"Mich trieb die journalistische Neugier. Bis zum Grundlagenvertrag war es ja nicht möglich, als ständiger Korrespondent vor Ort aus Ost-Berlin zu berichten, und das änderte sich erst mit dieser Vereinbarung über den Austausch von Journalisten aus Ost und West. Und als ich das mitbekam, habe ich mich gleich bei der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung gemeldet und gesagt: Das interessiert mich, das würde ich gerne machen."
Sechs Jahre, von 1974 bis 1979, berichtete Peter Pragal für die "SZ" aus Ost-Berlin und der DDR sowie von 1983 bis 1990 für die Illustrierte "Stern". Nicht nur, dass er zu den ersten ständigen bundesdeutschen Korrespondenten im SED-Staat gehörte – auch mit seiner Entscheidung, seinen Wohnsitz inklusive Familie komplett nach Ost-Berlin zu verlagern, war er Pionier und stellte die stets präsente Staatsmacht damit vor ganz neue Herausforderungen. So war zum Beispiel Pragals Sohn Markus lange das einzige westdeutsche Kind aus einer bürgerlichen Familie, das eine DDR-Schule besuchte – ideologische Verwicklungen inklusive:
Markus machte das Wort "Grenzverletzer" zu schaffen. Mitschüler, von denen nicht wenige aus politisch-linientreuen Familien kamen, wollten ihm einreden, dass böse, bewaffnete West-Menschen die friedliche DDR überfallen wollten. Vergeblich versuchte unser Sohn ihnen klar zu machen, dass auf der Westseite der Mauer keine Soldaten mit Gewehren stünden. Dass jeder, der Lust habe, an die Mauer treten und sie berühren, ja selbst besprühen und bemalen könne. Das hielten seine Klassenkameraden für ein Märchen. Sie glauben mir einfach nicht", sagte Markus. Er war unglücklich und den Tränen nahe.
Wie der Sohn in der Schule, so hatte auch der Vater in seiner täglichen Arbeit ständig mit den von der SED verordneten Tabus und ideologischen Verzerrungen zu kämpfen. Das Presseamt beim Ministerrat der DDR beobachtete West-Korrespondenten nicht nur besonders argwöhnisch, sondern praktizierte – Hand in Hand mit der Stasi – durch eine rigide Genehmigungspraxis für Themen und Interviewpartner eine ganz spezifische Art der Vorzensur. Dahinter verbarg sich ein unumstößliches Dogma der SED, das man auch als Neurose bezeichnen könnte: die These vom Westkorrespondenten als Sachwalter westlicher Geheimdienste, der – im Auftrag Bonns – die DDR von innen her zersetzen sollte.
"Dass das nicht so war, haben sie relativ schnell begriffen, jedenfalls in meinem Fall. Als ich den Stasi-Major, der die Akten über meine Frau und mich führte, nach der Wende kennengelernt habe – ich habe ihn einfach aufgesucht - und dieser Mann hat dann gesagt: Ich habe schon relativ schnell, nämlich nach dem ersten Jahr gemerkt, dass ich ein Phantom jage. (...) Nur: Er konnte sein Wissen nicht so deutlich in die Akten schreiben, weil die Vorgesetzten weiter dieses falsche Bild hatten. Und da wollte er sich keinem Konflikt aussetzen."
Und so waren Stasi und Presseamt allzeit planmäßig damit beschäftigt, für Pragal Potemkinsche Dörfer zu bauen – etwa bei dem überraschenderweise genehmigten Besuch des Korrespondenten in einem DDR-Gefängnis:
Wider Erwarten bekam ich die Erlaubnis, die Strafvollzugsanstalt in Brandenburg zu besuchen. Mir war schon klar, dass das auch da eine Inszenierung sein würde. (Aber das ganze Ausmaß dieser Inszenierung, wo die Stasi Regie führte, ist mir erst mit der Lektüre der Stasi-Akten klar geworden.
Da wurden die Leute ausgewählt, die uns vorgeführt wurden, da wurden die anderen weggesperrt, damit wir die gar nicht zu Gesicht bekamen.) Und dieser Mann, der als "Vorzeigehäftling" ausersehen war, der hat ein Konzept gehabt, das er dann vorgetragen hat. Er machte dann aber zum Schluss eine etwas unbedachte Bemerkung, denn er erzählte etwas über die Versorgung, und das war in diesem Konzept nicht vorgesehen. Und wie ich später erfahren habe, ist er dafür auch zurückgestuft worden in dieser Hierarchie und hat so dafür büßen müssen, dass er ein freies Wort gegenüber diesem Westjournalisten geäußert hat.
Pragals Buch ist zugleich auch eine Geschichte des DDR-Alltags in den 70er und 80er Jahren – aus einer sehr ungewöhnlichen Perspektive:
Pragal war darum bemüht, wie ein DDR-Bürger zu leben und zu denken...
...konstatierte das MfS in einem Bericht. Das bedeutete zum Beispiel, dass sich die Familie, wo immer es ging, am "normalen" Leben im Arbeiter- und Bauernstaat beteiligte – was zuweilen surreale Szenen provozierte, etwa, wenn sie mit ihrem geräumigen Volvo das von der Schulklasse ihres Sohnes gesammelte Altpapier zur Sekundärrohstoffannahme fuhr – nicht, ohne zuvor unter die grauen DDR-Papierstapel auch die begehrten bunten Anzeigenblätter der Westpresse geschmuggelt zu haben. Sicher zur Freude der Sero-Mitarbeiter in der Annahmestelle. Auch die Ost-Berliner Wohnung der Pragals war für DDR-Besucher so etwas wie ein "Fenster zum Westen", wie es der Autor selbst nennt: Hier konnten sie westdeutsche Tageszeitungen studieren und in politisch brisanten Büchern blättern, deren Besitz einen DDR-Bürger in ernste Schwierigkeiten gebracht hätte. Dass unter den zahlreichen Besuchern natürlich auch Stasi-IM waren, konnte die Pragals dabei nicht verunsichern. Aber es gab auch Menschen, die den Weg in den Ost-Berliner Plattenbau suchten, weil sie sich von Pragal konkrete Hilfe erhofften:
"Ich habe einen Anruf damals bekommen von einer Frau, die sich ankündigte, sie wolle mir etwas erzählen über ihr Schicksal. Ich merkte sofort: Es ging um einen Ausreiseantrag. Sie kam aber nie an. Aus den Akten habe ich dann später erfahren, was wirklich passiert ist: Das Telefongespräch ist wie üblich mitgehört und mitgeschnitten worden, und dann hat man die Frau auf dem Wege zu mir – sie kam aus Leipzig – festgenommen. Und das ist dann schon schlimm, wenn man im Nachhinein erfährt, dass diese Leute gar keine Chance hatten, ihr Anliegen vorzutragen."
Auch fast zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR spricht aus Pragals Erinnerungen eine tiefe Sympathie für die Menschen, die dort lebten oder leben mussten. Dazu steht nicht im Widerspruch, dass er das politische System der DDR damals wie heute mit deutlicher Ablehnung betrachtete und betrachtet. In vielen Passagen des Buches fühlt sich der Leser an den Duktus von Günter Gaus erinnert, der als erster Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik zeitgleich mit Pragal seinen Dienst in Ost-Berlin antrat. Gaus verstarb 2004, bevor er seine Memoiren in Gänze fertigstellen konnte. Umso wichtiger ist darum die Edition von Büchern wie eben Pragals "Der geduldete Klassenfeind" – weil sie gleichermaßen über die deutsch-deutschen Verrenkungen im Kalten Krieg, den Umgang der SED mit westdeutschen Journalisten wie auch über den Alltag in der DDR Auskunft geben. Wer die DDR selbst nicht erlebt hat, kann sie hier im wahrsten Sinne des Wortes nach-fühlen und sich aus den Mosaiksteinen der vielen gut geschriebenen Episoden ein Bild zusammensetzen, das die Atmosphäre jener Zeit in vielen Farben und Nuancen treffend nachzeichnet.
Abmoderation:
Marcus Heumann war das, angetan vom geduldeten Klassenfeind. So der Buchtitel von Peter Pragal über seine Zeit als West-Korrespondent in der DDR, erschienen im Osburg Verlag. Es kostet Euro 19,95.
Sechs Jahre, von 1974 bis 1979, berichtete Peter Pragal für die "SZ" aus Ost-Berlin und der DDR sowie von 1983 bis 1990 für die Illustrierte "Stern". Nicht nur, dass er zu den ersten ständigen bundesdeutschen Korrespondenten im SED-Staat gehörte – auch mit seiner Entscheidung, seinen Wohnsitz inklusive Familie komplett nach Ost-Berlin zu verlagern, war er Pionier und stellte die stets präsente Staatsmacht damit vor ganz neue Herausforderungen. So war zum Beispiel Pragals Sohn Markus lange das einzige westdeutsche Kind aus einer bürgerlichen Familie, das eine DDR-Schule besuchte – ideologische Verwicklungen inklusive:
Markus machte das Wort "Grenzverletzer" zu schaffen. Mitschüler, von denen nicht wenige aus politisch-linientreuen Familien kamen, wollten ihm einreden, dass böse, bewaffnete West-Menschen die friedliche DDR überfallen wollten. Vergeblich versuchte unser Sohn ihnen klar zu machen, dass auf der Westseite der Mauer keine Soldaten mit Gewehren stünden. Dass jeder, der Lust habe, an die Mauer treten und sie berühren, ja selbst besprühen und bemalen könne. Das hielten seine Klassenkameraden für ein Märchen. Sie glauben mir einfach nicht", sagte Markus. Er war unglücklich und den Tränen nahe.
Wie der Sohn in der Schule, so hatte auch der Vater in seiner täglichen Arbeit ständig mit den von der SED verordneten Tabus und ideologischen Verzerrungen zu kämpfen. Das Presseamt beim Ministerrat der DDR beobachtete West-Korrespondenten nicht nur besonders argwöhnisch, sondern praktizierte – Hand in Hand mit der Stasi – durch eine rigide Genehmigungspraxis für Themen und Interviewpartner eine ganz spezifische Art der Vorzensur. Dahinter verbarg sich ein unumstößliches Dogma der SED, das man auch als Neurose bezeichnen könnte: die These vom Westkorrespondenten als Sachwalter westlicher Geheimdienste, der – im Auftrag Bonns – die DDR von innen her zersetzen sollte.
"Dass das nicht so war, haben sie relativ schnell begriffen, jedenfalls in meinem Fall. Als ich den Stasi-Major, der die Akten über meine Frau und mich führte, nach der Wende kennengelernt habe – ich habe ihn einfach aufgesucht - und dieser Mann hat dann gesagt: Ich habe schon relativ schnell, nämlich nach dem ersten Jahr gemerkt, dass ich ein Phantom jage. (...) Nur: Er konnte sein Wissen nicht so deutlich in die Akten schreiben, weil die Vorgesetzten weiter dieses falsche Bild hatten. Und da wollte er sich keinem Konflikt aussetzen."
Und so waren Stasi und Presseamt allzeit planmäßig damit beschäftigt, für Pragal Potemkinsche Dörfer zu bauen – etwa bei dem überraschenderweise genehmigten Besuch des Korrespondenten in einem DDR-Gefängnis:
Wider Erwarten bekam ich die Erlaubnis, die Strafvollzugsanstalt in Brandenburg zu besuchen. Mir war schon klar, dass das auch da eine Inszenierung sein würde. (Aber das ganze Ausmaß dieser Inszenierung, wo die Stasi Regie führte, ist mir erst mit der Lektüre der Stasi-Akten klar geworden.
Da wurden die Leute ausgewählt, die uns vorgeführt wurden, da wurden die anderen weggesperrt, damit wir die gar nicht zu Gesicht bekamen.) Und dieser Mann, der als "Vorzeigehäftling" ausersehen war, der hat ein Konzept gehabt, das er dann vorgetragen hat. Er machte dann aber zum Schluss eine etwas unbedachte Bemerkung, denn er erzählte etwas über die Versorgung, und das war in diesem Konzept nicht vorgesehen. Und wie ich später erfahren habe, ist er dafür auch zurückgestuft worden in dieser Hierarchie und hat so dafür büßen müssen, dass er ein freies Wort gegenüber diesem Westjournalisten geäußert hat.
Pragals Buch ist zugleich auch eine Geschichte des DDR-Alltags in den 70er und 80er Jahren – aus einer sehr ungewöhnlichen Perspektive:
Pragal war darum bemüht, wie ein DDR-Bürger zu leben und zu denken...
...konstatierte das MfS in einem Bericht. Das bedeutete zum Beispiel, dass sich die Familie, wo immer es ging, am "normalen" Leben im Arbeiter- und Bauernstaat beteiligte – was zuweilen surreale Szenen provozierte, etwa, wenn sie mit ihrem geräumigen Volvo das von der Schulklasse ihres Sohnes gesammelte Altpapier zur Sekundärrohstoffannahme fuhr – nicht, ohne zuvor unter die grauen DDR-Papierstapel auch die begehrten bunten Anzeigenblätter der Westpresse geschmuggelt zu haben. Sicher zur Freude der Sero-Mitarbeiter in der Annahmestelle. Auch die Ost-Berliner Wohnung der Pragals war für DDR-Besucher so etwas wie ein "Fenster zum Westen", wie es der Autor selbst nennt: Hier konnten sie westdeutsche Tageszeitungen studieren und in politisch brisanten Büchern blättern, deren Besitz einen DDR-Bürger in ernste Schwierigkeiten gebracht hätte. Dass unter den zahlreichen Besuchern natürlich auch Stasi-IM waren, konnte die Pragals dabei nicht verunsichern. Aber es gab auch Menschen, die den Weg in den Ost-Berliner Plattenbau suchten, weil sie sich von Pragal konkrete Hilfe erhofften:
"Ich habe einen Anruf damals bekommen von einer Frau, die sich ankündigte, sie wolle mir etwas erzählen über ihr Schicksal. Ich merkte sofort: Es ging um einen Ausreiseantrag. Sie kam aber nie an. Aus den Akten habe ich dann später erfahren, was wirklich passiert ist: Das Telefongespräch ist wie üblich mitgehört und mitgeschnitten worden, und dann hat man die Frau auf dem Wege zu mir – sie kam aus Leipzig – festgenommen. Und das ist dann schon schlimm, wenn man im Nachhinein erfährt, dass diese Leute gar keine Chance hatten, ihr Anliegen vorzutragen."
Auch fast zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR spricht aus Pragals Erinnerungen eine tiefe Sympathie für die Menschen, die dort lebten oder leben mussten. Dazu steht nicht im Widerspruch, dass er das politische System der DDR damals wie heute mit deutlicher Ablehnung betrachtete und betrachtet. In vielen Passagen des Buches fühlt sich der Leser an den Duktus von Günter Gaus erinnert, der als erster Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik zeitgleich mit Pragal seinen Dienst in Ost-Berlin antrat. Gaus verstarb 2004, bevor er seine Memoiren in Gänze fertigstellen konnte. Umso wichtiger ist darum die Edition von Büchern wie eben Pragals "Der geduldete Klassenfeind" – weil sie gleichermaßen über die deutsch-deutschen Verrenkungen im Kalten Krieg, den Umgang der SED mit westdeutschen Journalisten wie auch über den Alltag in der DDR Auskunft geben. Wer die DDR selbst nicht erlebt hat, kann sie hier im wahrsten Sinne des Wortes nach-fühlen und sich aus den Mosaiksteinen der vielen gut geschriebenen Episoden ein Bild zusammensetzen, das die Atmosphäre jener Zeit in vielen Farben und Nuancen treffend nachzeichnet.
Abmoderation:
Marcus Heumann war das, angetan vom geduldeten Klassenfeind. So der Buchtitel von Peter Pragal über seine Zeit als West-Korrespondent in der DDR, erschienen im Osburg Verlag. Es kostet Euro 19,95.