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Bloßstellen

Leben wir im Zeitalter der fortschreitenden öffentlichen Verhöhnung? Dafür spricht, dass im Fernsehen rund um die Uhr Menschen zum Narren gemacht werden. Über das Netz wird diese Entwicklung ins Uferlose gesteigert.

Von Robert Schurz | 07.10.2012
    Denn auch bei Zuschauern wie usern ist die Schamschwelle deutlich gesenkt; ist man bereit, um einer fragwürdigen Publizität willen ein Stück an Privatheit und Intimität aufzugeben.

    Dazu der Essay "Bloßstellen. Das neue mediale Vergnügen." von Robert Schurz.

    Der Autor ist promovierter Philosoph und praktizierender Psychotherapeut. Als freier Hörfunkjournalist befasst er sich seit geraumer Zeit mit dem kulturellen Wandel im digitalen Zeitalter.

    Die Bilder sind noch präsent: Amerikanische Soldaten und Soldatinnen posieren mit irakischen Kriegsgefangenen für Erinnerungsfotos: Die Gefangenen sind nackt und werden zu entwürdigenden, obszönen Stellungen gezwungen, während die vermeintlichen Sieger dazu dümmlich grinsen. Ein radikaler Akt der Bloßstellung.

    Diese Art, die menschliche Beute nach einem gewonnenen Kriegszug vorzuführen, gab es schon, seit dem sich Menschen bekämpfen. Der gefangene Feind wird zur Trophäe und seine Hilflosigkeit, seine Ohnmacht wird nochmals ausführlich zelebriert. Die berühmteste Bloßstellung in unserem Kulturkreis widerfuhr allemal dem Sohn Gottes: fast nackt, mit einer Dornenkrone versehen, wird er, der König der Juden, ans Kreuz geschlagen.

    Eine offensichtliche Widerlegung der Behauptung seiner göttlichen Würde. Der herrschenden Priesterkaste genügte anscheinend nicht, diesen Feind zu eliminieren: es musste auch der Öffentlichkeit gezeigt werden, dass sie von diesem Gott nichts zu befürchten habe. Ein erbarmungswürdiges aber auch hilfloses Häufchen Elend, - ein bloßes Stück Fleisch.

    Aber anscheinend werden nicht nur Feinde vorgeführt, sondern auch das Abartige. Seitdem es Öffentlichkeit gibt, wird auch der menschliche Makel gezeigt: die Frau mit den drei Brüsten, der Kretin mit dem Wasserkopf, die siamesischen Zwillinge. Und solche öffentlichen Entwürdigungen werden regelrecht inszeniert: zur Belustigung der Masse oder der herrschenden Schicht. Der menschliche Makel ist mit dem Wort "Narr" assoziiert, das in der frühen Bedeutung auch das Missratene meint.

    So waren die frühen Hofnarren denn auch sogenannte natürliche Narren: meist Zwerge oder anderweitig verkrüppelte Gestalten, die in Käfigen gehalten wurden zur Belustigung der Herrschaft. Später kamen dann die künstlichen Narren hinzu: Neben Angestellten des Hofes waren das meist Mitglieder des fahrenden Volkes oder sonstige Gaukler, die sich zum Narren machten, - also gewisse Unzulänglichkeiten bloß vortäuschten, um andere zu belustigen. Daraus entstand dann die Spiegelfunktion des Narren: Indem der Narr seine Tollheiten zur Schau stellt, hält er dem Anderen, vorzugsweise dem König einen Spiegel vor: Siehe, auch du bist ein Narr.

    In der spätmittelalterlichen Narrenkultur konnte sich der Hofnarr sogar über den König lustig machen, also eine Umkehr der Verhältnisse. Der König aber, da er von der Abhängigkeit des Narren von seiner Gunst wusste, konnte solche Entwürdigungen tolerieren, weil er sie gebannt wusste: sie hatten einen festen Rahmen. Der Regent ließ sich von seinem Narren vorführen, um seinerseits seine Erhabenheit über das Narrentum zu demonstrieren. Die Botschaft hieß auch: Wenn ich eine närrische Seite habe, so kann ich sie kontrollieren. Die möglichen Narreteien des Königs wurden also in dieser Institution gewissermaßen aufgefangen.

    Der Soziologe Niklas Luhmann beschreibt diesen Mechanismus der Stabilisierung von Herrschaft so:

    "Typisch scheint mithin eine Hierarchie ihre eigene Formenauswahl dadurch zu bestätigen, dass sie semantische Varianten zulässt, die andere Möglichkeiten auf sich ziehen, an sich binden, aber nicht als Alternative zur Hierarchie auftreten. Die Hierarchie wird als funktional unersetzbar behandelt, und eben diese Vorentscheidung macht es möglich, den Sinngehalten, die das Hierarchische frei umspielen, ihrerseits eine prägnante Form zu geben: als Umkehrung, als Parodie,
    als Angriff, der nicht abgewehrt zu werden braucht, weil er ebenso treffend wie unernst geführt wird."


    Das Bloßstellen beherrscht heute einen großen Teil des medialen Alltags und damit auch einen großen Teil der Aufmerksamkeit der Bundesbürger. Immer mehr TV-Formate greifen die Lust an der Blamage auf. Etwa die Kult-Serie "Bauer sucht Frau"u. Dass hier gerade Bauern vorgeführt werden, hat eine lange Tradition: Bauern waren eben nur dumme Bauern und wurden gerne von der herrschaftlichen Oberschicht als solche bloßgestellt. Daran knüpft nun ein deutscher Privatsender an und zeigt den modernen Landwirt in seiner ganzen vermeintlichen Tölpelhaftigkeit.

    Dabei ist es nicht ausschlaggebend, ob die gezeigte Blödheit authentisch ist oder bloß einer geschickten Regie folgt: Wesentlich ist, dass ein Einverständnis mit dem Publikum da ist, dass es sich um reale Narren handelt. Der Unterschied zwischen dem natürlichen Narren und dem künstlichen, - also, um modern zu sprechen, zwischen reality und fake verschwindet, denn das Fernsehen transformiert jede Realität in eine, die weder künstlich noch natürlich ist, sondern einfach TV-Realität.

    Konkret: Natürlich werden die Bauern angeleitet und es wird ihnen gesagt, wie sich als Narren gebärden sollen, aber das ändert nichts daran, dass sie sich als Narren zur Verfügung stellen. Auch bei der wohl bekanntesten aller Bloß-Stellungs-Shows, bei "Deutschland sucht den Superstar" kurz: "DSDS", werden die Kandidaten in ihren närrischen Vorführungen durchweg gebrieft, also instruiert. Vielleicht sind es natürliche Narren, also Menschen mit Defiziten, aber auch hier zählt nur die TV-Realität: sie werden als Freaks, als Krüppel präsentiert.

    Und gerade in dieser Show spielt sich die Dialektik des spätmittelalterlichen Hofnarren erneut ab, in welcher sich der König gegen sein eigenes Narrentum immunisiert. Derart kann auch der närrische Dieter Bohlen, wie der mittelalterliche König, über seine kognitiven und sozialen Defizite hinwegtäuschen.

    Direkter an die mittelalterliche Form des Narrentums schließt das sogenannte "Dschungelcamp" an; - hier müssen Personen zunächst dafür büßen, dass sie mal berühmt waren, und sie büßen mit ihrer Blamage. Früher gab der König dem Narren zur allgemeinen Belustigung mitunter eine Kröte zu fressen, heute sind es eben Ex-Stars und das Publikum ist in der Position des Königs.

    Die Bloßstellungsmaschinerie des Fernsehens läuft auf vollen Touren und durchzieht fast das gesamte Live-Programm. Man rückt Menschen auf die Pelle, um deren Unzulänglichkeiten darzustellen. Das fängt bei den völlig schwachsinnigen Vormittags-Talkshows an, wo Narretei mit totaler Idiotie gleichgesetzt ist, und hört bei einer Preisverleihung auf, bei der eine von einem Schlaganfall gezeichnete Moderatorin mühselig stammelnd einen öffentlichen Heiratsantrag macht. Auch das war und ist eine Funktion des Narren: peinlich zu berühren.

    Die Bloßstellungsmanie hat längst schon das Medium Fernsehen verlassen und ist auf das Zweite große, vielleicht noch bedeutendere Medium unserer Zeit übergegangen, - auf das Internet. Seitdem die Intimität via Facebook und anderen ähnlichen Institutionen netzfähig geworden ist, vermehren sich die öffentlichen Bloßstellungen explosionsartig. Jugendliche verbringen Stunden damit, neben den Chats sich Videos anzuschauen, auf welchen Narren agieren.

    Das können arrangierte Szenen sein, also Akte von künstlichen Narren, - das können jedoch auch Diffamierungen sein und in diesem Fall nimmt der Bloßgestellte die Funktion des Gefangenen, der Kriegsbeute an. Die Jugendliche, die ihre betrunkene Freundin dabei filmt, wie sie sich auf einer Party von mehreren Jungs befingern lässt und das dann ins Netz stellt, verhält sich wie jemand, der einen Feind zur Strecke bringt.

    Was also hat es mit der Bloßstellung in unserer Mediengesellschaft auf sich? Neu ist sie beileibe nicht. Schon vor mehr als fünfzig Jahren, als das Fernsehen gerade seinen Siegeszug antrat, schrieb der Philosoph Günther Anders in seinem nahezu prophetischen Werk "Die Antiquiertheit des Menschen" über die Bloßstellung in den Medien:

    "Ideal ist allerdings auch diese Ungeniertheit noch nicht, da sich die Personen, mit denen wir da beliefert werden, selbst ausliefern, also unsere freiwilligen Opfer sind.
    Das ‘Optimum’ von Auslieferung und Belieferung wird erst dann erreicht, wenn die Ausgelieferten genauso wenig wie andere Waren davon unterrichtet sind, dass sie ausgeliefert werden und nichts dagegen unternehmen können; wenn sie sich ahnungslos unter dem Auge eines Aufnahmeapparats befinden, weil dort [ ... ] ein ungeheuer aufregendes Erlebnis für sie bereitgestellt ist, das nun in frischestem Zustand inklusive Schreikrämpfe, Tränen oder Ohnmachten den Kunden zugeleitet wird."


    Günther Anders betont insbesondere die Wechselseitigkeit dieses Vorgangs. Menschen werden in den Medien nicht nur zum Narren gemacht; sie drängen sogar darauf, zum Narren gemacht zu werden.

    "Der Spitzel und der Exhibitionist: diese beiden Typen fungieren als Partner auf ein und demselben Spielfeld. Ja, sogar als auswechselbare Partner. Niemand wird daran Anstoß nehmen oder auch nur darüber staunen, wenn etwa ein Fernsehreporter, der gestern einen Mitmenschen in flagranti eines Schreikrampfes ertappt und diesen Schreikrampf seinem Publikum als Genussobjekt serviert hat, sich heute auf einem Bildschirm hemmungslos preisgibt, also im Lager der Schamlosen steht."
    Bei der Analyse des Phänomens medialer Bloßstellung muss man unterscheiden zwischen der individuellen Ebene und der Ebene sozialer Systeme. Was die Individuen betrifft, so werden durch die Blamage menschliche Bedürfnisse bedient, die nicht gerade neu sind, aber durch die elektronischen Medien eine neue Art von Erfüllung erfahren. Das sind: Triumph, beziehungsweise die Erhebung über den Anderen. Da ist die Bedrohungsreduktion und schließlich die Entlastung. Das einfachste Motiv ist das des Triumphes: Mit der Bloßstellung des anderen dokumentiert man seinen Sieg. Und dieses Siegesgefühl wird Millionen von Fernsehzuschauern vermittelt, wobei die Art des Triumphs schichtspezifisch gestaltet ist: Je einfacher das Publikum, desto brutaler die Blamage.

    Man kann hier von einem narzisstischen Gewinn sprechen: Man spiegelt sich in dem Anderen, der einem zeigt, was man selber nicht ist. Gerade für Angehörige einer benachteiligten Schicht ist es wichtig, den Spielraum nach unten zu definieren: Man ist dann zwar unterprivilegiert, aber doch kein Narr.

    Komplexer ist das Motiv der Bedrohungsreduktion. Jedes Lebewesen muss sich in einer potenziell feindlichen Umwelt behaupten. Dazu muss es die Umwelt erkunden, also ein Explorationsverhalten oder eine gewisse Neugier an den Tag legen und es muss sicherstellen, dass keine Gefahr droht. Neugier meint: schauen, was dahinter ist, was sich eventuell verbirgt. Darauf antwortet der kollektive Voyeurismus. Erst das, was man nackt sieht, wird ungefährlich.

    Nackt sein heißt wehrlos sein, und die Bedrohung, die für den Menschen vom Menschen ausgeht, - und das ist die größte Bedrohung -, wird durch das Entblößen gemildert. Indem nun die Medien massenhaft Menschen entblößen, machen sie in gewisser Weise die Umwelt ungefährlicher.

    Diesen Effekt kann man übrigens auch gut an der Faszination studieren, die von der FKK-Kultur ausgeht. Wenn alle nackt sind, fühlt sich der Einzelne sicherer und freier: Keiner hat etwas zu verbergen, bei jedem ist alles sichtbar.

    Hier aber zeigt sich ein erster demokratischer Effekt: Indem jeder Opfer einer Entblößung werden kann, werden Herrschaftsstrukturen abgebaut. Selbst die Bundeskanzlerin wird im Internet mit einem strohdummen Gesichtsausdruck gepostet und damit das Amt in gewisser Weise entmystifiziert.

    Keiner soll sich einbilden, etwas Besseres zu sein. Henri Bergson spricht in seiner Studie über das "Lachen" von der notwendigen Taktlosigkeit des Komischen:

    "Man hört auf, sich mit jedem Schritte der Gesellschaft anzupassen, von der man ein Glied ist. Man vergisst allmählich die Aufmerksamkeit, die man dem Leben schuldig ist. Man bricht mit Logik und Sitte, kurz, benimmt sich wie einer, der spielt. Einen Augenblick wenigstens mischen wir uns in das Spiel und ruhen aus von der Anstrengung des Lebens."

    Sicher sind die Anstrengungen des Lebens, des psychischen Lebens im letzten Jahrhundert enorm gestiegen. Der durchschnittliche Zeitgenosse wird durch die Medien, aber auch durch die vermehrten Ansprüche der Zivilisation immer stärker mit seinen Unzulänglichkeiten konfrontiert. Der närrische Möchtegern-Künstler in der Casting-Show entlastet vom eigenen Ungenügen an dem Anspruch, seine Talente zu verwirklichen und aus seinem Leben etwas zu machen, das Optimum herauszuholen. Aber haben wir es in der medialen Bloßstellung nicht mit einem Prozess wachsender Entwürdigung zu tun?

    Nun kann man alle diese individuellen Motive: den Triumph oder die Selbstbehauptung, dann die Bedrohungsreduktion und die Entlastung als sozialen Prozess zunehmender Befreiung verstehen. In der Tat, wer sich selbst behaupten kann, wer ohne Bedrohung lebt und weitgehend entlastet ist, kann ein Stück weit "frei" genannt werden. Es lebt sich leichter, weil man eben auch frei von der Last der
    Würde ist.

    Zunächst läuft der Prozess der Zivilisation genau in die andere Richtung: in die der Zunahme von Würde. Der Soziologe Norbert Elias hat in seinem epochalen Werk "Der Prozess der Zivilisation" die Zunahme der Sensibilität für Scham und Peinlichkeit, also auch der Würde, in Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung der höfischen Gesellschaft ab dem 16.Jahrhundert gebracht.

    "Es ist gezeigt worden, wie vom 16. Jahrhundert ab die Scham- und Peinlichkeitsschwelle allmählich rascher vorrückt. Dieses Vorrücken fällt zusammen mit der beschleunigten Verhöflichung der Oberschicht. Es ist die Zeit, in der die Abhängigkeitsketten, die sich in dem Einzelnen kreuzen, dichter und länger werden, die Zeit, in der immer mehr Menschen immer enger aneinander gebunden sind und der Zwang zur Selbstkontrolle wächst. Wie die wechselseitige Abhängigkeit, so wird auch die wechselseitige Beobachtung der Menschen stärker; die Sensibilität und dementsprechend die Verbote werden differenzierter und differenzierter, umfassender und vielfältiger wird auch das, worüber man sich schämen muss, das, was man an Anderen als peinlich empfindet."

    Norbert Elias konstatiert als Ursache dieses Prozesses eine Wandlung des Bedrohungsszenarios. In archaischen Gesellschaften kommt die Bedrohung primär von Außen, von der Natur und dem äußeren Feind. Mit zunehmender Naturbeherrschung und gleichzeitiger Befriedung des Lebensumfeldes wird jene Bedrohung stärker wahrgenommen, die dem Menschen von seinesgleichen droht.

    Auf diese gewandelte Art von Bedrohung reagiert das verstärkte Scham- und Peinlichkeitsempfinden. Nun betrifft diese neue Sensibilität nicht nur die Peinlichkeiten, die von Anderen ausgehen, sondern, da der Andere "meinesgleichen" ist, auch die eigene Peinlichkeit. Man beginnt verstärkt, sich zu schämen. Nach Elias ist diese Scham ein Mittel zur Kontrolle, ein Mittel, um Triebdurchbrüche zu verhindern. Er schreibt:

    "Die Ängste des Menschen vor äußeren Mächten werden - ohne je zu verschwinden - geringer; die niemals fehlenden, latenten oder aktuellen Ängste, die aus der Spannung zwischen Trieb und Ich entstehen, werden im Verhältnis zu ihnen stärker, allseitiger und beständiger."

    Diese Angst nun führt zur vermehrten Selbstkontrolle: Das Ich versucht, den Trieb vollständig zu beherrschen. Das Bloßstellen hingegen desavouiert das Ich, indem es ihm gerade die Selbstkontrolle entzieht. Der Besiegte, der im Triumphzug vorgeführt wird, wird von außen kontrolliert; der natürliche Narr wird von seinem Narrentum geführt und der künstliche Narr inszeniert geradezu seinen Kontrollverlust.

    Der Triebdurchbruch, ein Terminus aus der Psychoanalyse, meint ein Verhalten, dass keiner Verstandeskontrolle mehr gehorcht. Der Exhibitionist ist Opfer seines Dranges, sich auszuziehen, der Fresssüchtige wird Opfer seines ewigen Hungers und eben durch diesen bloßgestellt. Was aber ist geschehen, da nun die Medien systematisch die Scham eliminieren und dadurch dieses Mittel der Triebkontrolle außer Kraft setzen?

    "Ihr Affentum, meine Herren, soferne sie etwas Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein, als mir das meine. An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles."

    So heißt es in Kafkas Erzählung "Ein Bericht für eine Akademie", in der ein Affe davon erzählt, wie er sich den Menschen ähnlich machen konnte. Dieser Affe, Rotpeter genannt, vollzieht das Gegenteil dessen, was in einer Bloßstellung geschieht, in der ja der Mensch zum Affen gemacht wird oder sich selber dazu macht. Affen und Narren scheinen zwei Versionen einer entgleisten Menschennatur zu sein.

    Kafkas Rotpeter macht sich zum Menschen, indem er seine Affennatur bezähmt, und das gelingt ihm merkwürdigerweise dadurch, dass er lernt, sich kontrolliert zu besaufen. Er tut also das, wodurch der Mensch im Allgemeinen zum Affen wird, entzieht ihm doch gerade der Alkohol die Kontrolle über sich selbst und macht ihn dadurch zum Gespött. Kafkas Affe imitiert die Narreteien der Menschen, um sich selber von seiner närrischen Affennatur zu befreien.

    Rotpeter vollzieht sozusagen die menschliche Evolution nach, er bezähmt seine Affennatur gerade dort, wo der Mensch sich wiederum in die Nähe des Affen begibt: im Rausch. Der Mensch behauptet sich unter anderem gegen seine Affennatur anscheinend dadurch, dass er Alkohol trinken kann, ohne sich zum Narren zu machen und Rotpeter trinkt nicht mehr als Verzweifelter, als Opfer seiner natürlichen Anlagen, sondern als Künstler, der im Rausch seine Natur überwunden hat.

    Der "Bericht für eine Akademie" ist, - wie auch anders bei Kafka - mehrschichtig und subtil. Er vollzieht eine Art Vexierspiel und verbleibt dabei im Unentschiedenen; die Erzählung löst den Widerspruch zwischen der Abgrenzung von und der Identifikation mit der närrischen Affennatur nicht auf. Damit ist ein Problemfeld eröffnet, wie es uns in der medialen Bloßstellung und vielleicht auch im gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandel überhaupt begegnet.

    Es scheint, als ob die Bloßstellungsmanie in den Medien den Zweck verfolgt, der Affennatur, um in Kafkas Terminologie zu bleiben, wieder mehr Raum zu geben.

    So wird die Botschaft verbreitet: Uns kann nichts passieren, da wir alle Narren sind. Solche Botschaft widerspricht radikal jener, die nach Norbert Elias in einem früheren Stadium des Prozesses der Zivilisation verbreitet wurde: Uns kann nichts passieren, da wir keine Narren sind. Das nun ist der entscheidende Punkt: Früher wurde der Narr bloßgestellt, um sich von ihm radikal abzugrenzen. Heute fungiert die Bloßstellung als Identifikationsangebot: Wenn alle Narren sind, darfst auch du ein Narr sein.

    Das Vergnügen am Narren hat sich gewandelt: Freute sich früher der Zuschauer daran, dass er kein Narr ist, kann er sich nun daran ergötzen, dass das Narrentum ihm plötzlich offen steht. Die Motive des Bloßstellens haben sich gewandelt: Weniger zählt der Triumph, die Abgrenzung. Vielmehr rückt das Identifikationsangebot in den Vordergrund. Das, was einen nach Kafka ständig an der Ferse kitzelt, scheint Raum zu greifen: Das eigene Affentum rückt wieder näher und die Bloßstellung unserer Tage entspricht der großen Verheißung: Wir werden frohe Affen sein.

    Diese Botschaft hat der Soziologe Herbert Marcuse in seinem Buch "Der eindimensionale Mensch" zu verdeutlichen versucht. Er entwickelte die Theorie der sogenannten repressiven Entsublimierung, die erklären soll, wieso in modernen Industriegesellschaften Triebäußerungen anscheinend wieder stärker zugelassen werden als früher. Den Grund dafür sieht er in einer Rationalisierung der marktwirtschaftlichen Gesellschaft in allen Bereichen: Alles wird dem Prinzip der Gewinnsteigerung untergeordnet, wird also in ein beherrschbares Zweck-Mittel-Schema eingepasst. Die so regulierte Gesellschaft wird damit in gewisser Weise ungefährlicher.

    Was Marcuse unter Entsublimierung versteht, lässt sich an Harald Schmidt, dem Moderator einer Late-Night-Show sehen, in der es neben dem üblichen Talk auch darum geht, andere zum Narren zu machen, - inklusive sich selbst. Die vorgeblichen Witze, die Schmidt dabei verbreitet, zielen auf Triebdurchbruch: Jeder will doch nur seine sexuellen und materiellen Bedürfnisse befriedigen, - wir sind alle Narren und Schweine vor dem Herrn und alle Kultur, alle Sitte und aller Anstand ist geheuchelte Augenwischerei. Wir alle sind und bleiben natürliche Narren.

    Warum aber sollte der Prozess der Zivilisation sich umkehren, - auf Grund welcher Ursache sollte nun ein Wendepunkt erreicht sein? Auf eine mögliche Antwort deutet ein Detail bei Norbert Elias: Er spricht von der stärkeren Gebundenheit der Menschen untereinander, von einer stärkeren Abhängigkeit. Je dichter die sozialen Beziehungen, desto notwendiger die Triebkontrolle und desto stärker die Ausprägung von Würde, Scham und Peinlichkeitsempfinden.

    In der Umkehrung aber bedeutet dies: Je lockerer die sozialen Beziehungen werden, desto mehr Raum gibt es für die Affennatur, beziehungsweise das Narrentum des Menschen. Hier nun ist es auffallend, dass gerade die Medien, die ja erst die Bloßstellungsmanie ermöglichen, gleichzeitig auch die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander aktuell am stärksten strukturieren.

    Der leibliche Umgang mit Narren kann gefährlich sein, denn der Narr ist niemals vollständig berechenbar, eben weil er ein Narr ist. Der Bloßgestellte hat nichts zu verlieren und deshalb ist es ein Wagnis, in Kontakt mit ihm zu treten, denn unter der Bedingung der leiblichen Präsenz kann die Bloßstellung des Anderen in die eigene Beschämung umschlagen.

    Diesen Effekt versuchte etwa der 2010 verstorbene Christoph Schlingensief zu nutzen, wenn er reale Obdachlose auf die Bühne bringt. Indem sich die Ausgestoßenen der Gesellschaft derart bloßstellen, sollen sie gleichzeitig die Gesellschaft bloßstellen, die sie ausgestoßen hat. Das funktioniert aber, wenn überhaupt, nur unter der Bedingung der leiblichen Anwesenheit. Hätte Schlingensief bloß einen Film über Obdachlose gedreht, wäre die Wirkung dahin gewesen. Der Effekt, der bei der leiblichen Präsenz des Bloßgestellten auftritt, ist die Scham des Zeugen. Diese Scham reagiert auf das mögliche Umschlagen des Narrentums des Anderen in eine Selbstgefährdung und setzt so die Schwelle für die Verächtlichmachung des Anderen recht hoch beziehungsweise unterwirft sie strengen Regeln, Ritualen.

    Die Institution des Hofnarren verkörpert diese Kanalisation. In der medialen Bloßstellung entfällt mit der leiblichen Präsenz die Gefahr der Wechselseitigkeit und damit die Scham. Schamlosigkeit ist denn auch geradezu der Leitfaden, der sich durch die neuen Medien zieht. Die Sendung Big Brother mag dafür Pate gestanden haben. Da werden Menschen, zusammengepfercht auf begrenzte Räumlichkeiten, fast durchgängig von Kameras beobachtet und damit ihr Intimleben der Öffentlichkeit preisgegeben.

    Nun ist es weniger wichtig, dass dabei die Akteure anscheinend die Scham hinter sich gelassen haben: Das sind künstliche, also bezahlte Narren, und die hat es auch schon früher gegeben. Wichtig ist: Beim Zuschauer ist die Schamschwelle deutlich gesenkt. Ganz anders verhält sich das im Falle physischer Präsenz: Wir versammeln uns auch nicht im Sommer vor den Gärten privater Häuser, um das Privatleben derer zu betrachten, die im Garten agieren. Im Gegenteil: Von dieser Version von Big Brother wäre man peinlich berührt.

    In der medialen Bloßstellung entfällt das Moment der Scham durch soziale Distanz. Das Narrentum wird vom Gefühl der Peinlichkeit und Scham entkoppelt. Dadurch, dass soziale Kontakte immer weniger mit physischer Präsenz einhergehen, sondern medial geprägt sind, wird eine spezifische Schamgrenze verschoben und das Narrentum kann Raum greifen. Wir dürfen endlich die Narren sein, die wir sind, weil wir unsere Narreteien über Medien entschärfen, und damit die Schamgrenze des anderen nicht verletzen.

    Die Medien erlauben die Gleichzeitigkeit von Identifikation und Abgrenzung. Früher diente jede Identifikation der Abgrenzung, war also negative Identifikation: Der König ließ sich vom Narren zum Narren machen, um zu zeigen, dass er kein Narr ist. Man war entweder Narr oder König, und das wurde immer wieder bestätigt.

    Die Medien beenden dieses Entweder-Oder. Man kann nun Narr und König zugleich sein. Man kann sich vom Narren in den Medien abgrenzen und gleichzeitig sein eigenes Narrentum ausleben, schon allein etwa dadurch, dass man sich bei Facebook anmeldet, und so, sofern man sich dadurch im Netz selber in gewisser Weise entblößt, ein Stück von seiner Privatheit und Würde aufgibt.

    Diese Aufhebung der Privatsphäre korrespondiert mit einem Ideal, freilich nur des radikalen Flügels, der Ideologen der Französischen Revolution. Danach sollen die Bürger vollständig öffentlich leben, weil Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen. Keiner muss sich dann vor dem Anderen schämen, denn jeder hat das Recht, so zu leben, wie er will, wenn er dabei der Allgemeinheit keinen Schaden zufügt. Die Privatsphäre ist nach dieser Idee ein Herrschaftsmittel, denn in der privaten Sphäre verprügelt der Mann seine Frau und die Frau verprügelt ihre Kinder. Wenn alles sichtbar und öffentlich ist, kann es auch kaum mehr Verbrechen geben.

    "1789 war die grundlegende Revolution bereits da. Sie bestand in der Erfindung des öffentlichen Blickes, der ein spontanes Wissen anstrebte, bei dem jeder für die anderen nach der Art der Sansculotten zu einem freiwilligen Untersuchungsrichter wurde."

    Das schreibt der Theoretiker Paul Virilio in seinem Buch "Die Sehmaschine. Big Brother" für alle: So könnte sich das Robespierre durchaus vorgestellt haben. Bei ihm allerdings entfiele die zentrale Überwachungsinstanz, wie sie in dem Roman und gleichnamigen Film 1984 von George Orwell vorgestellt ist, sondern es wäre, - basisdemokratisch, eine Überwachung aller durch alle. Der Preis dafür ist das universale Narrentum, - die Abschaffung der Würde und der Scham zugunsten der totalen Demokratie.

    Unsere Gesellschaft entwickelt sich zweifellos in Richtung einer Globalisierung und Totalisierung, vorrangig getragen von den Medien und dies bringt allemal eine, wenngleich auch zweifelhafte Demokratisierung mit sich, die wiederum das Moment der Enthemmung zu einer wesentlichen Grundlage hat. Die Enthemmung oder nach Marcuse "Entsublimierung" betrifft viele Bereiche, hat viele Facetten und bringt eine große Entlastung mit sich: Keiner muss sich mehr für irgendetwas schämen.

    So lange die globale Öffentlichkeit durch Netzbetreiber oder Sendeanstalten gelenkt wird, solange ist es kein freies Narrentum, dessen wir uns erfreuen dürfen, sondern unsere vermeintlich Narrenfreiheit ist eingespannt in Profit- und Machtinteressen.

    Erst wenn der König verschwunden ist, kann der Narr wirklich ein freier Narr sein; erst wenn die Herrschaftsstrukturen der Gesellschaft verschwunden ist, kann die mediale Bloßstellung in eine, wenn man es so nennen mag, tatsächlicher Befreiung umschlagen. Hier sind wohl die sogenannten Piraten gefordert, eine neue und konkrete Gesellschaftsutopie zu entwickeln.