Im Kommunismus war die Kunst des Geschichte-Erfindens eine Überlebensform, die sich mit Täuschungen und Mystifikationen gegen das herrschende System wandte. Davon handelt der nun folgende Essay von Michaela Fridrich "Böhmen liegt am Meer. Zur Virtualität in der tschechischen Kultur." Die deutsch-tschechische Autorin ist Hörfunkjournalistin beim Bayerischen Rundfunk.
Es war ein ganz normaler Sonntagmorgen im Juni des Jahres 2007, als einige Fernsehzuschauer in Tschechien Zeuge eines beklemmenden Vorfalls wurden. Mitten in die Beschaulichkeit live gesendeter Panorama-Bilder aus verschiedenen Teilen des Landes im zweiten Kanal des tschechischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens schlug über der Hügelkette des idyllischen Riesengebirges eine Atombombe ein: So ließen es jedenfalls die Bilder, ein gleißend heller Blitz und ein Atompilz, vermuten. Ungewöhnlich war dabei die am unteren Bildrand eingeblendete Internet-Adresse. Diejenigen Zuschauer, die die betreffenden Seiten aufriefen, wurden entwarnt und konnten sich besorgte Anrufe beim Sender sparen: Es waren jedenfalls keine Terroristen am Werk. Hinter dem fingierten Attentat steckte die Künstlergruppe Ztohoven:
"Wir sind keine terroristische oder politische Gruppe, es ist nicht unser Ziel, die Gesellschaft in Angst zu versetzen oder zu manipulieren, so wie wir es tagtäglich in der realen wie auch medialen Welt erfahren. Ob es nun politische Interessen sind oder solche der Wirtschaft: Sie manipulieren im Verborgenen und drängen ihre Produkte und Ideen ins Unterbewusstsein des Bürgers. Eine sanfte Störung dieses Systems als Appell an die reine Vernunft des Menschen, seine Nicht-Beeinflussbarkeit, schadet unserer Meinung nach nie, auch nicht in einem demokratischen Land. Darum hat die Künstlergruppe Ztohoven am 17.Juni 2007 den medialen Bereich angegriffen, den Bereich des Fernsehens. Sie störte ihn, zog seine Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit in Zweifel. Sie machte auf die mögliche Vertauschung vom medialen Bild der Welt mit der Welt als solche, der realen Welt aufmerksam. Entspricht alles, was wir täglich auf den Fernsehbildschirmen sehen der Wahrheit? Ist es real?"
Das Infragestellen eingefahrener Wahrnehmungsmuster ist das eigentliche Ziel der Künstlergruppe Ztohoven, um auf das Manipulationspotenzial von Politik, Werbung und Medien aufmerksam zu machen. So begeben sich die Mitglieder mit ihren Aktionen immer wieder auf eine Gratwanderung zwischen der tatsächlichen und der nur vorgespiegelten Wirklichkeit. Dabei geraten sie hin und wieder in Grenzbereiche des Legalen, wie im beschriebenen Fall, wo sich die Gruppe an den Übertragungskameras und damit an fremdem Eigentum zu schaffen machte. Deshalb und auch wegen versuchter Panikmache musste sich Ztohoven vor Gericht verantworten. Parallel dazu verlieh die Prager Nationalgalerie den Künstlern einen gut dotierten Förderpreis für ihre Atompilz-Aktion und verärgerte damit wiederum das Tschechische Fernsehen. Zum Glück für die Aktionskünstler konnten sie sich bisher auf die Unterstützung einer breiten Öffentlichkeit verlassen wie auch auf die Milde der Richter bezüglich ihrer Aktionen. Das bestätigen Tausende von Unterschriften zu ihren Gunsten und Gerichtsurteile, bei denen die Gruppe immer glimpflich davon kam.
Die Tschechen haben Verständnis für solche "Schwejkiaden", wie einer der Künstler von Ztohoven die Aktionen der Gruppe einmal bezeichnete. Das mag daran liegen, dass virtuelle Spiele dieser Art eine Tradition in der tschechischen Kultur haben und die Tschechen eine Vorliebe für fingierte Wirklichkeiten entwickelten. Auch nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Ära 1989 hat sich das nicht geändert. Noch immer dient das Spiel mit unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen als Mittel zur Kritik am Bestehenden - das bezeugen die Aktionen der Gruppe Ztohoven. Die Klage des Schriftstellers Pavel Kohout im Vorwort zu seinem 2008 auf tschechisch erschienenen Buch Von Nichts und von Allem, die Gesellschaft der "Freien und Satten" würde allzu schnell "die Erinnerung und die Instinkte" verlieren, scheint zumindest mit Blick auf Ztohoven unbegründet. Die Künstler beweisen mit ihren Aktionen einen wachen, kritischen Geist und bedienen sich dafür des gleichen Verfahrens, das Kohout als ein im Kommunismus unterdrückter Schriftsteller kennt:
"Im Seminargarten von Strahov beklagte sich Ludvík Vaculík im Gras liegend, wie sehr es ihm fehlte, dass er nicht für die Zeitung schreiben durfte, nicht einmal von der Ankunft des Frühlings, die er jedes Mal für das Ereignis des Jahres hielt. Unter der Eisenbahnbrücke beim Prager Vyšehrad haben er, Ivan Klíma, Alexandr Kliment, Jan Trefulka, Milan Uhde und ich kurz daraufhin vereinbart, dass wir uns der Reihe nach kurze Feuilletontexte mit Durchschlägen schreiben und untereinander per Post zuschicken werden, wie wir sie unter normalen Umständen für die Zeitung schreiben würden, wenn wir das dürften. Diesem Korrespondenzspiel schlossen sich spontan weitere Interessenten an und dadurch stieg fast geometrisch die Anzahl der Autoren und der ihnen nahen Leser, die die erhaltenen Texte mit einer maximalen Anzahl von Durchschlägen für sich abschrieben und sie an weitere Kopisten schickten."
Wie Pavel Kohout im Vorwort zu seinem feuilletonistischen Sammelband Von Nichts und von Allem schildert, entwickelte sich Mitte der 70er Jahre in Tschechien ein paralleler Literaturbetrieb im Untergrund, gegen den das kommunistische Regime kaum etwas tun konnte. Das Autoren- und Leserkollektiv simulierte eine Wirklichkeit, die die herrschenden Verhältnisse unterwanderte, ja sie ad absurdum führte.
Solches Vortäuschen bestimmter Gegebenheiten ist ein traditionelles Verfahren innerhalb der nationalen tschechischen Kultur. Der 1999 verstorbene Bohemist Vladimír Macura wies in seinen Texten schon früh darauf hin, dass sich das kulturelle Selbstbewusstsein der Tschechen einer Reihe von Illusionen, Fiktionen bis hin zu Täuschungen verdankt, die von tschechischen Patrioten im frühen 19. Jahrhundert in Gang gesetzt wurden.
So war jene Ära der tschechischen Geschichte, die als die tschechische nationale Wiedergeburt bezeichnet wird, in Wirklichkeit eine komplette Neugeburt! Eine am Anfang sehr kleine Gruppe junger gebildeter Tschechen imaginierte das Vorhandensein einer Jahrhunderte alten Hochkultur, indem sie wissenschaftliche und literarische Texte in einer hochartifiziellen stilisierten Sprache für eine zunächst nicht vorhandene Leserschaft verfasste. Begreiflich, dass jenen Patrioten das Fehlen von echten Zeugnissen der behaupteten Kulturtradition ein Dorn im Auge war.
Einige von ihnen entschlossen sich deshalb, diesem Zustand abzuhelfen und verfassten selbst angebliche Dokumente, die an verschiedenen Orten als verschollen geglaubte Handschriften auftauchten. Als "Spiele der Mystifikation" bezeichnete das der Bohemist Vladimír Macura:
"Während der tschechischen Wiedergeburt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gediehen diese Spiele besonders gut, weil diese Kultur selbst über lange Zeit hin einem Spiel glich, weil sie selbst in einer Mystifikation gründete, weil sie ihre Normalität, Vollständigkeit, ihr standardisiertes soziales Hinterland nur vortäuschte. Die Fälschungen der Handschriften, speziell der Königinhofer und der Grünberger Handschrift, sind in dieser Flut verschiedenster Falsifikate und Mystifikationen ernsten und heiteren Charakters die bedeutendsten. Sie nämlich stellen den unübersehbaren Versuch dar, der gerade entstehenden modernen tschechischen Kultur eine passendere Vergangenheit vorzuschalten, eine Tradition für sie zu schaffen, die geeigneter war als die, die in Wirklichkeit zur Verfügung stand."
Sowohl die Tradition als auch die Gegenwart, die in Wirklichkeit zur Verfügung standen, mussten die tschechischen Patrioten als äußerst unzureichend empfinden. Das Tschechische war zu jener Zeit eine Sprache der niederen Bildungsschichten, der Bauern und Dienstboten. Wer etwas auf sich hielt, sprach deutsch. Und auch das barocke Schrifttum enthielt nichts, womit sich die nationalen Wiedererwecker identifizieren konnten. Aber die gefälschten mittelalterlichen Handschriften in tschechischer Sprache verfehlten nicht ihre Wirkung. Sie schufen ein ganzes Register von Sujets und Symbolen, die zunächst von der Literatur und anschließend auch von allen anderen Kunstgattungen mit Inbrunst aufgegriffen wurden.
Bis heute schöpft die tschechische Kultur wesentlich aus der Inspiration jener Falsifikate. Das offenbart sich sowohl im Rückgriff auf die darin entfalteten nationalen Themen und Attribute, als auch in der Verinnerlichung des Prinzips der simulierten Wirklichkeit.
Und dieses korrespondiert wiederum mit einer ganz eigenen Liebe der Tschechen zur Wahrheit, die schon auf den tschechischen Reformer und Märtyrer Jan Hus zurückgeht. Sein Motto "Die Wahrheit siegt" prangt bis heute auf der Präsidentenstandarte. Die Relativität ihres Wahrheitsbegriffs nutzte den Tschechen im Verlauf der Geschichte allerdings oftmals dazu, die jeweilige Wirklichkeit nach Wunsch zu interpretieren.
Der 1938 geborene Dichter Jiří Grůša bietet in seiner Gebrauchsanweisung für Tschechien eine plausible Erklärung für die Anpassungsfähigkeit des Wahrheitsbegriffs in seinem Land:
"Das Land ist überschaubar im doppelten Sinne des Wortes. Die Berge zu überqueren ist kinderleicht. Sie bilden keinen Schutzwall. Flüchtig nachgerechnet, verging kein Jahrhundert, ohne dass uns nicht jemand ungeladen einige Male heimgesucht hätte: mit irgendeiner unverständlichen Botschaft, die sich selbst als die allerklarste verstand. Ist es unter diesen Umständen verwunderlich, dass wir auf viele Wahrheiten pochen? Wir hatten auf viele zu schwören."
Wahrheit als zentrale Kategorie erwies sich für das kleine Land, das seinen Nachbarn militärisch immer unterlegen war, als ein Schlüssel zu einer anderen Art von Überlegenheit, nämlich der moralischen: wenn die Wirklichkeit schon einiges zu wünschen übrig ließ, hatte man doch wenigstens die Wahrheit auf seiner Seite und damit die Hoffnung, mit der Zeit auch die Wirklichkeit den eigenen Wünschen anzupassen. Denn die Wahrheit siegt am Schluss immer bei den Tschechen.
So sahen es schon die Hussiten, die mit der Aufschrift Veritas omnia vincit auf den Fahnen ihre oftmals blutrünstigen Kriege gegen den falschen Glauben führten. Ihre Losung übernahmen im 19. Jahrhundert auch die tschechischen Patrioten, da sie sich gut auf die eigenen Bestrebungen übertragen ließ. Und auch der Gründer und erste Staatspräsident der Tschechoslowakei Tomáš Garrigue Masaryk machte den Spruch zu seinem Motto, das seit seiner Regierungszeit als offizielles Bekenntnis der Tschechen sowohl unter den Kommunisten als auch nach ihrem Fall 1989 auf dem Staatswappen verblieb.
Solch eine Wahrheitsliebe, die sich in jede beliebige Gesellschaftsform nahtlos einfügt und sich jedem politischen System problemlos anpasst, verliert mit der Zeit allerdings an Glaubwürdigkeit. Daher musste sie sich in der Demokratie nach der Wende schon so manche Kritik gefallen lassen - so auch vom Historiker Dušan Třeštík:
"Wir Tschechen waren und blieben immer eine ideologische Gesellschaft. Unsere Nation begründete sich viel eher ideologisch als praktisch. Immer gaben wir den Wahrheiten den Vorzug vor der Wirklichkeit, immer wollten wir eher auf einen Schlag von einem Ideal erlöst werden, als dass wir uns heute und täglich mit der aufreibenden Wirklichkeit des Lebens herumschlagen. Für Jene aus dem Westen, die tatsächlich an ihrer ständig verflachenden Wirklichkeit leiden, sind wir begreiflicherweise faszinierend. Ich kann mich aber nicht des Eindrucks erwehren, dass uns Tschechen eher die Wirklichkeit faszinieren sollte, die wir nicht kennen, weil wir ihr immer ausgewichen sind und uns zur Wahrheit geflüchtet haben."
Der 2007 verstorbene Dušan Třeštík war unter den Historikern seines Landes einer, der seine Erkenntnisse überzeugend auch auf die aktuelle Situation übertragen konnte. Obwohl sein Forschungsschwerpunkt in der Zeit des Großmährischen Reiches und der Přemysliden-Herrscher, also im Frühmittelalter lag, befasste er sich nach der Wende gerne mit jenen Themen, die für die Zukunft der Tschechen von drängender Relevanz waren, wie die Frage der nationalen Identität, des Umgangs mit Ideologien und der Beziehung zu den deutschen Nachbarn sowie der Europäischen Union. Dabei konfrontierte er seine Landsleute häufig mit unliebsamen Einsichten.
So führte er ihnen vor Augen, dass es keineswegs nur eine Wahrheit, sondern deren viele mögliche gibt und dass sie folglich keinen Anspruch auf die einzig gültige haben können. Besonders groß war der Aufschrei aber, als Třeštík 1994 erklärte, die Tschechen seien als Nation erst im 19. Jahrhundert von tschechischen Intellektuellen erfunden worden und seine Mitbürger dazu aufforderte, sich nach dem Zusammenbruch aller politischen Ideologien als eine demokratische tschechische Gesellschaft erneut selbst zu erfinden - und zwar ohne sich dabei wie bislang liebgewonnener Illusionen und Täuschungen zu bedienen.
Auf die Entrüstung, die ihm daraufhin entgegenschlug, reagierte Třeštík mit der ihm eigenen Polemik:
"Die Nation suchen wir uns doch nicht aus, sie ist da und wir werden hineingeboren, sie muss also immer schon da gewesen sein. Die Vertreter der Wiedergeburt konnten sie nicht erfinden, jeder weiß doch, dass sie sie nur aus ihrem Schlaf erweckten, in den sie wegen ungünstiger Umstände gefallen war. Das ist genau so offensichtlich, wie dass sich die Sonne um die Erde dreht. Jeder kann es sehen, wie sie im Osten aufgeht und in einem schönen Bogen über den Himmel gen Westen wandert. Nur Verrückte und Provokateure können behaupten, dass im Gegenteil wir uns zusammen mit Mütterchen Erde drehen und dass die Sonne auf der Stelle steht."
Dass sogar viele historisch aufgeklärte Tschechen Třeštíks Thesen als Provokation empfanden, offenbart die Kraft jener Mythen, die ihrer nationalen Identität zugrunde liegen. Es ist begreiflich, dass das kulturelle Selbstbewusstsein durch die Infragestellung dieser Mythen erschüttert wird. Allerdings machte Třeštík in seinen Texten immer deutlich, dass er keineswegs die Existenz der tschechischen Nation in Zweifel ziehen wollte, sondern lediglich empfahl, sie neu zu definieren. Das freilich hätte es erfordert, sich von alten Ängsten und vom Misstrauen gegenüber der Wirklichkeit freizumachen. Nur so ließe sich ein nationales Selbstverständnis entwickeln, das ohne Illusionen und Täuschungen auskäme.
Andererseits ist das Ersinnen virtueller Welten seit dem 19. Jahrhundert ein fester Bestandteil der tschechischen Kunst. Das Faible der Tschechen für nur Erdachtes hat sich ins kulturelle Gedächtnis des Landes eingeprägt und ist somit auch eine Wirklichkeit geworden, die sich nicht so einfach wegdiskutieren lässt. Diesem Umstand verdanken die Tschechen immerhin ihr Künstlertum, mit dem man sie auch im Ausland identifiziert:
"Wenn die Tschechen seit jeher mit irgendetwas ins Bewusstsein der anderen Völker Eingang finden, dann entschieden eher als mit Eroberungen ihrer Politiker oder Heerführer mit den Leistungen ihrer Musiker, Architekten, Maler und anderer Künstler, wie auch - ich betone - ihrer aufgeklärten Mäzene, allen voran Karl IV."
Der Schriftsteller Pavel Kohout stellt treffend fest, dass in seinem Land die Politik für die Menschen nie eine allzu große Rolle gespielt hat - zu leidvoll waren die Erfahrungen, die man damit über Jahrhunderte hinweg gemacht hatte, zu marginal erschien im internationalen Rahmen die eigene politische Bedeutung. So kam es, dass bei den Tschechen die Kultur der Politik den Rang ablief. Denn darin konnten die Tschechen andere Nationen leicht überstrahlen. Der künstlerischen Phantasie wurden keine Grenzen gesetzt. Sie konnte sich frei entfalten und bot mit der Zeit einen hervorragenden Ersatz für die Unzulänglichkeit der gesellschaftlichen Realität. Die tschechische Literatur wählte als Sujet oft das kleine, zufällige Ereignis, die beiläufige Geschichte, präsentierte sie oft anekdotisch und verlieh ihr so vermeintliche Bedeutsamkeit. Der passende Ort für das Ersinnen solcher Geschichten war und ist das böhmische Wirtshaus, die hospoda. Wie dort Literatur entsteht, erklärt der Schriftsteller Jiří Grůša in seiner Gebrauchsanweisung für Tschechien:
"Richtig dosiert und in Č-moll moduliert, hält unsere tschechische Sprache Leib und Seele zusammen. In einer Hospoda wird sie mit Vorliebe benutzt, schöpferisch wird hier die Welt mit Worten geflickt. Ausgebessert, nicht besser gemacht. Angefertigt, nicht fertiggemacht.
Nach- und besser erzählt, als wäre sie nichts weiter als eine unendliche Anekdote, eine Kette, ein Rosenkranz aus příhodas."
Dem Wort příhoda entspricht im Deutschen am ehesten der Begriff "Begebenheit", etwas das zufällig passiert, oder auch nicht - diese Möglichkeit jedenfalls ist im tschechischen Wort enthalten, denn příhodas können auch frei erfunden sein. Das erzählerische Weltausbessern mit einem "Rosenkranz aus příhodas" - wie es Jiří Grůša beschreibt - kennen Viele von der genial erdichteten Figur des braven Soldaten Schwejk von Jaroslav Hašek.
Ein Meister des schöpferischen Schwafelns war auch der Schriftsteller Bohumil Hrabal. Er prägte dafür den Ausdruck pábení, den man als babbeln, bafeln oder fabulieren, übersetzen kann. Indem der Bafler sich die Welt mit seinen Worten zurechtfabuliert, kann er auf die Wirklichkeit getrost verzichten. Sein Fabulieren ist Flucht, oft auch Ausflucht und funktioniert im Leben wie in der Kunst gleichermaßen.
Bohumil Hrabals eigenes Leben und Schaffen taugt dafür als bestes Beispiel. Sowohl seine Wirtshausbesuche als auch sein Schreiben waren für ihn gewissermaßen eine Therapie, die ihn lange davor bewahrte, an der Wirklichkeit zu zerbrechen, an der er zutiefst litt. Zum Helden oder gar Märtyrer war er nicht geboren. So beugte er sich Mitte der 70er Jahre dem kommunistischen Regime und veröffentlichte in einer Zeitschrift eine Selbstkritik, die es ihm ermöglichte weiter zu publizieren. Freilich wurde ihm das von vielen Landsleuten übelgenommen: Von einem so bedeutenden Schriftsteller wie ihm hatte man mehr Mut erwartet. Doch Hrabal war nicht stark. Oft hat er in seinen autobiografisch gefärbten Romanen und Erzählungen das Thema Freitod in Betracht gezogen, zuletzt in dem 1989 verfassten Text Die Zauberflöte, den er als lyrische Reportage bezeichnete:
"So oft wollte ich aus dem Fenster meines fünften Stockes springen, nicht wegen dem, was ich erzählt habe, sondern weil ich so lange zusehen musste, wie meine Pipsi starb, meine Frau, als ich dann aber las, dass Franz Kafka aus dem fünften Stock hatte springen wollen, dort wo er gewohnt hatte, in der Maison Oppelt, einer Weingroßhandlung, in der unter dem Altstädter Ring an die siebenhunderttausend Flaschen kostbarer Weine gelagert waren, als ich las, dass auch Malte Laurids Brigge in Paris im fünften Stock gewohnt hatte, als ich das von diesen Stockwerken erfuhr, da verschob ich meinen Sprung aus dem Fenster ..."
Der zweiundachtzigjährige Bohumil Hrabal starb im Jahr 1997 bei einem Sturz aus dem Fenster des fünften Stockwerks einer Prager Klinik, wo er in Behandlung war. Entgegen der offiziellen Verlautbarung, wonach er beim Taubenfüttern das Gleichgewicht verlor und hinunterfiel, gehen viele Kollegen und Menschen, die Hrabal gut kannten, davon aus, dass er den Freitod wählte, den er so oft zuvor schon in seinen literarischen Werken erwogen hatte. Hrabals Tod war ein Ereignis, in dem Fiktion und Wirklichkeit auf symptomatische Weise miteinander verschmolzen. Die Wahrheit darüber, wie es zu dem Sturz wirklich kam, wird man nicht mehr erfahren können. Doch macht das einen Unterschied? Was bleibt, ist die überragende Bedeutung von Hrabals literarischem Werk - unabhängig von den Umständen seines Todes.
Dass die Sichtweise eines bestimmten Sachverhaltes zuweilen die Tatsachen bedeutungslos erscheinen lassen kann, das hatte schon Jaroslav Hašek gewusst. In den Abenteuern seines Soldaten Schwejk führte er dieses Leitmotiv immer wieder exemplarisch vor. Zum Beispiel in der Episode von Schwejks Aufenthalt in einem Militärkrankenhaus, wo Simulanten mit diversen therapeutischen Foltermethoden kuriert werden. Als Schwejk seinen Mitpatienten, worunter sich sowohl simulierende als auch echte Kranke befinden, den Grund seiner Einweisung verrät, nämlich lediglich einen Rheumatismus - da kann sich selbst der sterbende Schwindsüchtige im Nachbarbett das Lachen nicht verkneifen. Die Welt ist eben so, wie sie einem scheinen mag. Die Wirklichkeit spielt da oftmals keine entscheidende Rolle.
Und das Fabulieren ist im Vergleich zu den ideologisch verbrämten "Die Wahrheit siegt"-Rufen auf jeden Fall die sympathischere Strategie, sich der freudlosen Realität zu entziehen.
Auch während der Zeit des Kommunismus war die Kunst des Geschichtenerfindens für Viele ein gangbarer Weg durchs Leben. So ersannen sich die Tschechen noch einen Helden, der ihnen als moralische Stütze mehr zu bieten hatte als Hašeks Schwejk. Das Universalgenie Jára Cimrman hatte als Künstler und Wissenschaftler wahrhaft Bedeutendes geleistet:
So korrespondierte er mit Albert Einstein und Sigmund Freud, außerdem erfand er die Glühbirne, das Luftschiff, den Joghurt und die CD und riet den Amerikanern zum Projekt des Panamakanals. Auf seiner Internetseite erfährt man noch in einem Text aus dem Jahr 2003 über diese beeindruckende Persönlichkeit:
"Auch heuer ist es 120 Jahre her, seit Jára Cimrman geboren wurde. Dank des Matrikelführers der IV. Wiener Pfarrgemeinde Franz Huschka, der die meisten Einträge im Zustand völliger Trunkenheit ausführte, kann man bis heute nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob dem Ehepaar Marlen und Leopold Cimrman in einer frostigen Februarnacht des Jahres 1856, 1864, 1868 oder 1883 ein Sohn geboren wurde. Die unsichere Schrift des Matrikelführers lässt auch das Jahr 1884 zu. Also werden es auch im nächsten Jahr 120 Jahre sein, seit Jára Cimrman geboren wurde. Seine Spuren finden wir in unzähligen Ländern so gut wie aller Erdkontinente. In Böhmen erzielt sein Lebenswerk seinen Gipfelpunkt. Als fahrender Dentist durchschreitet er wohl jeden Winkel unserer Heimat. Das tschechische Volk öffnet bereitwillig seine Münder und vertraut ihm all seine Sorgen und Nöte. Daraus schöpft Cimrman dann den Stoff für seine unsterblichen Schauspiele. Es sind Dramen von einer künstlerischen Kraft, dass sie von den Zeitgenossen nicht verstanden werden konnten. Als sie nach vielen Jahrzehnten auf der Bühne erstrahlten, begann eine ganze Reihe von Literaturwissenschaftlern Cimrmans Existenz anzuzweifeln und bezeichnete sein Werk als eine Fälschung, ähnlich den Fälschungen der Grünberger und der Königinhofer Handschrift."
Als im Jahr 2005 das tschechische Fernsehen über den größten Tschechen der Geschichte abstimmen ließ, erreichte Jára Cimrman einen Spitzenplatz. Allerdings wurde er disqualifiziert, da nach den geltenden Regeln fiktive Persönlichkeiten von der Abstimmung ausgeschlossen waren. Diese Entscheidung empörte viele Tschechen und das Fernsehen sah sich genötigt, Cimrman wenigstens einen Sonderpreis zuzuerkennen.
Die Idee, eine fiktive Figur zum größten Nationalhelden zu erklären, zeigt, dass der Hang zur Virtualität bei den Tschechen auch eine selbstironische Komponente hat. Nach der Wende im Jahr 1989 wurde diese Fähigkeit, über sich selbst lachen zu können, allerdings auch schon einige Male auf eine harte Probe gestellt - wie beispielsweise in den Aktionen der Künstlergruppe Ztohoven. Noch schonungsloser gingen zwei Absolventen der Prager Filmakademie im Jahr 2003 mit ihren Mitbürgern um: in einer beispiellosen Werbekampagne kündigten sie quer durch alle Medien die Neueröffnung eines Hypermarktes mit dem bezeichnenden Namen "Der Tschechische Traum" an.
Als die Tschechen dann am Tag der Eröffnung zu Tausenden an den Ort des Geschehens pilgerten, war dort lediglich die Kulisse eines Hypermarktes aufgestellt. Die Reaktionen der Menschen waren durchaus nicht nur positiv, Vielen ging dieses Spiel entschieden zu weit. Bis zur Wende hatten sich die Mystifikationen, Täuschungen und virtuellen Spiele der Tschechen ja meistens gegen die herrschenden Systeme gewandt, die die Wirklichkeit regierten.
Erst in den vergangenen 20 Jahren der Demokratie gerät immer stärker die tschechische Bevölkerung selbst in den Fokus solcher Aktionen - und muss das aushalten. Immerhin haben auf die Werbekampagne "Der Tschechische Traum" auch viele Menschen mit Humor reagiert und so ihr Verständnis für das virtuelle Spiel bewiesen - auch wenn sie darin diesmal die Gefoppten waren.
In genau diesem Sinn für all Jenes, was nicht mit der nackten Realität zu tun hat, sondern ganz andere Wirklichkeitsebenen offenbart, liegt nach wie vor eine besondere Qualität der Tschechen. Und so mutet der Schluss von Ingeborg Bachmanns Gedicht Böhmen liegt am Meer, das sie 1964 anlässlich ihrer Prag-Reise schrieb, wie ein Plädoyer an die Tschechen an, sich diese Fähigkeit zu bewahren:
"Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe / unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser / und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen Und die zum Weinen sind. " Und irrt euch hundertmal, / wie ich mich irrte und Proben nie bestand, / doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal. Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags / Zum Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt. Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land, / ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr, ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält, / begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen."
Es war ein ganz normaler Sonntagmorgen im Juni des Jahres 2007, als einige Fernsehzuschauer in Tschechien Zeuge eines beklemmenden Vorfalls wurden. Mitten in die Beschaulichkeit live gesendeter Panorama-Bilder aus verschiedenen Teilen des Landes im zweiten Kanal des tschechischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens schlug über der Hügelkette des idyllischen Riesengebirges eine Atombombe ein: So ließen es jedenfalls die Bilder, ein gleißend heller Blitz und ein Atompilz, vermuten. Ungewöhnlich war dabei die am unteren Bildrand eingeblendete Internet-Adresse. Diejenigen Zuschauer, die die betreffenden Seiten aufriefen, wurden entwarnt und konnten sich besorgte Anrufe beim Sender sparen: Es waren jedenfalls keine Terroristen am Werk. Hinter dem fingierten Attentat steckte die Künstlergruppe Ztohoven:
"Wir sind keine terroristische oder politische Gruppe, es ist nicht unser Ziel, die Gesellschaft in Angst zu versetzen oder zu manipulieren, so wie wir es tagtäglich in der realen wie auch medialen Welt erfahren. Ob es nun politische Interessen sind oder solche der Wirtschaft: Sie manipulieren im Verborgenen und drängen ihre Produkte und Ideen ins Unterbewusstsein des Bürgers. Eine sanfte Störung dieses Systems als Appell an die reine Vernunft des Menschen, seine Nicht-Beeinflussbarkeit, schadet unserer Meinung nach nie, auch nicht in einem demokratischen Land. Darum hat die Künstlergruppe Ztohoven am 17.Juni 2007 den medialen Bereich angegriffen, den Bereich des Fernsehens. Sie störte ihn, zog seine Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit in Zweifel. Sie machte auf die mögliche Vertauschung vom medialen Bild der Welt mit der Welt als solche, der realen Welt aufmerksam. Entspricht alles, was wir täglich auf den Fernsehbildschirmen sehen der Wahrheit? Ist es real?"
Das Infragestellen eingefahrener Wahrnehmungsmuster ist das eigentliche Ziel der Künstlergruppe Ztohoven, um auf das Manipulationspotenzial von Politik, Werbung und Medien aufmerksam zu machen. So begeben sich die Mitglieder mit ihren Aktionen immer wieder auf eine Gratwanderung zwischen der tatsächlichen und der nur vorgespiegelten Wirklichkeit. Dabei geraten sie hin und wieder in Grenzbereiche des Legalen, wie im beschriebenen Fall, wo sich die Gruppe an den Übertragungskameras und damit an fremdem Eigentum zu schaffen machte. Deshalb und auch wegen versuchter Panikmache musste sich Ztohoven vor Gericht verantworten. Parallel dazu verlieh die Prager Nationalgalerie den Künstlern einen gut dotierten Förderpreis für ihre Atompilz-Aktion und verärgerte damit wiederum das Tschechische Fernsehen. Zum Glück für die Aktionskünstler konnten sie sich bisher auf die Unterstützung einer breiten Öffentlichkeit verlassen wie auch auf die Milde der Richter bezüglich ihrer Aktionen. Das bestätigen Tausende von Unterschriften zu ihren Gunsten und Gerichtsurteile, bei denen die Gruppe immer glimpflich davon kam.
Die Tschechen haben Verständnis für solche "Schwejkiaden", wie einer der Künstler von Ztohoven die Aktionen der Gruppe einmal bezeichnete. Das mag daran liegen, dass virtuelle Spiele dieser Art eine Tradition in der tschechischen Kultur haben und die Tschechen eine Vorliebe für fingierte Wirklichkeiten entwickelten. Auch nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Ära 1989 hat sich das nicht geändert. Noch immer dient das Spiel mit unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen als Mittel zur Kritik am Bestehenden - das bezeugen die Aktionen der Gruppe Ztohoven. Die Klage des Schriftstellers Pavel Kohout im Vorwort zu seinem 2008 auf tschechisch erschienenen Buch Von Nichts und von Allem, die Gesellschaft der "Freien und Satten" würde allzu schnell "die Erinnerung und die Instinkte" verlieren, scheint zumindest mit Blick auf Ztohoven unbegründet. Die Künstler beweisen mit ihren Aktionen einen wachen, kritischen Geist und bedienen sich dafür des gleichen Verfahrens, das Kohout als ein im Kommunismus unterdrückter Schriftsteller kennt:
"Im Seminargarten von Strahov beklagte sich Ludvík Vaculík im Gras liegend, wie sehr es ihm fehlte, dass er nicht für die Zeitung schreiben durfte, nicht einmal von der Ankunft des Frühlings, die er jedes Mal für das Ereignis des Jahres hielt. Unter der Eisenbahnbrücke beim Prager Vyšehrad haben er, Ivan Klíma, Alexandr Kliment, Jan Trefulka, Milan Uhde und ich kurz daraufhin vereinbart, dass wir uns der Reihe nach kurze Feuilletontexte mit Durchschlägen schreiben und untereinander per Post zuschicken werden, wie wir sie unter normalen Umständen für die Zeitung schreiben würden, wenn wir das dürften. Diesem Korrespondenzspiel schlossen sich spontan weitere Interessenten an und dadurch stieg fast geometrisch die Anzahl der Autoren und der ihnen nahen Leser, die die erhaltenen Texte mit einer maximalen Anzahl von Durchschlägen für sich abschrieben und sie an weitere Kopisten schickten."
Wie Pavel Kohout im Vorwort zu seinem feuilletonistischen Sammelband Von Nichts und von Allem schildert, entwickelte sich Mitte der 70er Jahre in Tschechien ein paralleler Literaturbetrieb im Untergrund, gegen den das kommunistische Regime kaum etwas tun konnte. Das Autoren- und Leserkollektiv simulierte eine Wirklichkeit, die die herrschenden Verhältnisse unterwanderte, ja sie ad absurdum führte.
Solches Vortäuschen bestimmter Gegebenheiten ist ein traditionelles Verfahren innerhalb der nationalen tschechischen Kultur. Der 1999 verstorbene Bohemist Vladimír Macura wies in seinen Texten schon früh darauf hin, dass sich das kulturelle Selbstbewusstsein der Tschechen einer Reihe von Illusionen, Fiktionen bis hin zu Täuschungen verdankt, die von tschechischen Patrioten im frühen 19. Jahrhundert in Gang gesetzt wurden.
So war jene Ära der tschechischen Geschichte, die als die tschechische nationale Wiedergeburt bezeichnet wird, in Wirklichkeit eine komplette Neugeburt! Eine am Anfang sehr kleine Gruppe junger gebildeter Tschechen imaginierte das Vorhandensein einer Jahrhunderte alten Hochkultur, indem sie wissenschaftliche und literarische Texte in einer hochartifiziellen stilisierten Sprache für eine zunächst nicht vorhandene Leserschaft verfasste. Begreiflich, dass jenen Patrioten das Fehlen von echten Zeugnissen der behaupteten Kulturtradition ein Dorn im Auge war.
Einige von ihnen entschlossen sich deshalb, diesem Zustand abzuhelfen und verfassten selbst angebliche Dokumente, die an verschiedenen Orten als verschollen geglaubte Handschriften auftauchten. Als "Spiele der Mystifikation" bezeichnete das der Bohemist Vladimír Macura:
"Während der tschechischen Wiedergeburt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gediehen diese Spiele besonders gut, weil diese Kultur selbst über lange Zeit hin einem Spiel glich, weil sie selbst in einer Mystifikation gründete, weil sie ihre Normalität, Vollständigkeit, ihr standardisiertes soziales Hinterland nur vortäuschte. Die Fälschungen der Handschriften, speziell der Königinhofer und der Grünberger Handschrift, sind in dieser Flut verschiedenster Falsifikate und Mystifikationen ernsten und heiteren Charakters die bedeutendsten. Sie nämlich stellen den unübersehbaren Versuch dar, der gerade entstehenden modernen tschechischen Kultur eine passendere Vergangenheit vorzuschalten, eine Tradition für sie zu schaffen, die geeigneter war als die, die in Wirklichkeit zur Verfügung stand."
Sowohl die Tradition als auch die Gegenwart, die in Wirklichkeit zur Verfügung standen, mussten die tschechischen Patrioten als äußerst unzureichend empfinden. Das Tschechische war zu jener Zeit eine Sprache der niederen Bildungsschichten, der Bauern und Dienstboten. Wer etwas auf sich hielt, sprach deutsch. Und auch das barocke Schrifttum enthielt nichts, womit sich die nationalen Wiedererwecker identifizieren konnten. Aber die gefälschten mittelalterlichen Handschriften in tschechischer Sprache verfehlten nicht ihre Wirkung. Sie schufen ein ganzes Register von Sujets und Symbolen, die zunächst von der Literatur und anschließend auch von allen anderen Kunstgattungen mit Inbrunst aufgegriffen wurden.
Bis heute schöpft die tschechische Kultur wesentlich aus der Inspiration jener Falsifikate. Das offenbart sich sowohl im Rückgriff auf die darin entfalteten nationalen Themen und Attribute, als auch in der Verinnerlichung des Prinzips der simulierten Wirklichkeit.
Und dieses korrespondiert wiederum mit einer ganz eigenen Liebe der Tschechen zur Wahrheit, die schon auf den tschechischen Reformer und Märtyrer Jan Hus zurückgeht. Sein Motto "Die Wahrheit siegt" prangt bis heute auf der Präsidentenstandarte. Die Relativität ihres Wahrheitsbegriffs nutzte den Tschechen im Verlauf der Geschichte allerdings oftmals dazu, die jeweilige Wirklichkeit nach Wunsch zu interpretieren.
Der 1938 geborene Dichter Jiří Grůša bietet in seiner Gebrauchsanweisung für Tschechien eine plausible Erklärung für die Anpassungsfähigkeit des Wahrheitsbegriffs in seinem Land:
"Das Land ist überschaubar im doppelten Sinne des Wortes. Die Berge zu überqueren ist kinderleicht. Sie bilden keinen Schutzwall. Flüchtig nachgerechnet, verging kein Jahrhundert, ohne dass uns nicht jemand ungeladen einige Male heimgesucht hätte: mit irgendeiner unverständlichen Botschaft, die sich selbst als die allerklarste verstand. Ist es unter diesen Umständen verwunderlich, dass wir auf viele Wahrheiten pochen? Wir hatten auf viele zu schwören."
Wahrheit als zentrale Kategorie erwies sich für das kleine Land, das seinen Nachbarn militärisch immer unterlegen war, als ein Schlüssel zu einer anderen Art von Überlegenheit, nämlich der moralischen: wenn die Wirklichkeit schon einiges zu wünschen übrig ließ, hatte man doch wenigstens die Wahrheit auf seiner Seite und damit die Hoffnung, mit der Zeit auch die Wirklichkeit den eigenen Wünschen anzupassen. Denn die Wahrheit siegt am Schluss immer bei den Tschechen.
So sahen es schon die Hussiten, die mit der Aufschrift Veritas omnia vincit auf den Fahnen ihre oftmals blutrünstigen Kriege gegen den falschen Glauben führten. Ihre Losung übernahmen im 19. Jahrhundert auch die tschechischen Patrioten, da sie sich gut auf die eigenen Bestrebungen übertragen ließ. Und auch der Gründer und erste Staatspräsident der Tschechoslowakei Tomáš Garrigue Masaryk machte den Spruch zu seinem Motto, das seit seiner Regierungszeit als offizielles Bekenntnis der Tschechen sowohl unter den Kommunisten als auch nach ihrem Fall 1989 auf dem Staatswappen verblieb.
Solch eine Wahrheitsliebe, die sich in jede beliebige Gesellschaftsform nahtlos einfügt und sich jedem politischen System problemlos anpasst, verliert mit der Zeit allerdings an Glaubwürdigkeit. Daher musste sie sich in der Demokratie nach der Wende schon so manche Kritik gefallen lassen - so auch vom Historiker Dušan Třeštík:
"Wir Tschechen waren und blieben immer eine ideologische Gesellschaft. Unsere Nation begründete sich viel eher ideologisch als praktisch. Immer gaben wir den Wahrheiten den Vorzug vor der Wirklichkeit, immer wollten wir eher auf einen Schlag von einem Ideal erlöst werden, als dass wir uns heute und täglich mit der aufreibenden Wirklichkeit des Lebens herumschlagen. Für Jene aus dem Westen, die tatsächlich an ihrer ständig verflachenden Wirklichkeit leiden, sind wir begreiflicherweise faszinierend. Ich kann mich aber nicht des Eindrucks erwehren, dass uns Tschechen eher die Wirklichkeit faszinieren sollte, die wir nicht kennen, weil wir ihr immer ausgewichen sind und uns zur Wahrheit geflüchtet haben."
Der 2007 verstorbene Dušan Třeštík war unter den Historikern seines Landes einer, der seine Erkenntnisse überzeugend auch auf die aktuelle Situation übertragen konnte. Obwohl sein Forschungsschwerpunkt in der Zeit des Großmährischen Reiches und der Přemysliden-Herrscher, also im Frühmittelalter lag, befasste er sich nach der Wende gerne mit jenen Themen, die für die Zukunft der Tschechen von drängender Relevanz waren, wie die Frage der nationalen Identität, des Umgangs mit Ideologien und der Beziehung zu den deutschen Nachbarn sowie der Europäischen Union. Dabei konfrontierte er seine Landsleute häufig mit unliebsamen Einsichten.
So führte er ihnen vor Augen, dass es keineswegs nur eine Wahrheit, sondern deren viele mögliche gibt und dass sie folglich keinen Anspruch auf die einzig gültige haben können. Besonders groß war der Aufschrei aber, als Třeštík 1994 erklärte, die Tschechen seien als Nation erst im 19. Jahrhundert von tschechischen Intellektuellen erfunden worden und seine Mitbürger dazu aufforderte, sich nach dem Zusammenbruch aller politischen Ideologien als eine demokratische tschechische Gesellschaft erneut selbst zu erfinden - und zwar ohne sich dabei wie bislang liebgewonnener Illusionen und Täuschungen zu bedienen.
Auf die Entrüstung, die ihm daraufhin entgegenschlug, reagierte Třeštík mit der ihm eigenen Polemik:
"Die Nation suchen wir uns doch nicht aus, sie ist da und wir werden hineingeboren, sie muss also immer schon da gewesen sein. Die Vertreter der Wiedergeburt konnten sie nicht erfinden, jeder weiß doch, dass sie sie nur aus ihrem Schlaf erweckten, in den sie wegen ungünstiger Umstände gefallen war. Das ist genau so offensichtlich, wie dass sich die Sonne um die Erde dreht. Jeder kann es sehen, wie sie im Osten aufgeht und in einem schönen Bogen über den Himmel gen Westen wandert. Nur Verrückte und Provokateure können behaupten, dass im Gegenteil wir uns zusammen mit Mütterchen Erde drehen und dass die Sonne auf der Stelle steht."
Dass sogar viele historisch aufgeklärte Tschechen Třeštíks Thesen als Provokation empfanden, offenbart die Kraft jener Mythen, die ihrer nationalen Identität zugrunde liegen. Es ist begreiflich, dass das kulturelle Selbstbewusstsein durch die Infragestellung dieser Mythen erschüttert wird. Allerdings machte Třeštík in seinen Texten immer deutlich, dass er keineswegs die Existenz der tschechischen Nation in Zweifel ziehen wollte, sondern lediglich empfahl, sie neu zu definieren. Das freilich hätte es erfordert, sich von alten Ängsten und vom Misstrauen gegenüber der Wirklichkeit freizumachen. Nur so ließe sich ein nationales Selbstverständnis entwickeln, das ohne Illusionen und Täuschungen auskäme.
Andererseits ist das Ersinnen virtueller Welten seit dem 19. Jahrhundert ein fester Bestandteil der tschechischen Kunst. Das Faible der Tschechen für nur Erdachtes hat sich ins kulturelle Gedächtnis des Landes eingeprägt und ist somit auch eine Wirklichkeit geworden, die sich nicht so einfach wegdiskutieren lässt. Diesem Umstand verdanken die Tschechen immerhin ihr Künstlertum, mit dem man sie auch im Ausland identifiziert:
"Wenn die Tschechen seit jeher mit irgendetwas ins Bewusstsein der anderen Völker Eingang finden, dann entschieden eher als mit Eroberungen ihrer Politiker oder Heerführer mit den Leistungen ihrer Musiker, Architekten, Maler und anderer Künstler, wie auch - ich betone - ihrer aufgeklärten Mäzene, allen voran Karl IV."
Der Schriftsteller Pavel Kohout stellt treffend fest, dass in seinem Land die Politik für die Menschen nie eine allzu große Rolle gespielt hat - zu leidvoll waren die Erfahrungen, die man damit über Jahrhunderte hinweg gemacht hatte, zu marginal erschien im internationalen Rahmen die eigene politische Bedeutung. So kam es, dass bei den Tschechen die Kultur der Politik den Rang ablief. Denn darin konnten die Tschechen andere Nationen leicht überstrahlen. Der künstlerischen Phantasie wurden keine Grenzen gesetzt. Sie konnte sich frei entfalten und bot mit der Zeit einen hervorragenden Ersatz für die Unzulänglichkeit der gesellschaftlichen Realität. Die tschechische Literatur wählte als Sujet oft das kleine, zufällige Ereignis, die beiläufige Geschichte, präsentierte sie oft anekdotisch und verlieh ihr so vermeintliche Bedeutsamkeit. Der passende Ort für das Ersinnen solcher Geschichten war und ist das böhmische Wirtshaus, die hospoda. Wie dort Literatur entsteht, erklärt der Schriftsteller Jiří Grůša in seiner Gebrauchsanweisung für Tschechien:
"Richtig dosiert und in Č-moll moduliert, hält unsere tschechische Sprache Leib und Seele zusammen. In einer Hospoda wird sie mit Vorliebe benutzt, schöpferisch wird hier die Welt mit Worten geflickt. Ausgebessert, nicht besser gemacht. Angefertigt, nicht fertiggemacht.
Nach- und besser erzählt, als wäre sie nichts weiter als eine unendliche Anekdote, eine Kette, ein Rosenkranz aus příhodas."
Dem Wort příhoda entspricht im Deutschen am ehesten der Begriff "Begebenheit", etwas das zufällig passiert, oder auch nicht - diese Möglichkeit jedenfalls ist im tschechischen Wort enthalten, denn příhodas können auch frei erfunden sein. Das erzählerische Weltausbessern mit einem "Rosenkranz aus příhodas" - wie es Jiří Grůša beschreibt - kennen Viele von der genial erdichteten Figur des braven Soldaten Schwejk von Jaroslav Hašek.
Ein Meister des schöpferischen Schwafelns war auch der Schriftsteller Bohumil Hrabal. Er prägte dafür den Ausdruck pábení, den man als babbeln, bafeln oder fabulieren, übersetzen kann. Indem der Bafler sich die Welt mit seinen Worten zurechtfabuliert, kann er auf die Wirklichkeit getrost verzichten. Sein Fabulieren ist Flucht, oft auch Ausflucht und funktioniert im Leben wie in der Kunst gleichermaßen.
Bohumil Hrabals eigenes Leben und Schaffen taugt dafür als bestes Beispiel. Sowohl seine Wirtshausbesuche als auch sein Schreiben waren für ihn gewissermaßen eine Therapie, die ihn lange davor bewahrte, an der Wirklichkeit zu zerbrechen, an der er zutiefst litt. Zum Helden oder gar Märtyrer war er nicht geboren. So beugte er sich Mitte der 70er Jahre dem kommunistischen Regime und veröffentlichte in einer Zeitschrift eine Selbstkritik, die es ihm ermöglichte weiter zu publizieren. Freilich wurde ihm das von vielen Landsleuten übelgenommen: Von einem so bedeutenden Schriftsteller wie ihm hatte man mehr Mut erwartet. Doch Hrabal war nicht stark. Oft hat er in seinen autobiografisch gefärbten Romanen und Erzählungen das Thema Freitod in Betracht gezogen, zuletzt in dem 1989 verfassten Text Die Zauberflöte, den er als lyrische Reportage bezeichnete:
"So oft wollte ich aus dem Fenster meines fünften Stockes springen, nicht wegen dem, was ich erzählt habe, sondern weil ich so lange zusehen musste, wie meine Pipsi starb, meine Frau, als ich dann aber las, dass Franz Kafka aus dem fünften Stock hatte springen wollen, dort wo er gewohnt hatte, in der Maison Oppelt, einer Weingroßhandlung, in der unter dem Altstädter Ring an die siebenhunderttausend Flaschen kostbarer Weine gelagert waren, als ich las, dass auch Malte Laurids Brigge in Paris im fünften Stock gewohnt hatte, als ich das von diesen Stockwerken erfuhr, da verschob ich meinen Sprung aus dem Fenster ..."
Der zweiundachtzigjährige Bohumil Hrabal starb im Jahr 1997 bei einem Sturz aus dem Fenster des fünften Stockwerks einer Prager Klinik, wo er in Behandlung war. Entgegen der offiziellen Verlautbarung, wonach er beim Taubenfüttern das Gleichgewicht verlor und hinunterfiel, gehen viele Kollegen und Menschen, die Hrabal gut kannten, davon aus, dass er den Freitod wählte, den er so oft zuvor schon in seinen literarischen Werken erwogen hatte. Hrabals Tod war ein Ereignis, in dem Fiktion und Wirklichkeit auf symptomatische Weise miteinander verschmolzen. Die Wahrheit darüber, wie es zu dem Sturz wirklich kam, wird man nicht mehr erfahren können. Doch macht das einen Unterschied? Was bleibt, ist die überragende Bedeutung von Hrabals literarischem Werk - unabhängig von den Umständen seines Todes.
Dass die Sichtweise eines bestimmten Sachverhaltes zuweilen die Tatsachen bedeutungslos erscheinen lassen kann, das hatte schon Jaroslav Hašek gewusst. In den Abenteuern seines Soldaten Schwejk führte er dieses Leitmotiv immer wieder exemplarisch vor. Zum Beispiel in der Episode von Schwejks Aufenthalt in einem Militärkrankenhaus, wo Simulanten mit diversen therapeutischen Foltermethoden kuriert werden. Als Schwejk seinen Mitpatienten, worunter sich sowohl simulierende als auch echte Kranke befinden, den Grund seiner Einweisung verrät, nämlich lediglich einen Rheumatismus - da kann sich selbst der sterbende Schwindsüchtige im Nachbarbett das Lachen nicht verkneifen. Die Welt ist eben so, wie sie einem scheinen mag. Die Wirklichkeit spielt da oftmals keine entscheidende Rolle.
Und das Fabulieren ist im Vergleich zu den ideologisch verbrämten "Die Wahrheit siegt"-Rufen auf jeden Fall die sympathischere Strategie, sich der freudlosen Realität zu entziehen.
Auch während der Zeit des Kommunismus war die Kunst des Geschichtenerfindens für Viele ein gangbarer Weg durchs Leben. So ersannen sich die Tschechen noch einen Helden, der ihnen als moralische Stütze mehr zu bieten hatte als Hašeks Schwejk. Das Universalgenie Jára Cimrman hatte als Künstler und Wissenschaftler wahrhaft Bedeutendes geleistet:
So korrespondierte er mit Albert Einstein und Sigmund Freud, außerdem erfand er die Glühbirne, das Luftschiff, den Joghurt und die CD und riet den Amerikanern zum Projekt des Panamakanals. Auf seiner Internetseite erfährt man noch in einem Text aus dem Jahr 2003 über diese beeindruckende Persönlichkeit:
"Auch heuer ist es 120 Jahre her, seit Jára Cimrman geboren wurde. Dank des Matrikelführers der IV. Wiener Pfarrgemeinde Franz Huschka, der die meisten Einträge im Zustand völliger Trunkenheit ausführte, kann man bis heute nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob dem Ehepaar Marlen und Leopold Cimrman in einer frostigen Februarnacht des Jahres 1856, 1864, 1868 oder 1883 ein Sohn geboren wurde. Die unsichere Schrift des Matrikelführers lässt auch das Jahr 1884 zu. Also werden es auch im nächsten Jahr 120 Jahre sein, seit Jára Cimrman geboren wurde. Seine Spuren finden wir in unzähligen Ländern so gut wie aller Erdkontinente. In Böhmen erzielt sein Lebenswerk seinen Gipfelpunkt. Als fahrender Dentist durchschreitet er wohl jeden Winkel unserer Heimat. Das tschechische Volk öffnet bereitwillig seine Münder und vertraut ihm all seine Sorgen und Nöte. Daraus schöpft Cimrman dann den Stoff für seine unsterblichen Schauspiele. Es sind Dramen von einer künstlerischen Kraft, dass sie von den Zeitgenossen nicht verstanden werden konnten. Als sie nach vielen Jahrzehnten auf der Bühne erstrahlten, begann eine ganze Reihe von Literaturwissenschaftlern Cimrmans Existenz anzuzweifeln und bezeichnete sein Werk als eine Fälschung, ähnlich den Fälschungen der Grünberger und der Königinhofer Handschrift."
Als im Jahr 2005 das tschechische Fernsehen über den größten Tschechen der Geschichte abstimmen ließ, erreichte Jára Cimrman einen Spitzenplatz. Allerdings wurde er disqualifiziert, da nach den geltenden Regeln fiktive Persönlichkeiten von der Abstimmung ausgeschlossen waren. Diese Entscheidung empörte viele Tschechen und das Fernsehen sah sich genötigt, Cimrman wenigstens einen Sonderpreis zuzuerkennen.
Die Idee, eine fiktive Figur zum größten Nationalhelden zu erklären, zeigt, dass der Hang zur Virtualität bei den Tschechen auch eine selbstironische Komponente hat. Nach der Wende im Jahr 1989 wurde diese Fähigkeit, über sich selbst lachen zu können, allerdings auch schon einige Male auf eine harte Probe gestellt - wie beispielsweise in den Aktionen der Künstlergruppe Ztohoven. Noch schonungsloser gingen zwei Absolventen der Prager Filmakademie im Jahr 2003 mit ihren Mitbürgern um: in einer beispiellosen Werbekampagne kündigten sie quer durch alle Medien die Neueröffnung eines Hypermarktes mit dem bezeichnenden Namen "Der Tschechische Traum" an.
Als die Tschechen dann am Tag der Eröffnung zu Tausenden an den Ort des Geschehens pilgerten, war dort lediglich die Kulisse eines Hypermarktes aufgestellt. Die Reaktionen der Menschen waren durchaus nicht nur positiv, Vielen ging dieses Spiel entschieden zu weit. Bis zur Wende hatten sich die Mystifikationen, Täuschungen und virtuellen Spiele der Tschechen ja meistens gegen die herrschenden Systeme gewandt, die die Wirklichkeit regierten.
Erst in den vergangenen 20 Jahren der Demokratie gerät immer stärker die tschechische Bevölkerung selbst in den Fokus solcher Aktionen - und muss das aushalten. Immerhin haben auf die Werbekampagne "Der Tschechische Traum" auch viele Menschen mit Humor reagiert und so ihr Verständnis für das virtuelle Spiel bewiesen - auch wenn sie darin diesmal die Gefoppten waren.
In genau diesem Sinn für all Jenes, was nicht mit der nackten Realität zu tun hat, sondern ganz andere Wirklichkeitsebenen offenbart, liegt nach wie vor eine besondere Qualität der Tschechen. Und so mutet der Schluss von Ingeborg Bachmanns Gedicht Böhmen liegt am Meer, das sie 1964 anlässlich ihrer Prag-Reise schrieb, wie ein Plädoyer an die Tschechen an, sich diese Fähigkeit zu bewahren:
"Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe / unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser / und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen Und die zum Weinen sind. " Und irrt euch hundertmal, / wie ich mich irrte und Proben nie bestand, / doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal. Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags / Zum Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt. Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land, / ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr, ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält, / begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen."