischen den Texten durch S/W-Zeichnungen weitererzählt. Was Eric zurücklässt, sei kurz beschrieben, weil es ungeheuer berührend ist: Auf einem Regalbrett der Speisekammer, das über eine Doppelseite angelegt ist, stehen winzige Alltagsgegenstände: Spitzer, Kronkorken, Verschlüsse, eine halbe Eierschale, die Eric gesammelt hat und in denen futuristische Blumen mit großer farbiger Leuchtkraft blühen. Vor seiner Betttasse steht ein Schild: Vielen Dank. Es war sehr schön bei Ihnen. Das ist große Erzählkunst und ein wundervolles Beispiel, wie Bild und Text sich ergänzen. Sie haben in einem Katalogtext vermerkt: Wörter und Bilder sollen eine Spannung erzeugen wie zwei Pole und die Lücke, die entsteht, muss von der Fantasie des Lesers und Betrachters geschlossen werden. Das gelingt Ihnen genau auf diese Weise. Welche Bedeutung hat Kunst für Sie?
Tan: Ich habe nicht das Gefühl, dass ich viel Ahnung von der Welt habe. Kunst ist eine Möglichkeit, die Welt etwas besser zu verstehen, sogar wenn es sich nur um ein Glas Wasser handelt, das ich zeichne. Je mehr ich jedoch begreife, um so mehr verstehe ich auch, wie weit entfernt es von mir ist, wie seltsam es ist. Das ist Teil des Verstehens: Je mehr du kennen lernst, um so mehr erfährst du, wie komplex und groß alles ist und wie wenig du weißt. Das bringt eine kleine Erleuchtung. Und gleichzeitig ist es auch ein merkwürdiges Paradox. Ich fokussiere nur Gefühle, bringe sie in eine andere Form. Meine eigene Geschichte ist dabei nicht interessant. Wichtig ist ein allgemeines Gefühl, ein Gefühl, dass man mit anderen teilen kann. Somit kann Kunst uns zu diesem Gemeinschaftsgefühl bringen.
Wegmann: Zuletzt in Deutschland erschienen, ein Buch, das bereits 2000 in Australien veröffentlich wurde: "Die Fundsache". Auch hier geht es um Einsamkeit in der Fremde. Erzählt wird aber nicht aus der Sicht des Fremden, sondern aus der Sicht eines Jungen, der am Strand ein großes, rotes Ding findet, eine Mischung aus Gefäß und surrealem Lebewesen. Er nimmt das Es mit nach Hause, kann es aber nicht behalten und sucht nach einem Ort, wo es hinpasst. Knapp entgeht das Ding der Einordnung und damit dem Untergang. Der Junge findet schließlich: Einen fröhlichen, besonderen Ort, an dem sich andere besondere Dinge eingefunden haben. Auf alten Zeitungsseiten befinden sich die Bild- und Texttafeln. Diese Zeitungsseiten referieren naturwissenschaftliche. Texte und Formeln. Viele der gezeichneten Gegenstände haben technischen Charakter.
Tan: Ich bin fasziniert davon. Es hat bestimmt etwas damit zu tun, dass ich ein männliches Wesen bin. Jungs sind nun mal für Technik mehr zu begeistern. In dem Buch hat das ja eher einen negativen Charakter. Die Collage präsentiert eine Welt, in der Menschen zu sehr von der Mechanik ihres Lebens beeinflusst werden und nicht mehr mitbekommen, was das Wesentliche ist. Diese Zweiteilung geht bis in die Konzeption der Figuren. Sie sind halborganisch und halbmechanisch. Die Figuren verkörpern beides, Mechanik und Fantasie. Ich glaube, dass wir alle so sind und wir brauchen auch beides.
Wegmann: Nur das Kind nimmt noch das Besondere, das Andersartige wahr. Die Erwachsenen folgen einem Alltagstrott und fahren in festgelegten Bahnen. Und wollen auch immer alles gleich einordnen und zuordnen. Ist das Buch somit auch Kritik am Schubladendenken, an Standardisierung?
Tan: Ja! Es geht weniger um eine Kritik an der Mechanisierung, als vielmehr an einer Standardisierung von Verhaltensweisen. Man kann Die Fundsache aber auch durchaus politisch lesen: Das Buch erzählt von der Standardisierung der Fantasie und des Bewusstseins. Das ist Thema in nicht-demokratischen Systemen. Diese Systeme haben durch standardisierte Menschen viele Vorteile: Du kannst sie besser kontrollieren. Es ist verrückt, wir brauchen in der Welt eine Art Standardisierung. Das ist auch gut so. Und die Fantasie ist etwas Gutes. Es muss in der richtigen Spannung gehalten werden. Ich habe keine Lösung. Im Grunde stellt die Geschichte die Frage, was diese richtige Spannung sein könnte, wie sie hergestellt werden kann.
Wegmann: Diese Einordnung der Dinge in fest gefügte Systeme thematisiert ebenfalls den falschen Ansatz von Integration?
Tan: Die Frage, wohin man gehört, wird dann kompliziert, wenn man feste Antworten finden möchte, anstatt es als eine offene Frage zu betrachten. Das Buch handelt von Klassifizierung oder davon den richtigen Platz für eine Sache, einen Menschen zu finden. Es geht auch um Intoleranz, oder mehr noch um Blindheit. Wenn jemand keine Vorstellung mehr davon hat, dass es alternative Handlungsweisen gibt. Das ist das Gefährlichste überhaupt. Das Wesen in Die Fundsache ist eine große Alternative, weil es nirgendwohin gehört. Das Problem liegt aber nicht so sehr in der Figur, die verloren wurde, sondern mehr in der Gesellschaft rundherum, die keinen Wert mehr in dem Wesen erkennt, die das Wesen selber nicht mehr wahrnimmt. Der Titel bezieht sich zwar auf das Wesen, aber auch auf die Welt, denn auf irgendeine Weise ist die Welt verloren. Es gibt kaum etwas Neues zu entdecken. Alles ist eingeordnet, klassifiziert und dafür arbeiten alle sehr hart, um das genauso einzurichten. Kinder haben diese Kategorien noch nicht verinnerlicht. Ihre Fantasie ist flexibler und spielerischer. Sie haben keine Angst, etwas falsch zu machen, sie wollen sich nicht anpassen. Sie haben eine größere Offenheit.
Shaun Tans Geschichten werfen einen ernsten Blick auf unsere Geschichte und auf unsere Zeit, aber – und das ist das Wundervolle – auch einen Blick in Fantasiewelten, die uns träumen oder assoziieren lassen, die uns erinnern und in gewisser Weise auch mahnen.
Vor allem aber berühren seine Figuren und selbst seine Fantasiewesen strecken ihre Arme oder Fühler aus nach unseren Herzen. Und immer gibt es Hoffnung. Selbst beim Abschiednehmen überwiegt der Gedanke: Schön, dass du da warst. Schön, dass ich dir begegnen durfte.
Shaun Tan, thank you, that you have been my guest.
Have a nice time and I hope that you never feel lonely in Germany.
Wir sprachen über:
- Ein neues Land, 128 Seiten, Euro 29,90
- Geschichten aus der Vorstadt des Universums, 96 Seiten, Euro 19,90
- Die Fundsache, 32 Seiten, Euro 16,90
Alle Bücher erschienen im Carlsen Verlag.
Für Menschen jeden Alters! Ab 6 Jahre