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Bodenhaftung und Wissenschaft

Seit einigen Jahren gibt es für die Geburtshelferinnen auch die Möglichkeit, sich akademisch weiterzubilden. Die Medizinische Hochschule Hannover bietet den Masterstudiengang für Hebammenwissenschaft an. Die Leitung hat Mechthild Groß, die erste habilitierte Hebamme Deutschlands.

Von Susanne Schrammar | 04.10.2010
    Babyhand an Erwachsenendaumen
    Babyhand an Erwachsenendaumen (Jan-Martin Altgeld)
    "Anna, der Geburtshocker muss bei Dir sein, rück ihn mal bitte raus!"

    Mit schnellen Schritten flitzt Mechthild Groß über den langen Flur des Kreißsaals, den Geburtshocker unter den Arm geklemmt. Einmal die Woche arbeitet die 46-jährige Hebamme auf der Geburtsstation der Medizinischen Hochschule Hannover, kurz MHH. Heute als Springerin.

    "Wir haben gerade eine Gebärende hier, da geht es noch nicht richtig los - ganz normal – und die wünschte sich halt unheimlich eine Badewanne. Und was ist passiert? Die Fruchtblase ist gesprungen. Und jetzt geht es los und gleich kamen die Wehen und in dem Moment ist die Frau ganz erschrocken gewesen und ich hab dann einfach nur gesagt: 'Wie toll! Jetzt ist die Fruchtblase gesprungen.' Und jetzt kann es endlich weiter gehen und die Richtung ist klar."

    An ihrem hellblauen Krankenhausanzug trägt sie eine goldene Plakette: Dr. Mechthild Groß steht darauf, darunter zwei schützende Hände über einem Säugling. Für eine Hebamme ist ein Doktortitel schon ungewöhnlich, doch die blonde Frau mit dem herzlichen Lachen hat noch mehr zu bieten: Seit kurzem ist sie die erste Hebamme in Deutschland, die in der Geburtshilfe eine universitäre Habilitation abgelegt hat.

    "Das war jetzt nach fast zehn Jahren hier an der MHH etwas, was geschehen durfte, was reifen durfte und ich denke, dass für die Hebammen im ganzen Land, in Deutschland ein schönes Ereignis."

    Als Privatdozentin leitet sie den Europäischen Masterstudiengang für Hebammenwissenschaft an der MHH. Der Spagat zwischen klinischer Praxis und wissenschaftlicher Forschung – es gibt nicht viele, die ihn auf sich nehmen. Für Mechthild Groß gehört beides zusammen.

    "Ein Hebammenberuf im Elfenbeinturm der Wissenschaft, das ist etwas Konstruiertes und da ich mich in der Tat manchmal mit sehr komplexen Situationen beschäftigen muss, kommt die Bodenhaftung durch die Tätigkeit im Kreißsaal. Dieser Tag gibt mir die Gelegenheit, immer wieder Kontakt zu meinen Kollegen, zu Frauen und diesen ganz alltäglichen Situationen aufzunehmen. Hier sehen Sie, wer die Frauen sind und es ist tatsächlich die Arbeit am Nabel der Welt."

    Ein wenig später in ihrem winzigen Büro auf der Mutter-Kind-Station. Seit neun Jahren ist Mechthild Groß an der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der MHH tätig. Nach dem Abi machte sie zunächst eine Krankenpflegeausbildung, entdeckte im Kreißsaalpraktikum ihre berufliche Leidenschaft, doch als sie nicht sofort einen Platz in der Hebammenschule bekam, fing sie an, Psychologie zu studieren. Nach dem Grundstudium dann die Ausbildung zur Hebamme und der erste wissenschaftliche Workshop: "Hebammen brauchen Forschung. Forschung braucht Hebammen".

    "Ich merkte sofort, das ist ja genau das Thema, das mich interessiert und dachte nach der Hebammenausbildung: Ok, dich interessiert das mit der Forschung, mach mal Dein Studium fertig, hab in Konstanz Psychologie diplomiert und bin dann nach Bremen zur Promotion, hab dort im Studiengang Pflegewissenschaften gearbeitet und dann über das Thema "Gebären als Prozess" promoviert und bin seit 2001 hier an der MHH."

    Mechthild Groß war schon immer eine Pionierin auf ihrem Gebiet und die Habilitation eine Herzensangelegenheit – für die Kolleginnen, die nach ihr kommen.

    "Man kann es knallhart runterbrechen. Die Habilitation ist erforderlich für die Studiengangsleitung hier an der MHH. Warum brauchen wir masterqualifizierte Hebammen? Wir brauchen masterqualifizierte Hebammen, damit wir Hebammen besser ausbilden können. Warum bilden wir Hebammen jetzt an Fachhochschulen aus auf Bachelor-Niveau, damit wir gut ausgebildete Frauen in der Praxis haben und diese Hebammen auch studienbasiert argumentieren können. Die Kolleginnen sollen geschult sein, Studien lesen zu können und diese dann auch in ihre Praxis umzusetzen."

    In ihrer wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt sich Mechthild Groß vor allem mit der Betreuung während des Geburtsprozesses. Es komme nicht darauf an, dass eine Geburt möglichst schnell verlaufe, sagt sie, sondern möglichst effektiv. Dabei seien drei Faktoren wichtig: Dauer, Schmerzen und das Wohlbefinden der Frauen. Die Beschäftigung mit der Forschung erlaube es Hebammen, individuelle Lösungen zu finden. Doch auch Erfahrung und Intuition spielen ihrer Meinung nach bei der Hebammenwissenschaft eine große Rolle.

    "Dieses Bauchgefühl im Forschungskontext ist etwas, auf das ich am meisten vertraue und immer mehr vertrauen lerne."