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Blush

Überraschungen sind seine Spezialität: nichts ist wirklich so, wie es scheint oder wie man es erwartet oder wie man es sich gewünscht hätte. Das ist auch in BLUSH nicht anders. Wim Vandekeybus zieht alle Register.

Ulrike Burgwinkel war dabei. |
    Mit einem Schnarchen fängt es an. Aber es bleibt natürlich nicht so. Der friedlich schnarchende Mann wird von einer Frau ziemlich eindeutig sexuell in Besitz genommen. Weitere Akteure treten an den Bühnenrand und versuchen, das Publikum zum Erröten zu bringen - BLUSH, der Titel ist wohl auch Programm.

    Dagegen fällt Peter Handkes einstige Publikumsbeschimpfung handzahm aus. Doch "Blush" ist natürlich viel mehr als das. Nach dem amüsant-provokanten Beginn setzt der belgische Choreograph auf seine ganz eigene, typische Bewegungssprache, auf Rasanz, Tempo, auf unvermittelte Aktion. Und er tanzt diesmal wieder mit, eine besondere Attraktion.

    Es gibt so ganz viele verschiedene, meist parallel gespielte Szenarien, eine solche Fülle ungewöhnlicher und eindringlicher BLUSH-Ideen und ihrer tänzerischen Umsetzung, dass der Kopf schwirrt, die Augen nicht wissen, wo sie zuerst hinschauen sollen und die Ohren ja schließlich auch noch bedient werden. Andere Choreographen könnten daraus eine Menge Stücke bauen.

    Nur ein paar Beispiele: Frauen springen auf Männer, in ihre Arme, fallen auf den Boden oder auf ihre Partner, abrupt, nicht zärtlich. Zwei Männer scheinen zu kämpfen, sich wegdrücken zu wollen, setzen aber nur den Kopf und die Schultern dazu ein, drehen sich weg, unter dem Partner durch. Während einer Umziehaktion treten die stehenden Tänzer ständig den liegenden auf die Finger und die Füße und versuchen, sie am Fortkommen zu hindern. Arme verknoten sich, Beine. Zwischendurch dann immer wieder Rennen rund um die Bühne, plötzliche Stops, Stolpern manchmal, und Stürzen aus dem Lauf, ohne vorher zu bremsen: eben unvermittelt.

    Doch es gibt auch, für Tänzer und Publikum gleichermaßen notwendige, ruhige Phasen. Dafür sorgt eine blonde Schauspielerin, Ina Geerts, die Texte der Gruppe und von Co-Autor Peter Verhelst spricht, romantische Texte. Und die Bilder im Hintergrund, Vandekeybus hat sich schließlich auch als Filmemacher seine Meriten verdient. Die Videoleinwand ist in senkrechte Lamellen aufgeteilt und lässt dadurch Bühne und Projektion miteinander verschmelzen. Tänzer können ins Bild stürzen oder aus ihm herausfallen. Das ermöglicht ungewohnte Effekte, zusätzliche Überraschungen. Unter Wasser mit Kleid schwimmende Tänzerinnen mit ihren fließenden Bewegungen bringen eine fast meditative Stimmung in das Chaos. Oder der sich leicht im Wind wiegende Bambus verführt fast zum Träumen.

    Das wird natürlich schnell konterkariert: durch eine Motorsäge, von einer Tänzerin nahezu fachgerecht in Betrieb genommen. Idylle pur, gar Romantik haben im Kosmos des Wim Vandekeybus keinen Platz. Die Überraschung, die plötzliche Wende, der Gegenzauber lässt nie nicht lange auf sich warten. "Blush" erzählt keine Geschichte, sondern ganz viele, aber es gibt EIN Thema: die Liebe. Nicht eine, die nach der Phase der Hochverliebtheit zur "Beziehung", gar Ehe und Kindern führt. Eher eine Neuronen-Verirrung im Hirn, ein Versuch, Vergeblichkeiten, immer wieder zögernde Anfänge und Kämpfe. Unter einer pendelnden Leuchte schlussendlich in all der Düsternis: ein Hoffnungsschimmer. Vereinzelt auf dem Boden oder irgendwo zwischen Reisetaschenstapeln liegende Tänzer finden Tröstung: durch Sympathie, Mitleiden des Anderen, der zu ihm kommt, sich dazu setzt, sich daneben legt, ihn berührt.

    Wim Vandekeybus führt mit "Blush" seine 1987 begonnene Arbeit konsequent fort. Vor allem im Bewegungsrepertoire der Tänzer zeigt sich seine Handschrift. Der effektvolle Einsatz von Sprache, Video, flexiblen Bühnenmöbeln hat nicht ganz seinen Experimentcharakter verloren. Die überwältigende Fülle der Ideen, der Gags und Mini-Szenen, der ständigen Parallelaktionen gehörte ausgedünnt, gebündelt. Weniger, dafür stringent strukturierte Aktionen und Abläufe würden Aufmerksamkeit und Wahrnehmung für das jeweilige Bühnenereignis verstärken. "Blush" wird trotzdem einen Siegeszug durch Europa, Asien, Kanada in diesem und im nächsten Jahr antreten.

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