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Blickwechsel

In ein Dingsda verwandelt fühlte sich der Auschwitz-Häftling Primo Levi durch den Blick des ihn begutachtenden Arztes Dr. Pannwitz. Wie durch die Glaswand eines Aquariums habe der geschaut, erinnert er sich später, so, als seien Schauender und Angeschauter Lebewesen, die unterschiedliche Elemente bewohnten. Es sind zwar nicht die Blicke selbst, die töten, aber Mord und Totschlag sind schon oft durch verächtliches und abwertendes Blicken vorbereitet worden. Psychisch Kranken, die wie der italienische Jude und Antifaschist Levi in den Augen der Nationalsozialisten zu den "Dingsdas" gehörten, begegnet er mitunter noch: der kalte, sezierende oder furchtsam-befremdete Blick desjenigen Menschen, der sich auf der anderen Seite der Glaswand wähnt, sicher vor den Anmutungen des psychotischen Wahns, vermeintlich.

Von Cornelia Schäfer |
    Die Psychiatrie-Reform und die Emanzipation der Psychiatrie-Erfahrenen, haben einen Blickwechsel eingeleitet: Wenn Ärztinnen, Bürger und Angehörige heute auf die "Verrückten" schauen, gucken diese zurück. Und die "Normalen" können statt des "anderen", des "Defekten" oder des "gefährlichen Irren" oftmals schon den Mitmenschen mit seinem seelischen Problem erkennen. Unter diesen Blicken lässt es sich leben. Solche Blicke sind wie ausgestreckte Hände, ermöglichen Kontakt, Austausch gar über den Wahn und Hoffnung auf Re-Integration in die Welt der (noch) Gesunden. Eine Lange Nacht über Blicke auf den Wahn. Vorsicht: Es wird zurückgeschaut!

    Sibylle Prins, Jahrgang 1959, ist psychoseerfahren und Autorin zweier Bücher über ihre Erfahrungen mit der Psychose und die Psychiatrie. Sie engagiert sich in der Betroffenen-Bewegung für eine menschengerechte Psychiatrie und ein vorurteilsloses Miteinander von Menschen mit und ohne Psychosen.
    Verein Psychiatrie-Erfahrener Bielefeld e.V.
    Susanne Heim, Jahrgang 1937, ist Mutter eines psychosekranken Sohnes, Mitbegründerin der Kölner Angehörigen-Selbsthilfe "Rat und Tat" sowie des Kölner Psychoseforums, das von ihr gemeinsam mit einer Psychiaterin und einer Psychose-Erfahrenen moderiert wird.
    Stimmenhören - (k)eine Katastrophe?

    Prof. Dr. Klaus Dörner, Jahrgang 1933, ist Psychiater und Psychiatriereformer. Er hat von 1981 bis 1996 das Landeskrankenhaus (die psychiatrische Klinik) in Gütersloh geleitet, in dieser Zeit den Langzeitbereich der Klinik aufgelöst und die Patienten darin unterstützt, wieder in ihren Heimagemeinden bzw. in Gütersloh und Umgebung Fuß zu fassen.
    Weitere wichtige Menschen, die in der Sendung zu Wort kommen, sind Psychose-Erfahrene, die über ihr Erleben berichten:
    Dorothea Buck, die als 19-Jährige 1936 zwangssterilisiert wurde, weil die Psychiater sie als unheilbar geisteskrank diagnostizierten. Die heute 87-Jährige ist Ehrenvorsitzende des Bundesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen und setzt sich seit Jahrzehnten für eine gesprächsbreite, an den Erfahrungen der Betroffenen orientierte Psychiatrie ein.
    Dr. Matthias Krisor, der ärztliche Leiter des Wanne-Eickeler St. Marienhospitals und einige seiner PatientInnen berichten darüber, wie Psychiatrie auch sein kann: an den Interessen, Bedürfnissen und Ressourcen der PatientInnen orientiert, offen zur und für die Gemeinde, die die Klinik umgibt.
    Ulla Schmalz, die in Köln ein so genanntes "Hotel Plus" leitet, ein Hotel, in dem die Stadt psychosekranke obdachlose Menschen unterbringt, die (noch) nicht selbständig wohnen können, aber auch nicht in die Strukturen psychiatrischer Heime noch der Obdachlosenhilfe passen.
    Wolfgang Voelzke, der trotz langjähriger Psychoseerfahrung ein ganz normales Leben führt, schildert, wie er gelernt hat, seine Psychoseanfälligkeit zu "managen", indem er sorgsam mit sich umgeht , auf Frühwarnzeichen achtet und ggf. Medikamente nimmt.
    Margarete Koopmann, die nach einer ganzen Serie von Psychosen der festen Überzeugung ist, nun "damit durch" zu sein, da die Krankheit ihren Zweck erfüllt habe.
    Matthias Schmidt, der einen satirischen Blick auf die Psychiatrie wirft und
    Ruth Vogel, die in Mönchengladbach ein Psychoseseminar initiiert hat, zu dem Menschen mit und ohne Psychosen, Angehörige und Psychiatrieprofis kommen, um sich über Psychosen und den Umgang damit auszutauschen.
    In poetischer Form sind zu hören: Ingeborg Bachmann, Georg Büchner, Wolfgang Borchert und Peter Huchel.
    Literaturtipps:
    Th. Bock, J. E. Deranders, I. Esterer:
    Im Strom der Ideen.
    Stimmenreiche Mitteilungen über den Wahnsinn.
    Psychiatrie verlag Bonn 1994, 188 Seiten, ISBN 3884141570.
    Aus dem Austausch in den Psychose-Seminaren entstanden selbstbewusste Erfahrungsberichte von Psychose-Erfahrenen und Angehörigen sowie Nachdenkliches über den Umgang mit Psychosen von Psychiatrie-Profis.
    Th. Bock, J. E. Deranders, I.Esterer
    Stimmenreich.
    Mitteilungen über den Wahnsinn.
    Psychiatrie Verlag Bonn 1996. 231 Seiten, ISBN 3884141384.
    Auch dies sind spannende Reflexionen und Erfahrungsberichte von Psychose-Erfahrenen,. Angehörigen und Psychiatrie-Profis.
    Thomas Bock
    Lichtjahre.
    Psychosen ohne Psychiatrie.
    Krankheitsverständnis und Lebensentwürfe von Menschen mit unbehandelten Psychosen. Psychiatrie Verlag Bonn, 1997, 375 Seiten, ISBN 3884142046.
    Der Psychologe und Leiter der Sozialpsychiatrischen Ambulanz im Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf hat mit 34 Menschen gesprochen, die mit ihren Psychosen fern vom psychiatrischen Versorgungsnetz leben und daraus neue Erkenntnisse über Psychosen als menschliches Erfahrungsfeld gewonnen.
    Klaus Dörner
    Tödliches Mitleid.
    Verlag Jakob van Hoddis, Gütersloh 1993. 134 Seiten. ISBN 3926278110.
    Das Buch enthält eine Analyse der Motive und Hintergründe der Zwangssterlisisationen und Krankenmorde im "Dritten Reich" und ist zugleich auch eine sehr persönliche Auseinandersetzung des Autors mit der Verdinglichung von (psychisch und geistig behinderten) Menschen durch Psychiatrie und Gesellschaft.
    Klaus Dörner (Hrsg.)
    Ende der Veranstaltung.
    Anfänge der Chronisch-Kranken-Psychiatrie.
    Verlag Jakob van Hoddis, Gütersloh 1998. 394 Seiten, gebunden. ISBN 3926278390.
    Klaus Dörner und andere beschreiben hier das Ende der bloßen Aufbewahrung chronisch psychisch kranker Menschen und den Beginn einer engagierten Arbeit mit ihnen in der Gemeinde - statt im Krankenhaus oder im Heim.
    Susanne Heim
    Trialog - praktisch nur im Biotop...,
    in: J. Bombosch/H.Hansen/J.Blume (Hg)
    Trialog praktisch. Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Professionelle gemeinsam auf dem Weg zur demokratischen Psychiatrie.
    Paranus Verlag, Neumünster 2004, 248 Seiten, 19 Euro, ISBN 392620057X.
    Erfahrungsberichte und Reflexionen über den Stand der Dinge beim Austausch über einen menschengemäßen Umgang mit Psychosen. Nicht nur die Psychoseseminare werden hier thematisiert, sondern auch die Beteiligung auf politischen Ebenen.
    Susanne Heim
    Unermüdlich und allzeit bereit.
    Wie hilfreich sind selbstlose Angehörige?
    In: Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (Hrsg.):
    Mit psychisch kranken leben. Rat und Hilfe für Angehörige. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2001.
    Sybille Prins
    "Gut, dass wir mal darüber sprechen!"
    Wortmeldungen einer Psychiatrie-Erfahrenen.
    Paranus-Verlag , Neumünster 2001, 198 Seiten, 12,80 Euro. ISBN 3926200499.
    Nicht als Opfer, aber auch nicht als Erfolg der Psychiatrie analysiert Sibylle Prins treffsicher und zuweilen witzig das Hilfesystem, das immer noch allzu oft viel Wirbel um seine Erkenntnisse und Kompetenz macht und dabei das Not-Wendige zu tun verfehlt.
    Sophie Zerchin (alias Dorothea Buck) :
    Auf der Spur des Morgensterns.
    Psychose als Selbstfindung.
    List Verlag München 1998, 253 Seiten, gebunden. ISBN 3471787526.
    Dasselbe Buch ist auch als Taschenbuch erschienen, und zwar im
    Econ Verlag München, 1999. ISBN 3 612 265938, für 8,95 Euro.
    Hier schildert Dorothea Buck ihre Psychosen, ihre Erfahrungen mit der Psychiatrie der 30er, 40er und 50er Jahre und ihren Weg zur Heilung.
    Links:
    Netzwerk Stimmenhören
    Auf dieser Homepage heißt es: Wer Stimmen hört, hört ganz real gesprochene Worte, die nur er selber wahrnehmen kann. Etwa 3-5 Prozent der Bevölkerung haben irgendwann einmal in ihrem Leben Stimmen gehört - ein Großteil davon, ohne dabei krank zu sein. Das Stimmenhören tritt oft in Verbindung mit einem einschneidenden Erlebnis im Leben auf, z.B. können sie im Trauerfall trösten oder bei Hochseeseglern auftreten, die lange Zeit unter extremen Bedingungen alleine sind. Gerade wenn die Stimmen im Rahmen einer psychiatrischen Erkrankung auftreten, sind sie oft sehr quälend.
    Psychiatrienetz
    Unter dieser Adresse haben sich mehrere sozialpsychiatrisch orientierte Akteure in der Psychiatrie zusammen getan: die Aktion Psychisch Kranke e.V., der Dachverband Gemeindepsychiatrie, die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP), der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (BapK) und der Psychiatrie Verlag. Das Portal gibt Auskunft über die einzelnen Organisationen, weist auf aktuelle Termine hin und informiert kritisch über Diagnosen, Therapien, das Hilfenetz u.a.m. In der Rubrik "Erfahrungen" haben Psychose-Erfahrene Texte, Bilder und Fotos veröffentlicht.
    Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE)
    Dies ist das Internetportal der im Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen organisierten Betroffenen. Aktuelle Informationen etwa zu Gesetzesvorhaben oder politischen Aktionen, Adressen von Selbsthilfegruppen, Buchtipps u.v.m.