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Blutiger palästinensischer Bruderzwist

Es geht um Verrat: hat Da’ud, der älteste der drei Brüder, mit dem israelischen Geheimdienst zusammengearbeitet? Und wenn ja: was folgt daraus? Bei Ilan Hatsor, dem Autor, spielt das Stück in den Palästinensergebieten, sinnreicherweise gleich im fensterlosen Kühlraum einer Metzgerei. Bei Didi Danquart, dem Dokumentarfilmer und "Tatort"-Regisseur, spielt es in einem stilisierten, abstrakten Bühnenraum, und das hat seinen Grund: er will den Konflikt verallgemeinern – Bosnien und Nordirland sind auch nicht anders.

Christian Gampert | 30.11.2003
    Die Schauspieler waten durch Berge von künstlichem, kieseligem Sand, die Bühne ist umgrenzt von einem sehr deutschen Gartenzaun mit der Warnung "Betreten des Grundstücks verboten", des Grundstücks Israel natürlich, vorne ein blutsprudelnder Brunnen, hinten Che Guevara mit Palästinensertuch, in der Mitte ein überdimensioniertes Verhandlungssofa, wie in Camp David.

    Am Anfang möchte man fast ärgerlich werden über so viel zeigefingernden pädagogischen Impetus der Bühnenbildnerin Ricarda Beilharz, zumal Danquart sich nicht enthalten kann, das Publikum mehrmals mit den Scheinwerfern zu blenden wie bei einer nächtlichen Razzia. Dann aber erweist sich, dass die antinaturalische Künstlichkeit des Bühnenraums die Intensität des Spiels beflügelt, dass die abstrakte Anordnung von Sofa, Sand und Zaun einen Bruderkampf ermöglicht, der modellhaft und tragisch zugleich ist.

    Es sind Deutsche, die sich da gegenüberstehen. Keine Arabismen, keine Nahost-Verkleidungen. Eher die bundesdeutsche linke Parka-Kultur der siebziger Jahre. Na’im, von Rainer Galke mit so einer halbmilitärischen, sich mühsam zusammenreißenden Verbitterung ausgestattet, lebt im Untergrund, in den Bergen. Er ist gekommen, um seinen älteren Bruder zu verhören und ihm möglicherweise zu helfen, bevor das selbsternannte Intifada-Komitee die Verhandlung übernimmt und kurzen Prozeß macht. Aber seine Besorgnis, seine Bruderliebe darf er nicht zeigen, nur einmal hat er einen kurzen Anflug von Zärtlichkeit, ansonsten versucht er sich als Revolutionär.

    Kahled, der jüngste, hat das Treffen arrangiert. Felix Klare hat die undankbarste Rolle – er ist das Bindeglied, die Vermittlungsinstanz zwischen den Antipoden. Das ist theatralisch natürlich mit weniger Erregungspotential verbunden, aber Klare versucht sehr schön, die Überforderung des kleinen Bruders zu spielen.

    Und der letzte, Da’ud, der potentielle Kollaborateur? Der muß ein Bringer sein, der macht den Abend, und so ist es dann auch. Wenn Achim Buch den seltsamen, experimentellen Bühnen-Sandkasten betritt, fällt alles Schwere, alles Bösartige für kurze Zeit von dem Stück ab. Buch ist das Spielkalb, der Komödiant, der Schwejk, der Sponti, der Flippie, der seine Mutter nachäfft, seltsamerweise mit jiddelndem Ranicki-Sound, der in Tel Aviv im Restaurant arbeitet, um die gesamte Familie zu ernähren, kurz: der für den Aufstand nicht zu gebrauchen ist. Zu undiszipliniert, aber auch zu pragmatisch. Eine schöne Frau ist ihm lieber als die gesellschaftliche Utopie.

    Das kann man verstehen. Buch zieht das Publikum auf seine Seite und damit in die Irre, denn es ist Ilan Hatsors schöner Trick, dass am Ende alles ganz anders ist. Aber es geht um die Atmosphäre universellen Misstrauens, um das Klima der Selbstjustiz. Wurde Na’ud von den Israelis festgenommen, oder ging er zu ihnen? Hat er den Zeitpunkt der Demonstration verraten, bei der ein weiterer Bruder zum Krüppel geschossen wurde, oder war das den Besatzern sowieso bekannt?

    Das Stück spielt zur Zeit der ersten Intifada, und das ist wichtig. Keine Selbstmordattentate in Cafés, sondern Steinewerfen gegen Truppen. Das ist zivilisatorisch ein anderer Standard. Was kaum bekannt ist: über 500 Palästinenser wurden schon damals von ihresgleichen umgebracht – wegen des Verdachts der Kollaboration. Ilan Hatsors Stück aber ist überhaupt nicht moralisch, im Gegensatz zu seinen 50iger-Jahre-Vorläufern von Sartre und Camus. Es benennt die Probleme, es spielt die Bälle hin und her, es nutzt die Dramaturgie der geschlossenen Türen. Hatsor zeigt, dass alle ihre Wahrheit haben, Na’im, der Aufständische, ebenso wie Da’ud, der Verschlagene, der sich als Feigling entpuppt. Aber nicht alle sind zum Helden geboren: es ist die Situation, die krank ist.

    Ein kleines, intensives Stück, mit dem das Freiburger Theater ein großes Problem bearbeitet; Didi Danquarts Inszenierung erreicht letztlich dann doch ungeheure Konzentration. Und selbst, wenn die Einspielungen der Nobelpreisreden von Peres, Arafat und Rabin am Schluß etwas lehrhaft wirken: zum Friedensprozeß von 1993 wieder zurückzukehren, das wäre auch eine Möglichkeit.