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Blutiges Handwerk

Eine ebenso archaische wie brutale Familiengeschichte inszeniert Michael Thalheimer mit "Die Orestie" von Aischylos am Deutschen Theater in Berlin. Die Bühne ist mit hellen, blutbefleckten Holzplatten abgedeckt, die Darsteller sprechen eine Art anschwellenden Schreigesangs. Eine herausragende Aufführung war es nicht.

Von Hartmut Krug |
    1980 durchmaß Peter Stein bei seinem zweiten Antikenprojekt an der Schaubühne "Die Orestie" des Aischylos in mehr als acht Stunden und bot dabei eine Reise durch die Entstehungsgeschichte des Theaters und der modernen Demokratie. In jüngerer Vergangenheit brauchten Regisseure wie Andreas Kriegenburg in München und Stefan Pucher in Zürich weniger als sechs Stunden und unterfütterten den alten Stoff mit einer zeitgeistigen Kritik an der aktuellen Politik von George Bush.

    Dadurch wurde der als Stiftungsfest der Demokratie angesehene Schluss der Trilogie mit ihrer Gerichtsverhandlung, in der die Rechtsnormen durch göttliches Eingreifen wiederhergestellt und die freie Verantwortung des Individuums für dessen Handeln betont werden, skeptisch bis kritisch gesehen. Michael Thahlheimer schafft die Trilogie des Aischylos ohne jede äußerliche oder politisierende Aktualisierung in einer Stunde und vierzig Minuten.

    Dabei inszeniert er eine ebenso archaische wie brutale Familiengeschichte. Bühnenbildner Olaf Altmann hat die gesamte Bühne mit hellen, blutbefleckten Holzplatten abgedeckt. Während der Zuschauerraum bei offenen Türen erleuchtet bleibt, treten die Schauspieler auf zwei schmalen, langen Plattformen vor der Holzwand dicht heran ans Publikum: auf der oberen treten die Lebenden auf, auf der unteren bleiben die Ermordeten immer für die Lebenden präsent. Der Chor dagegen ist unsichtbar, er tönt aus dem 2. Rang.

    Der Chor ist eine Schwäche der Inszenierung: nicht nur, weil die körperliche Präsenz fehlt, die seinen Sätzen Kraft geben könnte, sondern auch, weil seine nur rhythmisierte, aber nicht durch Betonungen versinnlichende Intonation doch recht spannungslos und monoton klingt (vor allem nach den Chören von Einar Schleef und Volker Lösch).

    Es beginnt mit einer Klytaimnestra im Bikini, die sich mit Theaterblut übergießt, raucht, eine Schrippe mampft und eine Bierbüchse aufreißt. Alle werden an diesem Abend sehr blutig, ob der von Troja heimkehrende Agamemmnon, den seine Frau zusammen mit ihrem Liebhaber Aigist ermordet, ob die von ihm mitgebrachte Seherin Kassandra, ob Orest oder Elektra. Dieses viele Blut auf den Körpern und der schnell glitschigen Bühne führt aber weder zum Erschrecken, noch passt es zu den realistischen Gewalthaltungen der Figuren. Es bleibt ein effekthascherisch äußeres Zeichen.

    Lautet das Motto des Stückes in herkömmlichen Übersetzungen nur "Durch Leiden lernen", so legt Thalheimer in seiner gemeinsam mit dem Dramaturgen Oliver Reese energisch auf den emotionalen Denkprozeß der Figuren gekürzten Fassung den Fokus mit der Formulierung "tun leiden lernen" auf das aus dem Handeln zu Lernende. Eine durch Göttergesetze und Blutrache endlos sich drehende Gewaltspirale wird weniger aus Einsicht, aber wenigstens aus Vernunft unterbrochen.

    Dabei behauptet Thalheimers Inszenierung allerdings den Lernprozess seiner Figuren nur, ohne ihn diesen wirklich einzuschreiben. Am Schluß fordert und proklamiert der zuvor immer zur Gewalt antreibende Chor mit seiner überraschenden Erkenntnis, die Mitte sei das Maß in allen Dingen, immer wieder laut "Frieden für immer". Überraschend auch deshalb, weil das Gerichtsverfahren mit Athene, Akpollon und den Eumeniden und damit der Prozeß der Zivilisierung nicht gezeigt werden.

    Der in den Wahn treibende Orest sucht seine Schuld allein mit sich ab zu machen. Was bleibt, ist das Individuum Orest, allein, verloren, hilflos, zweifelnd, dem der Chor immer wieder einhämmert: "Frieden für immer". Obwohl diese Orestie radikal gekürzt ist, bleibt die Geschichte erhalten. Die Figuren treten in heutiger Alltagskleidung und als jeweils typisierte Klischees auf. Sie alle bieten (zur atmosphärischen Musik eines Gitarristen im 1. Rang) Verhaltensstudien von Menschen, die von Gewalterfahrung und -ausübung geprägt sind.

    Dabei zeigt Constanze Becker als Klytaimnestra das breiteste Spektrum von Haltungen. Eine von fast feministischem Furor angetriebene Frau, eine Rebellin, die mal aggressiv, dann sauer, dann cool und dann wieder schnoddrig selbstbewusst ist. Sie empfängt ihren Mann mit gespielter sexueller Begierde, zerrt ihm die Hosen herunter und treibt ihn dazu, sie an der blutbeschmierten Holzwand im stehen zu nehmen. Doch Agamemnon ist ein autoritärer Managertyp, nölig und vor alle am Herrschergeschäft interessiert. Er nimmt Klytaimnestra selbst beim Sex gar nicht wahr und plant und denkt schon mit noch mit heruntergezogener Hose und baumelndem Penis weiter.

    Während Aigist mit zappelnden, verbogenen Gliedern sich als Super-Neurotiker über die Bühne zittert, schleicht Orest als verhuschter Bubi im unscheinbaren, hässlichen braunen Anzug mit zu kurzen Ärmeln daher. Er quengelt herum, pinkelt sich ein, übergibt sich schreit nach dem Geld aus seinem Erbe, bevor er ans blutige Handwerk geht. Gesprochen wird von allen Darstellern eine Art anschwellender Schreigesang.

    Die Aufführung bietet Konzepttheater, das jede Figur sofort auf ihre eine, grelle Erscheinungsform bringt und allenfalls bei Constanze Beckers Klytaimnestra eine Figur vorführt, die ihre Aggressionen und Verzweiflung mit Kraft ausdrückt. Insgesamt gelingt Michael Thalheimer mit dieser sich trotz ihrer nur 100 Minuten arg hinziehenden Orestie allenfalls ein ordentlicher Versuch. Ein herausragender Abend aber wurde es leider nicht.