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Blueser-Szene in der DDR

"Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR" ist der Untertitel des bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienenen großformatigen, reich bebilderten Paperbacks, das in Einzeltexten Erinnerungen an eine Jugendszene sammelt, die in einem Land wie der DDR automatisch auch ein Politikum war. Die Blueser-Szene, die sich in den frühen 70er Jahren ausprägte und bis zum Ende der DDR existierte, war der SED allzeit suspekt, bestand sie doch aus zumeist langhaarigen Jugendlichen, die sich - und sei es auch nur bei einem der wochenendlichen Konzertmarathons von Gruppen wie Jürgen Kerth, Bayon oder Monokel in abgelegenen Landgasthöfen - bier- und glücksselig aus der normierten Gesellschaft ausklinkten.

Von Jacqueline Boysen |
    Obwohl eigentlich mehrheitlich unpolitisch, waren die "Kunden" - so nannten sich die Szenemitglieder selber - für die Spießer im Politbüro eine latente Bedrohung der staatlichen Ordnung und somit automatisch ein Fall für das MfS.

    Musik "Monokel":
    Er heißt Andreas, Micha oder Frank
    und wohnt in Lübben, Frankfurt oder anderswo
    In der Woche ist er Koch oder Schlosser oder Stift bei Meister Sowieso
    Er steht auf Karussell, auf Kerth und auf Monokel
    Und auf singende Schlaftabletten...

    Mit "Bye, bye, Lübben City" besingt die Band Monokel ein Lebensgefühl. Wenn die inzwischen betagten, gleichwohl langhaarigen Musiker dieser Tage im verqualmten Kreiskulturhaus Karlshorst ihre Instrumente auspacken, weht hier der nostalgische Hauch einer fernen Zeit.

    Wo ik hier rinkam, es roch original nach Osten. Da hat nur noch det Honecker-Bild neben der Bühne gefehlt. Die Vorhänge uff der Bühne sin noch dieselben, dat Mobiliar, alles naturbelassen. Und warum Monokel? Da streiten sich die Geister. Es liefen ja viele Blinde in der DDR rum, wir sahen wenigstens mit einem Auge, diesen Eindruck wollten wir vermitteln.

    Stammen Band und Song auch aus der DDR der Siebziger, so beschwören sie doch ein Phänomen, das junge Erwachsene auf der ganzen Welt kennen: die Flucht aus der Routine des Spießer-Arbeitsalltags in die selbstgewählte Wochenendwelt. Gelöst von lästigen Zwängen verheißt sie das wahre Leben: "Hier bin ich Mensch, hier darf ich´s sein", lustvoll, alkoholselig und, ja: frei!

    Am Wochenende steht er an der Piste
    Und streckt seinen Daumen vor:
    Die Musik, die da gespielt wird, wo er hin will
    hat er lange schon im Ohr
    Bye, bye, Lübben City,
    und endlich ist er wieder auf Tour.


    In einer besonders unfreien Welt wie der der untergegangenen DDR hatte die adoleszente Suche nach dem geschützten Refugium und gleichgesinnten Gleichaltrigen im gleichen Outfit eine besondere Qualität. Viel ist vom "Leben in der Nische" berichtet worden. Denn der Realsozialismus war ja nicht etwa - wie in der reinen Lehre angekündigt - die Vorstufe zur klassenlosen Gesellschaft, sondern bot im Gegenteil vielerlei konkurrierenden Klein- und Kleinstwelten Platz, deren Bewohner ihre private Rebellion feierten, stolz ihren eigenen Hymnen lauschten und die jeweiligen Hoheitszeichen zur Schau stellten.

    Ich war selbst als Teenager Szenegänger, bin getrampt zu den Mekkas der Bluesszene und hatte genau das Outfit, Parka, Jeans, lange Haare. Das hat nichts mit Ostalgie zu tun, das, was einen in der Jugend geprägt hat, das schleppt man ja als Päckchen herum, deshalb schimmert natürlich hier und da eine Träne mit durch, das ist ganz ein normaler Vorgang.
    Bluesbegeistert und aufmüpfig pilgerte auch Michael Rauhut einst durch die kleine Republik - zu den Konzerten von Bands wie Monokel und Keimzeit, Renft oder Engerling. "Kunden" nannten sie sich, die Tramper und Non-Konformisten, die durch die Szene der DDR schlurften, lange bevor die Bluesmessen in der Samariterkirche von Pfarrer Rainer Eppelmann Kultstatus hatten.

    Das waren größtenteils Jugendliche, das war ne proletarische Szene, Teenager, Arbeiter in der Industrie, Lehrlinge, aber auch Studenten und Schüler, Szenegänger. An den Rändern überlappte das mit anderen, der Jazzszene oder auch der kirchlichen Opposition. Das war eine sehr hedonistische Szene, wo gesoffen wurde, getanzt und geliebt. Beeinflusst von der Hippie-Welle, die ne außerordentliche Resonanz in der DDR hatte, viel langlebiger war, bis Ende der 80er Jahre. Das hat die Szene ausgemacht.

    Wir konnten fliegen jede Nacht, die Welt war klein, doch wir waren groß.
    Rauhut ist inzwischen über 40, da verblassen Jugenderinnerungen möglicherweise allmählich. Und folglich setzte der Musikwissenschaftler der jugendbewegten Blueskultur des Arbeiter- und Bauernstaats nunmehr ein Denkmal: Zusammen mit dem Historiker Thomas Kochan hat Rauhut unter dem von Monokel entliehenen Titel "Bye, bye, Lübben City" einen ziegelsteindicken illustrierten Band über Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR herausgegeben - ein wildes, auch skurriles Sammelsurium von Erinnerungen an die Subkultur. Zeit-Autor Christoph Diekmann zum Beispiel versetzt sich - und seine Zuhörer im bierdunstigen Kreiskulturhaus Karlshorst - in die Zeit zurück, da er als Lehrling an der Zentralen Berufsschule in die Geheimnisse des Lichtspielwesens eingeführt wurde. Der Internatsleiter gestattet Pastorensohn Christoph einen abendlichen Trip nach Brand-Erbisdorf im Erzgebirge, und Diekmann erlebt sein "herrlichstes DDR-Konzert":

    Schlagerfuzzis mochten Balz-Pop hören. Ich suchte Kunst. Musikalisch sozialisiert hat mich jene kurze Epoche, in der Rockmusik nach den Welträtseln griff und sich nicht länger als Unterhaltung und antiautoritäre Kleinform beschied. Elvis fand ich so öde wie später Punk. ... Blues wurde Idiom des Echten und Wahren, und aus den Keltenländern wehte die herbsüße Bitternis des Folk an unsere Antennen. Es gab Rundfunkprogramme von heute unerhörter Varianz. Meine Sendung war "Rumms" auf HR II: Planxty neben Humble Pie, Big Billy Broonzy bei Albert Mangelsdorff, und alle spielten die Musik der Gegenwelt, die Ferne hieß, nicht DDR. Schwebend erreichte ich das Internat. Heimleiter Cords war noch auf, lobte meine Wiederkehr und erfragte den Abend. Vielen Dank, dass ich gehen durfte, sagte ich, das war das tollste Konzert meines Lebens. - Das freut mich, sagte Cords. Möge Ihnen dieses Erlebnis Ansporn für hohe Arbeitsleistungen sein. (Lachen)

    Diekmann schüttelt den langen, inzwischen ergrauten Zopf - wildwuchernde Bärte und Schöpfe galten der Staatsmacht als Provokation schlechthin; sie vermutete krause Gedanken unter den ungebändigten Mähnen. Über unausgeschlafene Tramper und Gammler mit ihrem - Zitat - "unangenehmen Körper- und Kleidergeruch" wurden an der Juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit ganze Forschungsarbeiten verfasst, die Tschekisten sollten schließlich progressive Jugendliche vor feindlich-negativen Kräften und ihrer dekadenten Musik schützen. Die Volkspolizei Glauchau nahm es gar auf sich, verdächtige Langhaarige einer gewaltsamen Haarschneideprozedur zu unterziehen.

    Der (eine) Jugendliche ... musste unter Anwendung von körperlicher Gewalt auf den Stuhl gesetzt werden. Bei dieser Handlung leistete er erheblichen Widerstand, so dass mehrere Genossen notwendig waren, ihn auf dem Stuhl zu halten. Der (andere) Jugendliche ... begehrte lediglich auf, nachdem er sich nach dem Schneiden der Haare im Spiegel betrachtete. Er konnte jedoch schnell zur Ruhe gebracht werden. Beiden Jugendlichen wurden die Haare unter Beachtung der jetzt verbreiteten Mode geschnitten. Eine Schädigung im Aussehen trat nicht ein, da das Schneiden der Haare von einer ausgezeichneten Fachkraft vorgenommen wurde.

    Das werden die solchermaßen zwangsbeschnittenen "Kunden" vermutlich anders gesehen haben. Das Stasi-Protokoll erzählt eine Anekdote von vielen: In Rauhuts 450 Seiten starkem Konvolut kann man blättern wie in einem Familienalbum. Es ist - wie Herausgeber Rauhut nicht zu Unrecht verspricht - "deftig, bunt und ehrlich, wie die Szene selbst". Aus den wahrlich nicht immer mit Diekmannschem Charme und Talent erzählten ostdeutschen Musik- und Lebensgeschichten spricht die Wehmut der aus Kinderträumen Erwachten. Die Identität einer Generation scheint Gestalt zu gewinnen - das Bemühen der Szene, nicht nur musikalisch Grenzen zu überwinden, hinterlässt einen bittersüßen Geschmack.

    Wir konnten fliegen jede Nacht, konnten fliegen, Nacht für Nacht,
    und wir haben nie an ein Ende gedacht


    Jacqueline Boysen über "Bye, Bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR". Herausgegeben von Michael Rauhut und Thomas Kochan bei Schwarzkopf und Schwarzkopf Berlin, 455 Seiten für 24 Euro und 90 Cent.