Rund 100 Fossilien sind auf ein- und derselben Gesteinsfläche gefunden worden. Sie sind von einem Schlammstrom erfasst und geknickt worden, und sie haben sich alle nach dieser Strömung ausgerichtet. Die kleinsten Fossilien sind zwei Zentimeter lang, die größten bringen es auf acht Zentimeter.
Guy Narbonne von der Queen's University in Kingston, Ontario. Wie immer sind auch diese Mitglieder der Ediacara-Fauna allesamt Weichtiere, denn die Evolution hatte damals, vor 575 Millionen Jahren, die Schalen noch nicht erfunden. Da Weiches aber sehr vergänglich ist, ist es schon ungewöhnlich, dass es diese Fossilien gibt - und ganz außergewöhnlich ist, dass diese ältesten bislang bekannten Tiere nicht zerdrückt wurden und noch feinste Details zeigen. Narbonne:
Unter dem Mikroskop sehen wir Strukturen, die wir bislang noch gar nicht oder nur sehr schlecht erhalten kennen. Diese Tiere bauen sich alle nach ein- und demselben Plan auf. Sie waren lebende Fraktale, das heißt, sie bestehen aus verzweigenden Röhren, wobei die großen Äste haargenau so aussehen wie die kleinen und die wiederum machen bis in die feinsten Details die noch winzigeren nach, bis hinunter bis zu Strukturen mit Hundertstel Millimeter Durchmesser. Das sind die Grundbausteine des Lebens jener Zeit.
Die Natur hat damals mit zerbrechlichen Fraktalen experimentiert, um durch die Wiederholungen eines einzigen Schemas komplexe, vielzellige Organismen zu bauen. Narbonne:
Sie lebten wohl in sehr tiefem Wasser, weit unterhalb der Zone, wo die Sturmwellen sie erreichen konnten. Dort unten war es dunkel, also ernährten sie sich von vorbeitreibenden kleinen Mikroorganismen oder organischen Partikeln, etwa so, wie es moderne Korallen tun.
Weil sich selbst feinste Details erhalten haben, konnten die Paläontologen eine erstaunliche Entdeckung machen. Denn ein Teil der Organismen hatte angefangen sich zu zersetzen, ehe sie endgültig vom Schlamm zugedeckt wurden. Narbonne:
Wir sehen zum ersten Mal, dass es in der fraktalen Struktur ein organisches Skelett gibt. Bislang konnten wir die Ediacara-Fossilien immer nur von außen betrachten, so, als ob man bei einem Wirbeltier auf die Haut schaut. Dieses organische Skelett ist etwas vollkommen anderes als unser Knochenskelett, aber es war fester und stabiler als der Rest des Tiers, und es hat sie wohl aufrecht über dem Seeboden gehalten.
Die Welt dieser fraktalen Tiere ist untergegangen, ohne Spuren zu hinterlassen. Heute gleicht ihnen nichts Lebendiges mehr. Narbonne:
Wir haben also ein fehlgeschlagenes Experiment in der frühen Evolution der Tiere vor uns. Trotz ihres komplex verzweigten Äußeren sind sie im Inneren höchst einfach aufgebaut. Ein Computerprogramm, das solche Strukturen zeichnet, ist nur wenige Zeilen lang. Dementsprechend waren also auch nur sehr wenige genetische Informationen notwendig. Die Entwicklung dieser Ediacara-Tiere wird schon früh überschattet durch die Entwicklung der Tiere, die an der Wurzel unserer heutigen Lebenswelt stehen. Denn da sie unbeweglich waren und weder Klauen noch Zähne noch ein Gehirn hatten, konnten sie den modernen Tieren nichts entgegensetzen.
Mobilität, Gehirn und höhere Funktionen sind erst die Erfindung der sogenannten kambrischen Explosion, die den Beginn der Lebenswelt, wie wir sie kennen, markiert. Die Funde aus Neufundland belegen, dass diese frühen Ediacara-Fossilien nichts mit den heutigen Pflanzen, Pilzen und Tieren zu tun haben. Sie bilden ein eigenes Reich - und das gibt dem deutsche Paläontologie Adolf Seilacher recht, der das in den 90er Jahren vermutet hatte und damit auf großen Widerstand gestoßen war.