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Blind sehend gemacht

Vehement und selbstgerecht macht sich der Züricher Ödipus in Matthias Hartmanns Aufführung zum Wortführer, als es darum geht, den Mörder des Laios zu finden und zu bestrafen; denn er will dem Schrecken endlich ein Ende machen. Ödipus als Brennspiegel der aktuellen Debatte um das menschliche Schicksal im Zeitalter serieller medialer Reproduzierbarkeit

Von Cornelie Ueding |
    Als erstes wird der Blick auf die Bühne – zugemalt. Will sagen: Diesseits der vier raumhohen, weiß angepinselten gläsernen Trennscheiben spielt die Musik. Hier, unter uns, auf und vor dem ansteigenden, von einem gezackten Licht-Laufsteg segmentierte Auditorium, das an alte Hörsäle, Plenarsäle, auch an Kirchengestühl erinnert, unter uns Volksvertretern wird das Unglück der vom Pesthauch verwüsteten Stadt Theben und des alle Traditionen verletzenden Lebens ihrer Bewohner verhandelt; hier wird das Geschick des Ödipus besiegelt. Der wurde als neugeborenes Kind ausgesetzt, weil er einer Prophezeihung nach seinen Vater töten würde. Ein mitleidiger Diener aber gab das kleine Kind heimlich weiter, statt es zu töten. Und Ödipus wuchs auf im Glauben, der König von Korinth sei sein Vater.

    Als er von der Weissagung erfährt, flieht er, um seinen Ziehvater zu schützen – und tötet seinen leiblichen Vater Laios bei einem, heute würde man sagen: Streit um die Vorfahrt an einer Kreuzung. Als Sophokles Ödipus-Stück einsetzt, ist er König von Theben und verheiratet mit Iokaste, seiner Mutter. Zufall? Schuld? Hammerhartes Schicksal in Gestalt eines Fluches, in dem das verhängnisvolle Ende eines Menschen unverrückbar feststeht, noch ehe dieser seinen ersten Atemzug getan hat?

    Vehement und selbstgerecht macht sich der Züricher Ödipus in Matthias Hartmanns Aufführung zum Wortführer, als es darum geht, den Mörder des Laios zu finden und zu bestrafen; denn er will dem Schrecken endlich ein Ende machen. Er fordert Klartext von seinem Schwager Kreon und von seiner Frau, will das System von Andeutungen, Weissagungen und Geraune, von Orakel, Prophetie und öffentlicher Meinung durchdringen – und wird von dem Seher Theiresias unliebsam auf seine eigene, ihm unbekannte Identität gestoßen: ein Opfer des Fluches oder nicht doch eher des Schweigens, des Angedeuteten, Nichtgesagten, des Verschwiegenen, des Halbwissens?

    Als die Trennscheiben zwischen Bühne und Zuschauerpodest am Ende wieder blankgewaschen sind, ist der anfangs leere Glasboden der ungenutzten Spielfläche voller Bruchstücke von Beinstümpfen und Schuhen und es zeigt sich, wie zerstörerisch der Glaube an das Orakel war. Der geblendete Ödipus wummert zum Schluss mit blutigem Kopf gegen die Scheiben – und einer schreibt mit weißer Farbe HAPPY END drüber und macht einen Punkt. Hartmann interpunktiert in seiner als Ödipus-Projekt bezeichneten Inszenierung den 2500 Jahre alten Sophokles-Text auf verschiedene Weise. Da ist zum einen die herausragende Behandlung des Chores, zu dem alle Figuren verschmelzen, sobald sie in einer Szene nicht individualisiert sind. Dann äußern sie sich in einem Alltagssprachstil jenseits aller klassischen Prosodie hinhaltend, beschönigend, besänftigend, vernebelnd, banalisierend. Sie reichen die Worte der Großen dieser Welt von Mund zu Mund und drehen sie wortwenderisch so lange hin und her, bis einmal mehr Einverständnis herrscht: die personifizierte kollektive Halbherzigkeit.

    Dieses Verfahren macht sinnenfällig, wie geistige Trägheit und Zweckoptimismus zum Ritual nicht nur der antiken Gesellschaft geworden sind. Ebenso unabweisbar wie richtungszerstörend quäkt bisweilen die Kunststimme eines GPS dazwischen. Weissagungen, Fluch und Orakel gegenüber sind wir zwar heute eher skeptisch, wenn sie so genannt werden. Aber ganz selbstverständlich glauben wir der medialen Vermittlung der öffentlichen Meinung, den Religionen oder auch manch pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen. Zufall und Technologie haben die Herrschaft des Schicksals übernommen.

    Hartmann lässt diesen Ödipus zu einem Brennspiegel für die hochaktuelle Debatte um das menschliche Schicksal im Zeitalter seiner seriellen medialen Reproduzierbarkeit werden. Zugleich befreit er uns auf elegante und witzige Art von allen möglichen Ödipuskomplexen zugunsten einer im besten Sinne politischen Lesart des Sophokles.