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Böttcher: Verstehen wie Wissenschaft funktioniert

Die Meteorologin Marvie Heller ist die Protagonistin des Buches. Es geht um eine Wetterformel, durch die Hellers Schreckliches feststellt. So wird im Laufe des Romans Hamburg von einer Überschwemmung heimgesucht, die alle bisherigen Fluten übertrifft. Neben Spannung will Autor Sven Böttcher dem Leser auch die Wissenschaft näher bringen.

Von Florian Felix Weyh | 26.07.2011
    Es regnet ohne Unterlass. Die Menschen in Nordeuropa denken sich wenig dabei, denn so ungewöhnlich ist das für ihre Breitengrade nicht; genauso wenig wie die Dürre auf der Südhalbkugel. Mavie Heller bekommt von beidem nichts mit. Die junge Meteorologin hat das große Los gezogen und tritt eine Stelle auf Mallorca an. Das dortige renommierte Klimaforschungsinstitut wird freilich von privaten Investoren betrieben und befleißigt sich einer Abschottungs- und Sicherheitspolitik, wie man es sonst nur von Atomkraftwerken her kennt. Mavie Heller wundert sich, doch nicht lange, denn von wissenschaftlicher Neugier verführt, verschafft sie sich Zugang zu den verbotenen Speicherarealen des Institutsrechners. Dort entdeckt sie etwas für Laien Unverständliches, für sie selbst aber höchst Erschreckendes: eine Formel.

    "Gerade Klimawissenschaftler arbeiten mit Formeln, in denen viele Variablen, viele Parameter sind, die man ein Stück nach links oder rechts drehen kann. Und da wir relativ wenig empirische Daten haben, kommen aus diesen komplizierten Formeln dann irgendwelche Prognosewerte raus, die ja stark schwanken. Wenn jemand sagt, es gibt Formel für Klima, das ist glatt gelogen! Wir haben überhaupt keine Ahnung, wie die Dinge zusammenhängen, wir verfügen nicht annähernd über genug Informationen, um eine Prognose machen zu können."

    Erklärt Autor Sven Böttcher, was ihn aber nicht davon abhielt, eben dies zum Ausgangspunkt einer brisanten Gedankenspielerei zu machen: Was wäre eigentlich, wenn wir das Klima in einer Präzision berechnen könnten, die uns für jeden Tag der näheren Zukunft und jeden Ort der Welt die Wettervorhersage lieferte? Genau solch ein mächtiges mathematisches Instrument entdeckt Mavie Heller, bevor sie wegen des Bruchs der Regeln aus dem Institut herausfliegt. Draußen treibt sie die entscheidende Frage um: Ist ihr erschreckender Fund eine Prognose oder eine Prophezeiung? Prognosen, das wissen wir alle, weisen eine große Unschärfe auf. Prognostizierte Wahlsieger können am Ende auf der Oppositionsbank landen, prognostizierte Schönwettersommer im Nieselregen untergehen. Prophezeiungen erheben dagegen den Anspruch einzutreffen, und Sven Böttchers wissenschaftlich unterlegte Spannungsliteratur trägt letzteren Titel: "Prophezeiung". Zunächst enthält das Buch alles, was man von der Gattung erwartet: eine Welt am Abgrund, eine starke Heldin, sinistre Verschwörer, farbige Außenseiterfiguren und einen beunruhigenden Plot. Mit dem Wissen Mavie Hellers um die Wetterformel erscheint der Dauerregen in Nordeuropa nämlich nicht länger als bloß ärgerliche Banalität, sondern als Anbruch einer Zeitenwende, die mindestens einer halben Milliarde Menschen das Leben kosten wird. Nicht erst in 50 oder 100 Jahren, wie wir heute großzügig kalkulieren - Klimafolgen liegen ja in weiter Ferne -, sondern binnen kurzer Zeit. Noch während der Romanhandlung wird Hamburg von einer Überschwemmung heimgesucht, die alle bisherigen Fluten übertrifft. Eine radikale Ökoaktivistengruppe in Mecklenburg beschwört durch perfekt gemachte Youtube-Videos weltweite Panik herauf und hofft auf politische Umstürze, während sich Mavie Heller, ihr Vater und ihr Freund im Kampf um öffentliche Wahrnehmung der Unterstützung eines skurrilen Prominenten versichern. Versierte Leser denken schon bei dessen erstem Auftritt an den britischen Autor und Schauspieler Stephen Fry.

    "Stephen Fry, sehr schöne Idee! Doch ehrlich, also Stephen Fry könnte das gut spielen. Der hat ja auch ausreichend bösen Humor, die Sätze von Milett sind ja doch find ich teilweise verblüffende Granaten. "

    Kommentiert Sven Böttcher die Äußerungen seiner eigenen Figur Leland Milett, eines Doppelnobelpreisträgers für Literatur und für Frieden, der schon ob dieser Kombination kaum in einem amerikanischen Thriller vorkommen würde. Mit spitzer Feder gezeichnet, ist der dandyhafte Vorkämpfer der Anti-CO2-Bewegung einer der Gründe, warum Böttchers Spannungsliteratur die Genregrenzen zwischen Thriller und allgemeiner Belletristik überschreitet.

    "Es gab diese Diskussion im Verlag. Ich hab gesagt, ich möchte, dass da Roman draufsteht und nicht Thriller, und hab nachvollziehen können, warum jetzt Thriller draufsteht. Die Frauen im Verlag, die sehr für dieses Buch sich eingesetzt haben, haben gesagt: 'Nein, wir schreiben da Thriller drauf!' Eine Welt am Abgrund, eine starke Heldin, sinistre Verschwörer, farbige Außenseiterfiguren und einen beunruhigenden Plot. Mit dem Wissen Mavie Hellers um die Wetterformel erscheint der Dauerregen in Nordeuropa nämlich nicht länger als bloß ärgerliche Banalität, sondern als Anbruch einer Zeitenwende, die mindestens einer halben Milliarde Menschen das Leben kosten wird. Nicht erst in 50 oder 100 Jahren, wie wir heute großzügig kalkulieren - Klimafolgen liegen ja in weiter Ferne -, sondern binnen kurzer Zeit. Noch während der Romanhandlung wird Hamburg von einer Überschwemmung heimgesucht, die alle bisherigen Fluten übertrifft. Eine radikale Ökoaktivistengruppe in Mecklenburg beschwört durch perfekt gemachte Youtube-Videos weltweite Panik herauf und hofft auf politische Umstürze, während sich Mavie Heller, ihr Vater und ihr Freund im Kampf um öffentliche Wahrnehmung der Unterstützung eines skurrilen Prominenten versichern. Versierte Leser denken schon bei dessen erstem Auftritt an den britischen Autor und Schauspieler Stephen Fry. Es führt die richtigen Leute an dieses Buch." Sonst heißt es nur Roman, und Roman heißt Literatur! Das heißt dann in diesem Fall vielleicht Esoterik, vielleicht aber auch Bauchnabelumkreisung über 400 Seiten. Das wär dann aber auch falsch."

    Denn natürlich lässt es sich der Autor der "Prophezeiung" nicht nehmen, virtuos mit allen Versatzstücken des Genres zu spielen: Es gibt Bombenattentate und Tote, klassische Cliffhanger in der Handlung und dramatische Wendungen zuhauf. Doch Sven Böttcher entwirft psychologisch stimmige Figuren, die das Thrillerpersonal amerikanischer Provinz weit überragen, und die Dialoge des versierten Drehbuchschreibers sind geschliffener als in der Gattung gemeinhin üblich. Allerdings hat der Autor seine geistige Nahrung auch nicht für raschen Verzehr bestimmt, denn die Untergattung des Wissenschaftsthrillers will neben Unterhaltung immer auch Informationen liefern:

    "Die Menschen da draußen - in Anführungsstrichen - müssten ja verstehen, wie Wissenschaft eigentlich funktioniert! Und die Politiker müssen's auch verstehen. Wenn jemand sagt - der Mann heißt Obama - "The science is settled", also die wissenschaftliche Diskussion ist im Grunde beendet, dann versteht er gar nicht, worum es geht! Weil Wissenschaft ist nie "settled", das ist das Wesen von Wissenschaft. Dass man sagt: Wissenschaft versucht zu falsifizieren. Jedes Experiment ist dazu da, etwas zu widerlegen, was wir bisher glauben. Und wenn wir nur noch Wissenschaft betreiben, um das zu belegen, was wir gerne glauben möchten, dann hat das mit Wissenschaft überhaupt nichts mehr zu tun."

    Die Weltrettung funktioniert bei Sven Böttcher denn auch anders als in einem Hollywoodfilm. Zwar kommt die Wissenschaft - nicht erfunden - auf die mögliche Lösung, in der Erdatmosphäre eine planetare Abkühlung mittels Atombomben auf Vulkane zu erzeugen - wie erinnern uns noch gut an die isländischen Aschewolken vom vergangenen Jahr -, doch das ist natürlich unpraktikabel. Die Abwendung der Katastrophe liegt, ganz akademisch, hinter den Begriffen von Koinzidenz und Kausalität versteckt, in der semantischen Differenz zwischen Prognose und Prophezeiung: Nicht alles, was ein Großrechner auswirft, gleicht einem alttestamentarischen Gotteswort, und das allein ist eine beachtenswerte Botschaft für alle Computersimulationsgläubigen. En passant hat man nach 400 Seiten einen geschickt verpackten Exkurs über die Klimaproblematik absolviert und sich dabei keine Minute gelangweilt. Das ist Science-Fiction im ursprünglichen Sinne und im Jahr Fukushima wegweisend: Bücher, die naturwissenschaftliches Fundamentalwissen unangestrengt vermitteln, sind notwendiger denn je.

    Sven Böttcher: "Prophezeiung", Kiepenheuer&Witsch, 448 Seiten, 19,95 Euro