Ralf Zumbrock kommt richtig ins Schwärmen, wenn er Besucher durch das Freibad seines Heimatdorfes Atteln in Westfalen führt. Drei Becken gibt es hier: eines mit Sprungturm und 25-Meter-Bahn, das sportlichen Ansprüchen genügt, eines für Nichtschwimmer und eines für Mütter mit Kleinkindern. Alle drei sind chlorfrei und werden ausschließlich von der Sonne beheizt. Atteln hat ein Naturbad wie aus dem Bilderbuch, und das schönste daran: Die Bürger des Dorfes haben es selbst gebaut, erzählt Ralf Zumbrock:
"Jeder Quadratmeter Rasen ist von uns eingesät, jeder Pflasterstein, der hier liegt, ist von uns eingebracht worden, jedes Brett, was irgendwo auf den Holzstegen verschraubt wurde, ist durch Mitglieder in Eigenleistung verschraubt worden. Beim Bau oder Umbau des Bades sind über 13.000 ehrenamtliche Stunden geleistet worden von vielen Mitbürgern."
Ziemlich genau 500 Bürger waren es, die sich vor knapp drei Jahren zu einem Verein zusammenschlossen, dessen Vorsitz Ralf Zumbrock übernommen hat. Das alte Freibad von Atteln war damals dringend sanierungsbedürftig:
"Der Verein ist quasi aus der Not heraus geboren worden. Als seinerzeit man vor der Entscheidung stand: Müssen wir das Bad schließen, aus finanziellen Gründen? haben die Bürger nach einer Lösungsmöglichkeit gesucht, dieses Bad zu erhalten, für die Kinder attraktiver zu machen, so dass eben halt hier etwas entsteht, was der örtlichen Gemeinschaft zugute kommt, was ein Treffpunkt wird, wo man sich über die Sommermonate trifft, wo man halt auch zu Hause ein kleines Ferienerlebnis haben kann."
Die Ausschachtungsarbeiten für die drei neuen Becken gaben sie bei einer Baufirma in Auftrag. Danach legten sie selber los und ein dreiviertel Jahr nach der ersten Vereinssitzung konnte bereits die Einweihung gefeiert werden. 30.000 Besucher kamen im vergangenen Jahr, fast alle aus Atteln und der näheren Umgebung. Für nur 7,50 Euro kann sich eine Familie einen ganz Tag lang im Bad vergnügen. Dass die Preise so niedrig sind, liegt nicht zuletzt daran, dass auch der laufende Betrieb fast vollständig von den Vereinsmitgliedern aufrecht erhalten wird. Lediglich der Bademeister bezieht ein Gehalt von der Kommune. Andere Arbeiten von der Buchführung bis zum Einsammeln des Mülls auf der Liegewiese werden ehrenamtlich erledigt. Ralf Zumbrock will lieber gar nicht nachrechnen, wie viele Stunden er und die anderen Vereinsmitglieder immer noch in den Betrieb des Bades investieren:
"Ich glaube, da würde man auch einen Schreck kriegen, weil es sind andauernd Korrespondenzen zu pflegen, E-Mails zu schreiben, Telefonate zu führen, sei es mit dem Gesundheitsamt, sei es mit der Stadt, oder sei es um Baumaterialien für weitere Ausbaumaßnahmen zu ordern, zu koordinieren. Es ist eigentlich täglich etwas zu tun."
Und für jede Aufgabe findet sich jemand, der sie kompetent erfüllt, betont Ralf Zumbrock:
"Man kennt sich. Man trifft jeden Tag die gleichen Leute. Man weiß, wen man bei Problemen ansprechen kann, wer helfen kann, wer auch helfen möchte. Und als es damals um den Bau bzw. die Renovierung ging, haben wir gesagt: Schaffen wir das überhaupt mit der Menge an Leuten, die uns zur Verfügung steht? Sind wir in der Lage, 10.000 oder mehr Arbeitsstunden aufzubringen? Und das ist im Nachhinein gesehen unseres Erachtens nur bei einem Dorf, bei einer dörflichen Gemeinschaft in der Größe von 2000 Bewohnern so gut möglich gewesen, weil das sind genug, um eine solche Leistung zu vollbringen, aber noch nicht zu viele, um in der Anonymität zu versinken."
Gemeinsinn ist auf dem Dorf viel ausgeprägter als in der Stadt, das meint nicht nur Ralf Zumbrock. Das sagt auch Gerhard Henkel. Er lehrt Anthropogeographie an der Uni Duisburg-Essen, lebt aber ganz in der Nähe von Atteln, in Fürstenberg, einem Dorf im Kreis Paderborn. Gerhard Henkel beschäftigt sich seit über 30 Jahren wissenschaftlich mit dem Leben auf dem Lande. Seitdem habe sich vieles verändert, erzählt er, eines aber nicht:
"Dass die Menschen auf dem Lande intensivere soziale Kontakte haben. Zu Nachbarn, zu Verwandten, zu Freundeskreisen, dass man sich auch engagiert, dass man etwas miteinander tut, dass man sich in den Vereinen findet. Die Vereinsquote ist auf dem Land erheblich größer als in den Städten. Wenn ich Ihnen nur von diesem Dorf berichte, in dem wir gerade sitzen, ein Dorf von 2500 Einwohnern. Hier gibt es über 30 Vereine und die großen Vereine, der Sportverein, der Schützenverein, der Karne-valsverein, die haben 800, 900 Mitglieder."
Ein reges Vereinsleben ist für Gerhard Henkel zentraler Bestandteil des ländlichen Lebensstils. Hinzu kommen die Nähe zur Natur und die vergleichsweise niedrigen Preise, die es fast allen Dorfbewohnern erlauben, sich ein eigenes Haus zu bauen. Diese drei Faktoren erklären für Gerhard Henkel, warum mehr als die Hälfte aller deutschen Dörfer seit dem Zweiten Weltkrieg nicht geschrumpft, sondern gewachsen ist. Diese Entwicklung ist um so überraschender, als gerade der ländliche Raum in der Nachkriegszeit einen tiefgreifenden Struktur-wandel erlebt hat:
"Vor 50, 60 Jahren waren fast alle Dorfbewohner in der Landwirtschaft, in der Forstwirtschaft oder im dörflichen Handwerk beschäftigt. Das waren 90, 95 Prozent. Davon ist nicht viel übrig geblieben."
1950 gehörten zu einem durchschnittlichen Dorf noch gut 100 Bauernhöfe, heute sind es bestenfalls 10. Also mussten sich die Menschen neue Jobs suchen. Gerade in Randlagen wie dem Bayerischen Wald oder Ostfriesland waren die schwer zu finden. Notgedrungen zogen viele Menschen in die Stadt. Aber in vielen anderen ländlichen Gebieten entstanden durchaus neue Arbeitsplätze. Gerhard Henkel:
"Wenn Sie in die Dörfer des Sauerlandes oder Detmold, Minden gehen, dann haben wir dort mittelständische Betriebe: Maschinenbau, Elektroindustrie, die für den Weltmarkt produzieren, nach Indien und China exportieren und die sehr gut dastehen."
Prosperierende Dorflandschaften nennt Gerhard Henkel solche erfolgreichen Regionen. Es gibt sie nicht nur bei ihm vor der Haustür, sondern ebenso in Schwaben oder Oberbayern, in Landkreisen wie Vechta in Niedersachsen oder Bad Oldesloe in Schleswig-Holstein. Oft handelt es sich um Gegenden, wo die Landwirtschaft schon vor weit mehr als 100 Jahren nicht mehr alle Familien ernährte, sei es, weil die Böden nicht ergiebig genug waren, sei es, weil die Höfe zu klein waren. Also mussten sich die Menschen zusätzliche Erwerbsquellen erschließen. Sie eröffneten Handwerksbetriebe, aus denen sich im Laufe des 20.Jahrhunderts oftmals starke mittelständische Unternehmen entwickelten.
In den neuen Bundesländern fehlen solche Strukturen heute allerdings weitgehend. Im Nordosten Deutschlands hat es sie nie gegeben. Mecklenburg, Pommern und die Mark Brandenburg waren traditionell geprägt durch große Gutshöfe, die kaum Platz ließen für andere Betriebe. Vor allem in Thüringen und Sachsen aber hat die SED eine einstmals blühende mittelständischen Wirtschaft zerschlagen. Spätestens mit der großen Enteignungswelle von 1972 wurden die Unternehmen in große Kombinate eingegliedert. Schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren alle Bauernhöfe in LPGs zusammengefasst worden. Als mit der Wende diese zentralistischen Strukturen zusammenbrachen, gingen in vielen Dörfern fast auf einen Schlag 90 Prozent der Arbeitsplätze verloren. Perspektivlosigkeit machte sich breit, in manchen Landstrichen auch rechtsradikales Gedankengut. Kein Wunder, meint Karl-Martin Born, Geograph an der FU Berlin. Mit dem Kollaps der LPGs verlor das gesamte soziale Leben seine Grundlagen:
"Was man für das Dorfleben in Ostdeutschland allgemein sagen muss, ist
natürlich, dass die Produktionsgenossenschaften über ihre wirtschaftliche Funktion hinaus eine wichtige soziale Funktion dargestellt haben. Die haben das soziale Leben in den Dörfern sehr stark geprägt, indem sie nicht nur Infrastruktureinrichtungen betrieben haben, also die Nahversorgung gesichert haben und Kindergärten organisiert haben und Altenheime u.ä. betrieben, sondern sie haben darüber hinaus auch das Kulturleben in den jeweiligen Dörfern entwickelt."
Karl-Martin Born hat in den letzten Jahren zahlreiche Studien zum ländlichen Raum in Ostdeutschland vorangetrieben. Wohin er auch kam, überall bot sich ihm das glei-che Bild: Junge, qualifizierte Leute haben das Dorf seit der Wende verlassen, allen voran junge, gut ausgebildete Frauen. Diese Entwicklung gefährdet mittlerweile die Zukunft ganzer Regionen, befürchtet Born:
"Man spricht vom sog. ‚brain drain’, das heißt, man verliert tatsächlich Kenntnisse und Qualifikationen. Das hat dann wieder Auswirkungen für die wirtschaftliche Entwicklung eines Dorfes. Es ist einfach für potenzielle Investoren nicht mehr interessant. Wir haben bereits einige Bereiche in Ostdeutschland, wo dieser ‚brain drain’ so stark vorangeschritten ist, dass sich Investoren dort ein Engagement sehr stark überlegen. Weil sie eben sagen, dass sie keine adäquat ausgebildeten Arbeitskräfte mehr finden."
Ein solches Dorf ist Lelkendorf in der Mecklenburgischen Schweiz. Von den fast 400 Einwohnern, die hier zur Zeit der Wende lebten, ist in den darauf folgenden Jahren jeder Dritte weggezogen. Für die, die blieben, hat sich das Dorfleben einschneidend verändert, erzählt Eggo Habelt. Er ist pensionierter Lehrer und seit 1990 ehrenamtlicher Bürgermeister von Lelkendorf:
"Bis 1990 gab es einen sehr engen Zusammenhalt der Leute untereinander im Dorf, weil jeder hatte was. Jeder hatte ungefähr den gleichen Verdienst, jeder hatte das Gleiche, einen Garten, Hühner, Gänse, weiß der Kuckuck was, eine große Neubauwohnung. Das brach alles nach der Wende irgendwo weg. Es wurden auch viele Feste gefeiert, muss man einfach so sagen, auch nach der Wende noch. Es ist alles weniger geworden, weil den Leuten einfach auch das Geld fehlt. Und es hat sich etwas entwickelt, dass die Leute, die keine Arbeit haben, neidisch auf die gucken, die Arbeit haben und die sich mehr leisten können. Es ist eine Entwicklung, die nicht gut ist."
Die, die noch Arbeit haben, pendeln fast alle, entweder ins nahe Teterow oder nach Rostock, manche auch sehr weit bis nach Hamburg oder Berlin. Viele kommen nur noch am Wochenende nach Hause. Von denen, für die Lelkendorf noch der Mittelpunkt ihres Lebens ist, befinden sich viele schon im Vorruhestand. Diejenigen, die ein Haus besitzen, haben es meist liebevoll restauriert, so dass das Dorf einen sehr gepflegten Eindruck macht. In den Gärten bauen sie Obst und Gemüse an und halten Nutztiere, so dass sie auch finanziell gut über die Run-den kommen.
In den wenigen Plattenbauten aus DDR-Zeiten wohnen vor allem diejenigen, die heute von Hartz IV leben. Die Hoffnung auf einen neuen Job haben die meisten längst aufgegeben. Größter Arbeitgeber in Lelkendorf ist, ganz wie zu DDR-Zeiten, der einzige landwirtschaftliche Betrieb. Damals war das die LPG, 1992 hat Adolf Schulte-Ebbert deren Flächen übernommen. Arbeiteten darauf früher 60 Menschen, sind es heute noch sechs:
"Die Genossenschaft hat beschlossen, sich aufzulösen. Und insoweit musste ich nicht entlassen. Von daher war das für mich relativ gut, denn Leute entlassen ist ja nicht einfach."
Vor der Wiedervereinigung hatte Adolf Schulte-Ebbert in Grevel am Rande von Dortmund einen Hof von 100 Hektar geführt. Der war zu klein, um seiner Familie langfristig, also auch noch für kommende Generationen, eine Perspektive zu bieten. Also brach er 1992, trotz seiner damals 53 Jahre, auf in den Osten, wo die Treuhand günstiges Land anbot. In Lelkendorf besitzt er jetzt die zehnfache Fläche dessen, was er einst in Dortmund bewirtschaftete. Die Führung des Hofes hat er inzwischen seinem Sohn Klaus übertragen. Klaus Schulte-Ebbert ist sicher, dass ihn der Betrieb bis zur Rente ernähren wird:
"Wir sind ein Gemischtbetrieb. Wir haben Schweinemast, dann Mutterkuhhaltung und Ackerbau. Rein landwirtschaftlich ist das hier bestimmt keine Provinz, sondern das ist von den Betriebsstrukturen her mit das Beste, was es in Deutschland oder auch weltweit schon gibt. Das ist hier schon optimal."
Große Flächen ermöglichen den Einsatz großer und moderner Maschinen. So kann Klaus Schulte-Ebbert Renditen erwirtschaften, die auf kleineren Feldern kaum möglich wären. Auch wenn er seine eigene Zukunft sehr positiv sieht, schätzt er die von Lelkendorf eher skeptisch ein:
"Meine Frau, die kommt aus Cloppenburg, und dort sieht man, wenn man dort tagsüber durch die Stadt geht, dann sind da sehr viele junge Familien, sehr viele Kinder, und wenn man hier durch Lelkendorf geht, dann ist das schon so, dass es eben ein sterbendes Dorf ist. Ich stelle mir das so vor, dass in Zukunft weniger Leute hier leben und noch mehr Häuser leer stehen."
Klaus Schulte-Ebbert und seine Frau haben selbst zwei Kinder, drei und ein Jahr alt. Ob diese dritte Generation der Familie in Lelkendorf noch eine Zukunft haben wird, erscheint schon heute fraglich:
"Was auch noch ein Problem ist, was ich auf meine Familie zukommen sehe, ist die Ausbildung der Kinder. Es wird ja immer mehr zentralisiert, die Kinder müssen immer weiter fahren zur Schule, das ist ein großes Problem, was wir bewältigen müssen, weil die Kinder werden eben älter und dann brauchen sie auch eine gute Ausbildung, das wünschen ja alle Eltern für ihre Kinder."
Selbst in einem Ort wie Lelkendorf gibt es aber auch Zuzügler. "Gegenstromwanderung" nennt der Geograph Karl-Martin Born dieses Phänomen. Es kommen zum Beispiel Menschen jenseits der 50, nicht selten Künstler oder Akademiker, die ein kleines Vermögen erarbeitet haben und jetzt die Vorzüge des Landlebens genießen wollen. Auf Vorbehalte der
Alteingessenen stoßen sie selten. Im Gegenteil: Wenn sie möchten, finden sie durchaus Anschluss an die sozialen Netzwerke der Einheimischen. Kirchengemeinden spielen da oft eine große Rolle. So wie bei Adolf Schulte-Ebbert, dem Bauern aus Dortmund, der nicht erwartet hätte, so schnell in Lelkendorf heimisch zu werden:
"Man freut sich, wenn man sonntags morgens in der Kirche ist, man sieht bekann-te Gesichter, mit denen man auch gerne zusammen ist. Meine Frau und ich, wir ver-fügen über einen sehr großen Bekanntenkreis. Dadurch, dass wir eben in verschie-dene Kirchen gehen, nach Teterow oder nach Matckendorf. Und die Feste, die da gefeiert werden, die sind ganz große Klasse."
Die Generation 50plus dominiert zahlenmäßig längst das Dorfleben im Osten. Und sie kommt mit den Lebensumständen gut zurecht, staunt Karl-Martin Born von der FU Berlin. Und dass, obwohl es in vielen Orten längst keinen Bahnhof mehr gibt, keine Post, keinen Arzt, oft nicht mal mehr einen Supermarkt:
"Über 70 Prozent der Menschen dort sind zufrieden oder sehr zufrieden mit der infrastrukturellen Ausstattung. Ähnlich hoch ist die Zufriedenheit mit der Lebenssituation vor Ort. Sie müssen sich natürlich vor Augen führen, dass bei einer solchen Befragung zur Lebenssituation immer ganz viele Aspekte ineinander greifen und es ist dann eben so, dass das Heimatgefühl, die natürliche Umwelt, die Lebensqualität, die Dorfgemeinschaft dort eine sehr große Rolle spielen und dass man vieles von dem, was natürlich an negativen Elementen mit dem Dorf verbunden ist, - also die mangelnden Erwerbsmöglichkeiten, die langen Wege, die man auf sich nehmen muss, um sich zu versorgen und an der Kultur teilzunehmen - dass das abgewogen wird, und wir haben die Erfahrung gemacht, dass das Urteil häufig sehr positiv ausfällt."
Dieses positive Urteil wurde in den beiden letzten Jahren in mehreren repräsentativen Umfragen der FU in Dörfern in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, aber auch in Niedersachsen bestätigt. Vergleicht man die Ergebnisse mit Erhebungen in Ballungsräumen, dann zeigt sich immer wieder: Die Lebenszufriedenheit ist in allen Regionen Deutschlands unter Dorfbewohnern sehr viel höher als unter Städtern. Als Hauptgrund nennen die meisten Befragten den sozialen Zusammenhalt. Nachbarschaftshilfe funktioniert auch im Osten trotz aller Umbrüche noch erstaunlich gut. Man unterstützt sich gegenseitig, wenn etwa Besorgungen anstehen oder lange Wege für Arztbesuche zurückgelegt werden müssen. Angesichts der demographischen Entwicklung kann diese informelle Hilfe aber auf Dauer die fehlende Infrastruktur nicht ersetzen, warnt Geograph Born:
"Die Schwierigkeit, die mit diesem Phänomen verbunden ist, ist natürlich die, dass es auf Dauer nicht nachhaltig ist, wenn 80-jährige durch 60-jährige versorgt werden und wir haben einige Dörfer vorgefunden, in denen das tatsächlich schon der Fall ist."
Ändern könnte sich nur etwas, wenn sich im ländlichen Raum im Osten produzieren-des Gewerbe wieder ansiedeln würde, so wie es in den prosperierenden Dorflandschaften in den westlichen Ländern existiert. Manche Landespolitiker hoffen, dass die Produktion von nachwachsenden Rohstoffen zu einer Schaffung solcher Kleinindustrien beitragen könnte. Dafür wären hohe Investitionen nötig, die allerdings nur kurzfristig viele Jobs schaffen könnten. Ist etwa eine Raffinerie für Bio-Sprit erst mal fertig, braucht man nur noch wenige Arbeitskräfte für ihren Betrieb. Was im Nordosten Deutschlands fehlt, sind nach Ansicht von Karl-Martin Born vor allem dynamische Klein- und Mittelstädte, die die Entwicklung auf dem Land befördern:
"Die Kleinstädte haben aber für den ländlichen Raum eine sehr, sehr wichtige Funktion, sie strahlen in den ländlichen Raum hinaus aus. Die Schwierigkeit ist die, wenn die Kleinstädte selber in sehr starke ökonomische Schwierigkeiten geraten. Ein Teil der Kleinstädte in Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern wa-ren über eine Industrialisierungspolitik der DDR sehr stark monostrukturiert und wenn dort diese eine Industrie weggebrochen ist, ist es natürlich für die Kleinstadt selber sehr, sehr schwierig, sich eine neue ökonomische Basis zu schaffen. Und sie verlie-ren damit natürlich ihre Funktion für das Land, weniger als Versorgungspunkte, aber sie verlieren ihre Funktion als Innovationsgeber, sie verlieren auch ihre Funktion als Fokussierungspunkt für kulturelle Aktivitäten."
Die Dörfer selbst haben kaum Möglichkeiten, Investoren anzulocken und damit wieder für junge Menschen attraktiv zu werden. Lelkendorfs Bürgermeister Habelt und sein Gemeinderat hatten mal überlegt, am Ortsrand ein Gewerbegebiet auszuweisen. Sie haben es dann gelassen und sind froh darüber. Denn in vielen Nachbargemeinden stehen solche Flächen bis heute leer und belasten mit ihren Unterhaltskos-ten den ohnehin schon klammen Haushalt. Habbelt:
"Das einzige, was wir machen können, ist, dass wir im Prinzip versuchen, in den Dörfern zu investieren, ob im Straßenbau oder bei der Verbesserung insgesamt der Infrastruktur, dass wir einheimischen Firmen dadurch Arbeit geben, damit die zumindest weiter existieren. Und nicht 100 oder 200 oder 300 km fahren müssen, um zu ihrer Arbeitsstelle zu kommen."
Auf diese Weise hofft Habelt, die Versorgung der Menschen wenigstens auf dem jetzigen Niveau aufrecht erhalten zu können:
"Es gibt eine Gaststätte im Dorf, privat. Dann haben wir noch eine Kindertagesstätte, bei der Volkssolidarität. Ein betreutes Wohnen haben wir hier, das ist integrierte Kindertagesstätte und betreutes Wohnen, also ein Gebäude, das war es. Mehr haben wir nicht. Ansonsten gibt es im Vergleich zu früher, wo wir hier einen Arztstützpunkt hatten, eine Schule hatten, eine Post hatten, gibt es nichts. Doch, einen Jugendclub haben wir."
Was sich im Osten abzeichnet, könnte langfristig auch vielen Dörfern im Westen drohen, fürchtet Gerhard Henkel. Neben seiner Arbeit an der Uni Duisburg-Essen leitet er einen interdisziplinären Zusammenschluss von Soziologen und Ökonomen, von Geographen und Agrarwissenschaftlern. "Bleiwäscher Kreis" nennt sich diese Vereinigung. Denn in dem westfälischen Dorf Bleiwäsche treffen sich die Wissenschaftler alle zwei Jahre mit Praktikern aus Ministerien, Landkreisen und Bürgermeisterämtern zu Symposien, um die aktuelle Entwicklung des ländlichen Raumes zu diskutieren. Am Ende verabschieden sie jedes Mal eine Resolution. Die aktuelle Resolution warnt vor dem zunehmenden Leerstand von Gebäuden. Gerade in den Dorfkernen bröckelt es. Landwirtschaftliche Gebäude, die schon lange nicht mehr benötigt wurden, waren oft über Jahrzehnte dennoch in Schuss gehalten worden von ihren Eigentümern. Man wollte ja nicht schief angesehen werden, weil man seinen Besitz verfallen ließ. Aber jetzt stirbt diese Generation aus, Nachfolger gibt es nicht. Und wenn die Dorfkerne zerfallen, ist auch der soziale Zusammenhalt gefährdet. Das Dorf braucht deshalb verstärkte Förderung, fordert Gerhard Henkel. Nicht nur, weil 90 Prozent der Fläche Deutschlands immer noch ländli-cher Raum ist und hier nach wie vor mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt. Sondern auch, weil gerade der soziale Kosmos Dorf immer wieder Spitzenkräfte für die Gesellschaft hervorbringe:
"Insgesamt kann man eine interessante Studie erwähnen, wo jemand festgestellt hat, dass die obersten Manager und Aufsichtsräte der deutschen Dax-Unternehmen ganz überwiegend aus ländlichen Regionen, d.h. aus Dörfern und Kleinstädten stammen. Das hat die Leute ganz überrascht. Dann gab es auch Erklärungsmuster, wie es denn dazu kommt, dass die vom Lande kommen und nicht aus den Großstädten und da war eines von mehreren Erklärungsmustern, dass man sagt, dass die auf dem Lande doch eine etwas größere soziale und emotionale Kompetenz sich erwor-ben haben, dass es leichter wäre, die zu erwerben auf dem Lande als in der doch anonymeren Großstadt und es wurde noch hinzugefügt, dass auf dem Land noch ein größerer Arbeitsethos vorhanden wäre."
Ländliche Regionen bieten die besten Voraussetzungen für einen guten Start ins Leben, davon ist Gerhard Henkel überzeugt. Nicht von ungefähr liegen hier die Geburtenraten deutlich höher als in der Stadt, sagt er. Und auch wenn die Abschaffung von Eigenheimzulage und Pendlerpauschale das Landleben in den letzten Jahren teurer gemacht hat – gerade junge Familien werde es auch in Zukunft ins Dorf ziehen:
"Die Faszination des Landlebens wird bleiben."
"Jeder Quadratmeter Rasen ist von uns eingesät, jeder Pflasterstein, der hier liegt, ist von uns eingebracht worden, jedes Brett, was irgendwo auf den Holzstegen verschraubt wurde, ist durch Mitglieder in Eigenleistung verschraubt worden. Beim Bau oder Umbau des Bades sind über 13.000 ehrenamtliche Stunden geleistet worden von vielen Mitbürgern."
Ziemlich genau 500 Bürger waren es, die sich vor knapp drei Jahren zu einem Verein zusammenschlossen, dessen Vorsitz Ralf Zumbrock übernommen hat. Das alte Freibad von Atteln war damals dringend sanierungsbedürftig:
"Der Verein ist quasi aus der Not heraus geboren worden. Als seinerzeit man vor der Entscheidung stand: Müssen wir das Bad schließen, aus finanziellen Gründen? haben die Bürger nach einer Lösungsmöglichkeit gesucht, dieses Bad zu erhalten, für die Kinder attraktiver zu machen, so dass eben halt hier etwas entsteht, was der örtlichen Gemeinschaft zugute kommt, was ein Treffpunkt wird, wo man sich über die Sommermonate trifft, wo man halt auch zu Hause ein kleines Ferienerlebnis haben kann."
Die Ausschachtungsarbeiten für die drei neuen Becken gaben sie bei einer Baufirma in Auftrag. Danach legten sie selber los und ein dreiviertel Jahr nach der ersten Vereinssitzung konnte bereits die Einweihung gefeiert werden. 30.000 Besucher kamen im vergangenen Jahr, fast alle aus Atteln und der näheren Umgebung. Für nur 7,50 Euro kann sich eine Familie einen ganz Tag lang im Bad vergnügen. Dass die Preise so niedrig sind, liegt nicht zuletzt daran, dass auch der laufende Betrieb fast vollständig von den Vereinsmitgliedern aufrecht erhalten wird. Lediglich der Bademeister bezieht ein Gehalt von der Kommune. Andere Arbeiten von der Buchführung bis zum Einsammeln des Mülls auf der Liegewiese werden ehrenamtlich erledigt. Ralf Zumbrock will lieber gar nicht nachrechnen, wie viele Stunden er und die anderen Vereinsmitglieder immer noch in den Betrieb des Bades investieren:
"Ich glaube, da würde man auch einen Schreck kriegen, weil es sind andauernd Korrespondenzen zu pflegen, E-Mails zu schreiben, Telefonate zu führen, sei es mit dem Gesundheitsamt, sei es mit der Stadt, oder sei es um Baumaterialien für weitere Ausbaumaßnahmen zu ordern, zu koordinieren. Es ist eigentlich täglich etwas zu tun."
Und für jede Aufgabe findet sich jemand, der sie kompetent erfüllt, betont Ralf Zumbrock:
"Man kennt sich. Man trifft jeden Tag die gleichen Leute. Man weiß, wen man bei Problemen ansprechen kann, wer helfen kann, wer auch helfen möchte. Und als es damals um den Bau bzw. die Renovierung ging, haben wir gesagt: Schaffen wir das überhaupt mit der Menge an Leuten, die uns zur Verfügung steht? Sind wir in der Lage, 10.000 oder mehr Arbeitsstunden aufzubringen? Und das ist im Nachhinein gesehen unseres Erachtens nur bei einem Dorf, bei einer dörflichen Gemeinschaft in der Größe von 2000 Bewohnern so gut möglich gewesen, weil das sind genug, um eine solche Leistung zu vollbringen, aber noch nicht zu viele, um in der Anonymität zu versinken."
Gemeinsinn ist auf dem Dorf viel ausgeprägter als in der Stadt, das meint nicht nur Ralf Zumbrock. Das sagt auch Gerhard Henkel. Er lehrt Anthropogeographie an der Uni Duisburg-Essen, lebt aber ganz in der Nähe von Atteln, in Fürstenberg, einem Dorf im Kreis Paderborn. Gerhard Henkel beschäftigt sich seit über 30 Jahren wissenschaftlich mit dem Leben auf dem Lande. Seitdem habe sich vieles verändert, erzählt er, eines aber nicht:
"Dass die Menschen auf dem Lande intensivere soziale Kontakte haben. Zu Nachbarn, zu Verwandten, zu Freundeskreisen, dass man sich auch engagiert, dass man etwas miteinander tut, dass man sich in den Vereinen findet. Die Vereinsquote ist auf dem Land erheblich größer als in den Städten. Wenn ich Ihnen nur von diesem Dorf berichte, in dem wir gerade sitzen, ein Dorf von 2500 Einwohnern. Hier gibt es über 30 Vereine und die großen Vereine, der Sportverein, der Schützenverein, der Karne-valsverein, die haben 800, 900 Mitglieder."
Ein reges Vereinsleben ist für Gerhard Henkel zentraler Bestandteil des ländlichen Lebensstils. Hinzu kommen die Nähe zur Natur und die vergleichsweise niedrigen Preise, die es fast allen Dorfbewohnern erlauben, sich ein eigenes Haus zu bauen. Diese drei Faktoren erklären für Gerhard Henkel, warum mehr als die Hälfte aller deutschen Dörfer seit dem Zweiten Weltkrieg nicht geschrumpft, sondern gewachsen ist. Diese Entwicklung ist um so überraschender, als gerade der ländliche Raum in der Nachkriegszeit einen tiefgreifenden Struktur-wandel erlebt hat:
"Vor 50, 60 Jahren waren fast alle Dorfbewohner in der Landwirtschaft, in der Forstwirtschaft oder im dörflichen Handwerk beschäftigt. Das waren 90, 95 Prozent. Davon ist nicht viel übrig geblieben."
1950 gehörten zu einem durchschnittlichen Dorf noch gut 100 Bauernhöfe, heute sind es bestenfalls 10. Also mussten sich die Menschen neue Jobs suchen. Gerade in Randlagen wie dem Bayerischen Wald oder Ostfriesland waren die schwer zu finden. Notgedrungen zogen viele Menschen in die Stadt. Aber in vielen anderen ländlichen Gebieten entstanden durchaus neue Arbeitsplätze. Gerhard Henkel:
"Wenn Sie in die Dörfer des Sauerlandes oder Detmold, Minden gehen, dann haben wir dort mittelständische Betriebe: Maschinenbau, Elektroindustrie, die für den Weltmarkt produzieren, nach Indien und China exportieren und die sehr gut dastehen."
Prosperierende Dorflandschaften nennt Gerhard Henkel solche erfolgreichen Regionen. Es gibt sie nicht nur bei ihm vor der Haustür, sondern ebenso in Schwaben oder Oberbayern, in Landkreisen wie Vechta in Niedersachsen oder Bad Oldesloe in Schleswig-Holstein. Oft handelt es sich um Gegenden, wo die Landwirtschaft schon vor weit mehr als 100 Jahren nicht mehr alle Familien ernährte, sei es, weil die Böden nicht ergiebig genug waren, sei es, weil die Höfe zu klein waren. Also mussten sich die Menschen zusätzliche Erwerbsquellen erschließen. Sie eröffneten Handwerksbetriebe, aus denen sich im Laufe des 20.Jahrhunderts oftmals starke mittelständische Unternehmen entwickelten.
In den neuen Bundesländern fehlen solche Strukturen heute allerdings weitgehend. Im Nordosten Deutschlands hat es sie nie gegeben. Mecklenburg, Pommern und die Mark Brandenburg waren traditionell geprägt durch große Gutshöfe, die kaum Platz ließen für andere Betriebe. Vor allem in Thüringen und Sachsen aber hat die SED eine einstmals blühende mittelständischen Wirtschaft zerschlagen. Spätestens mit der großen Enteignungswelle von 1972 wurden die Unternehmen in große Kombinate eingegliedert. Schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren alle Bauernhöfe in LPGs zusammengefasst worden. Als mit der Wende diese zentralistischen Strukturen zusammenbrachen, gingen in vielen Dörfern fast auf einen Schlag 90 Prozent der Arbeitsplätze verloren. Perspektivlosigkeit machte sich breit, in manchen Landstrichen auch rechtsradikales Gedankengut. Kein Wunder, meint Karl-Martin Born, Geograph an der FU Berlin. Mit dem Kollaps der LPGs verlor das gesamte soziale Leben seine Grundlagen:
"Was man für das Dorfleben in Ostdeutschland allgemein sagen muss, ist
natürlich, dass die Produktionsgenossenschaften über ihre wirtschaftliche Funktion hinaus eine wichtige soziale Funktion dargestellt haben. Die haben das soziale Leben in den Dörfern sehr stark geprägt, indem sie nicht nur Infrastruktureinrichtungen betrieben haben, also die Nahversorgung gesichert haben und Kindergärten organisiert haben und Altenheime u.ä. betrieben, sondern sie haben darüber hinaus auch das Kulturleben in den jeweiligen Dörfern entwickelt."
Karl-Martin Born hat in den letzten Jahren zahlreiche Studien zum ländlichen Raum in Ostdeutschland vorangetrieben. Wohin er auch kam, überall bot sich ihm das glei-che Bild: Junge, qualifizierte Leute haben das Dorf seit der Wende verlassen, allen voran junge, gut ausgebildete Frauen. Diese Entwicklung gefährdet mittlerweile die Zukunft ganzer Regionen, befürchtet Born:
"Man spricht vom sog. ‚brain drain’, das heißt, man verliert tatsächlich Kenntnisse und Qualifikationen. Das hat dann wieder Auswirkungen für die wirtschaftliche Entwicklung eines Dorfes. Es ist einfach für potenzielle Investoren nicht mehr interessant. Wir haben bereits einige Bereiche in Ostdeutschland, wo dieser ‚brain drain’ so stark vorangeschritten ist, dass sich Investoren dort ein Engagement sehr stark überlegen. Weil sie eben sagen, dass sie keine adäquat ausgebildeten Arbeitskräfte mehr finden."
Ein solches Dorf ist Lelkendorf in der Mecklenburgischen Schweiz. Von den fast 400 Einwohnern, die hier zur Zeit der Wende lebten, ist in den darauf folgenden Jahren jeder Dritte weggezogen. Für die, die blieben, hat sich das Dorfleben einschneidend verändert, erzählt Eggo Habelt. Er ist pensionierter Lehrer und seit 1990 ehrenamtlicher Bürgermeister von Lelkendorf:
"Bis 1990 gab es einen sehr engen Zusammenhalt der Leute untereinander im Dorf, weil jeder hatte was. Jeder hatte ungefähr den gleichen Verdienst, jeder hatte das Gleiche, einen Garten, Hühner, Gänse, weiß der Kuckuck was, eine große Neubauwohnung. Das brach alles nach der Wende irgendwo weg. Es wurden auch viele Feste gefeiert, muss man einfach so sagen, auch nach der Wende noch. Es ist alles weniger geworden, weil den Leuten einfach auch das Geld fehlt. Und es hat sich etwas entwickelt, dass die Leute, die keine Arbeit haben, neidisch auf die gucken, die Arbeit haben und die sich mehr leisten können. Es ist eine Entwicklung, die nicht gut ist."
Die, die noch Arbeit haben, pendeln fast alle, entweder ins nahe Teterow oder nach Rostock, manche auch sehr weit bis nach Hamburg oder Berlin. Viele kommen nur noch am Wochenende nach Hause. Von denen, für die Lelkendorf noch der Mittelpunkt ihres Lebens ist, befinden sich viele schon im Vorruhestand. Diejenigen, die ein Haus besitzen, haben es meist liebevoll restauriert, so dass das Dorf einen sehr gepflegten Eindruck macht. In den Gärten bauen sie Obst und Gemüse an und halten Nutztiere, so dass sie auch finanziell gut über die Run-den kommen.
In den wenigen Plattenbauten aus DDR-Zeiten wohnen vor allem diejenigen, die heute von Hartz IV leben. Die Hoffnung auf einen neuen Job haben die meisten längst aufgegeben. Größter Arbeitgeber in Lelkendorf ist, ganz wie zu DDR-Zeiten, der einzige landwirtschaftliche Betrieb. Damals war das die LPG, 1992 hat Adolf Schulte-Ebbert deren Flächen übernommen. Arbeiteten darauf früher 60 Menschen, sind es heute noch sechs:
"Die Genossenschaft hat beschlossen, sich aufzulösen. Und insoweit musste ich nicht entlassen. Von daher war das für mich relativ gut, denn Leute entlassen ist ja nicht einfach."
Vor der Wiedervereinigung hatte Adolf Schulte-Ebbert in Grevel am Rande von Dortmund einen Hof von 100 Hektar geführt. Der war zu klein, um seiner Familie langfristig, also auch noch für kommende Generationen, eine Perspektive zu bieten. Also brach er 1992, trotz seiner damals 53 Jahre, auf in den Osten, wo die Treuhand günstiges Land anbot. In Lelkendorf besitzt er jetzt die zehnfache Fläche dessen, was er einst in Dortmund bewirtschaftete. Die Führung des Hofes hat er inzwischen seinem Sohn Klaus übertragen. Klaus Schulte-Ebbert ist sicher, dass ihn der Betrieb bis zur Rente ernähren wird:
"Wir sind ein Gemischtbetrieb. Wir haben Schweinemast, dann Mutterkuhhaltung und Ackerbau. Rein landwirtschaftlich ist das hier bestimmt keine Provinz, sondern das ist von den Betriebsstrukturen her mit das Beste, was es in Deutschland oder auch weltweit schon gibt. Das ist hier schon optimal."
Große Flächen ermöglichen den Einsatz großer und moderner Maschinen. So kann Klaus Schulte-Ebbert Renditen erwirtschaften, die auf kleineren Feldern kaum möglich wären. Auch wenn er seine eigene Zukunft sehr positiv sieht, schätzt er die von Lelkendorf eher skeptisch ein:
"Meine Frau, die kommt aus Cloppenburg, und dort sieht man, wenn man dort tagsüber durch die Stadt geht, dann sind da sehr viele junge Familien, sehr viele Kinder, und wenn man hier durch Lelkendorf geht, dann ist das schon so, dass es eben ein sterbendes Dorf ist. Ich stelle mir das so vor, dass in Zukunft weniger Leute hier leben und noch mehr Häuser leer stehen."
Klaus Schulte-Ebbert und seine Frau haben selbst zwei Kinder, drei und ein Jahr alt. Ob diese dritte Generation der Familie in Lelkendorf noch eine Zukunft haben wird, erscheint schon heute fraglich:
"Was auch noch ein Problem ist, was ich auf meine Familie zukommen sehe, ist die Ausbildung der Kinder. Es wird ja immer mehr zentralisiert, die Kinder müssen immer weiter fahren zur Schule, das ist ein großes Problem, was wir bewältigen müssen, weil die Kinder werden eben älter und dann brauchen sie auch eine gute Ausbildung, das wünschen ja alle Eltern für ihre Kinder."
Selbst in einem Ort wie Lelkendorf gibt es aber auch Zuzügler. "Gegenstromwanderung" nennt der Geograph Karl-Martin Born dieses Phänomen. Es kommen zum Beispiel Menschen jenseits der 50, nicht selten Künstler oder Akademiker, die ein kleines Vermögen erarbeitet haben und jetzt die Vorzüge des Landlebens genießen wollen. Auf Vorbehalte der
Alteingessenen stoßen sie selten. Im Gegenteil: Wenn sie möchten, finden sie durchaus Anschluss an die sozialen Netzwerke der Einheimischen. Kirchengemeinden spielen da oft eine große Rolle. So wie bei Adolf Schulte-Ebbert, dem Bauern aus Dortmund, der nicht erwartet hätte, so schnell in Lelkendorf heimisch zu werden:
"Man freut sich, wenn man sonntags morgens in der Kirche ist, man sieht bekann-te Gesichter, mit denen man auch gerne zusammen ist. Meine Frau und ich, wir ver-fügen über einen sehr großen Bekanntenkreis. Dadurch, dass wir eben in verschie-dene Kirchen gehen, nach Teterow oder nach Matckendorf. Und die Feste, die da gefeiert werden, die sind ganz große Klasse."
Die Generation 50plus dominiert zahlenmäßig längst das Dorfleben im Osten. Und sie kommt mit den Lebensumständen gut zurecht, staunt Karl-Martin Born von der FU Berlin. Und dass, obwohl es in vielen Orten längst keinen Bahnhof mehr gibt, keine Post, keinen Arzt, oft nicht mal mehr einen Supermarkt:
"Über 70 Prozent der Menschen dort sind zufrieden oder sehr zufrieden mit der infrastrukturellen Ausstattung. Ähnlich hoch ist die Zufriedenheit mit der Lebenssituation vor Ort. Sie müssen sich natürlich vor Augen führen, dass bei einer solchen Befragung zur Lebenssituation immer ganz viele Aspekte ineinander greifen und es ist dann eben so, dass das Heimatgefühl, die natürliche Umwelt, die Lebensqualität, die Dorfgemeinschaft dort eine sehr große Rolle spielen und dass man vieles von dem, was natürlich an negativen Elementen mit dem Dorf verbunden ist, - also die mangelnden Erwerbsmöglichkeiten, die langen Wege, die man auf sich nehmen muss, um sich zu versorgen und an der Kultur teilzunehmen - dass das abgewogen wird, und wir haben die Erfahrung gemacht, dass das Urteil häufig sehr positiv ausfällt."
Dieses positive Urteil wurde in den beiden letzten Jahren in mehreren repräsentativen Umfragen der FU in Dörfern in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, aber auch in Niedersachsen bestätigt. Vergleicht man die Ergebnisse mit Erhebungen in Ballungsräumen, dann zeigt sich immer wieder: Die Lebenszufriedenheit ist in allen Regionen Deutschlands unter Dorfbewohnern sehr viel höher als unter Städtern. Als Hauptgrund nennen die meisten Befragten den sozialen Zusammenhalt. Nachbarschaftshilfe funktioniert auch im Osten trotz aller Umbrüche noch erstaunlich gut. Man unterstützt sich gegenseitig, wenn etwa Besorgungen anstehen oder lange Wege für Arztbesuche zurückgelegt werden müssen. Angesichts der demographischen Entwicklung kann diese informelle Hilfe aber auf Dauer die fehlende Infrastruktur nicht ersetzen, warnt Geograph Born:
"Die Schwierigkeit, die mit diesem Phänomen verbunden ist, ist natürlich die, dass es auf Dauer nicht nachhaltig ist, wenn 80-jährige durch 60-jährige versorgt werden und wir haben einige Dörfer vorgefunden, in denen das tatsächlich schon der Fall ist."
Ändern könnte sich nur etwas, wenn sich im ländlichen Raum im Osten produzieren-des Gewerbe wieder ansiedeln würde, so wie es in den prosperierenden Dorflandschaften in den westlichen Ländern existiert. Manche Landespolitiker hoffen, dass die Produktion von nachwachsenden Rohstoffen zu einer Schaffung solcher Kleinindustrien beitragen könnte. Dafür wären hohe Investitionen nötig, die allerdings nur kurzfristig viele Jobs schaffen könnten. Ist etwa eine Raffinerie für Bio-Sprit erst mal fertig, braucht man nur noch wenige Arbeitskräfte für ihren Betrieb. Was im Nordosten Deutschlands fehlt, sind nach Ansicht von Karl-Martin Born vor allem dynamische Klein- und Mittelstädte, die die Entwicklung auf dem Land befördern:
"Die Kleinstädte haben aber für den ländlichen Raum eine sehr, sehr wichtige Funktion, sie strahlen in den ländlichen Raum hinaus aus. Die Schwierigkeit ist die, wenn die Kleinstädte selber in sehr starke ökonomische Schwierigkeiten geraten. Ein Teil der Kleinstädte in Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern wa-ren über eine Industrialisierungspolitik der DDR sehr stark monostrukturiert und wenn dort diese eine Industrie weggebrochen ist, ist es natürlich für die Kleinstadt selber sehr, sehr schwierig, sich eine neue ökonomische Basis zu schaffen. Und sie verlie-ren damit natürlich ihre Funktion für das Land, weniger als Versorgungspunkte, aber sie verlieren ihre Funktion als Innovationsgeber, sie verlieren auch ihre Funktion als Fokussierungspunkt für kulturelle Aktivitäten."
Die Dörfer selbst haben kaum Möglichkeiten, Investoren anzulocken und damit wieder für junge Menschen attraktiv zu werden. Lelkendorfs Bürgermeister Habelt und sein Gemeinderat hatten mal überlegt, am Ortsrand ein Gewerbegebiet auszuweisen. Sie haben es dann gelassen und sind froh darüber. Denn in vielen Nachbargemeinden stehen solche Flächen bis heute leer und belasten mit ihren Unterhaltskos-ten den ohnehin schon klammen Haushalt. Habbelt:
"Das einzige, was wir machen können, ist, dass wir im Prinzip versuchen, in den Dörfern zu investieren, ob im Straßenbau oder bei der Verbesserung insgesamt der Infrastruktur, dass wir einheimischen Firmen dadurch Arbeit geben, damit die zumindest weiter existieren. Und nicht 100 oder 200 oder 300 km fahren müssen, um zu ihrer Arbeitsstelle zu kommen."
Auf diese Weise hofft Habelt, die Versorgung der Menschen wenigstens auf dem jetzigen Niveau aufrecht erhalten zu können:
"Es gibt eine Gaststätte im Dorf, privat. Dann haben wir noch eine Kindertagesstätte, bei der Volkssolidarität. Ein betreutes Wohnen haben wir hier, das ist integrierte Kindertagesstätte und betreutes Wohnen, also ein Gebäude, das war es. Mehr haben wir nicht. Ansonsten gibt es im Vergleich zu früher, wo wir hier einen Arztstützpunkt hatten, eine Schule hatten, eine Post hatten, gibt es nichts. Doch, einen Jugendclub haben wir."
Was sich im Osten abzeichnet, könnte langfristig auch vielen Dörfern im Westen drohen, fürchtet Gerhard Henkel. Neben seiner Arbeit an der Uni Duisburg-Essen leitet er einen interdisziplinären Zusammenschluss von Soziologen und Ökonomen, von Geographen und Agrarwissenschaftlern. "Bleiwäscher Kreis" nennt sich diese Vereinigung. Denn in dem westfälischen Dorf Bleiwäsche treffen sich die Wissenschaftler alle zwei Jahre mit Praktikern aus Ministerien, Landkreisen und Bürgermeisterämtern zu Symposien, um die aktuelle Entwicklung des ländlichen Raumes zu diskutieren. Am Ende verabschieden sie jedes Mal eine Resolution. Die aktuelle Resolution warnt vor dem zunehmenden Leerstand von Gebäuden. Gerade in den Dorfkernen bröckelt es. Landwirtschaftliche Gebäude, die schon lange nicht mehr benötigt wurden, waren oft über Jahrzehnte dennoch in Schuss gehalten worden von ihren Eigentümern. Man wollte ja nicht schief angesehen werden, weil man seinen Besitz verfallen ließ. Aber jetzt stirbt diese Generation aus, Nachfolger gibt es nicht. Und wenn die Dorfkerne zerfallen, ist auch der soziale Zusammenhalt gefährdet. Das Dorf braucht deshalb verstärkte Förderung, fordert Gerhard Henkel. Nicht nur, weil 90 Prozent der Fläche Deutschlands immer noch ländli-cher Raum ist und hier nach wie vor mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt. Sondern auch, weil gerade der soziale Kosmos Dorf immer wieder Spitzenkräfte für die Gesellschaft hervorbringe:
"Insgesamt kann man eine interessante Studie erwähnen, wo jemand festgestellt hat, dass die obersten Manager und Aufsichtsräte der deutschen Dax-Unternehmen ganz überwiegend aus ländlichen Regionen, d.h. aus Dörfern und Kleinstädten stammen. Das hat die Leute ganz überrascht. Dann gab es auch Erklärungsmuster, wie es denn dazu kommt, dass die vom Lande kommen und nicht aus den Großstädten und da war eines von mehreren Erklärungsmustern, dass man sagt, dass die auf dem Lande doch eine etwas größere soziale und emotionale Kompetenz sich erwor-ben haben, dass es leichter wäre, die zu erwerben auf dem Lande als in der doch anonymeren Großstadt und es wurde noch hinzugefügt, dass auf dem Land noch ein größerer Arbeitsethos vorhanden wäre."
Ländliche Regionen bieten die besten Voraussetzungen für einen guten Start ins Leben, davon ist Gerhard Henkel überzeugt. Nicht von ungefähr liegen hier die Geburtenraten deutlich höher als in der Stadt, sagt er. Und auch wenn die Abschaffung von Eigenheimzulage und Pendlerpauschale das Landleben in den letzten Jahren teurer gemacht hat – gerade junge Familien werde es auch in Zukunft ins Dorf ziehen:
"Die Faszination des Landlebens wird bleiben."