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Bogdan Wojdowskis: "Brot für die Toten"
Das Überleben als Pein

"Brot für die Toten" ist Bogdan Wojdowskis Vermächtnis, ein großer Roman über das Warschauer Ghetto, das er nur knapp überlebte. 1971 im polnischen Original erschienen, wurde er hierzulande kaum zur Kenntnis genommen. Nun ist er als erster Band der "Bibliothek der polnischen Holocaustliteratur" im Wallstein Verlag herausgekommen.

Von Martin Sander | 24.06.2021
Straßenszene im Warschauer Ghetto und das Buchcover von Bogdan Wojdowski: „Brot für die Toten“
Ein Holocaust-Roman mit philosophischer Dimension (Foto: IMAGO / ITAR-TASS, Buchcover: Wallstein Verlag)
Es ist ein editorisches Vorhaben von beträchtlichem Umfang. Für seine "Bibliothek der polnischen Holocaustliteratur" plant der Wallstein Verlag zehn Bände in den nächsten fünf Jahren. Das Konzept, die Auswahl der Titel und Übersetzungen, auch die Kommentare steuert eine Arbeitsgruppe der Universität Gießen bei. Man wolle eine Lücke im historischen und literarischen Wissen der Deutschen über Polen schließen. Man wolle darüber informieren, wie polnische Nachkriegsautorinnen- und Autoren über die künstlerische Verarbeitung des Holocaust diskutierten und welche Wege sie dabei einschlugen, sagt Lothar Quinkenstein von der Gießener Arbeitsgruppe.
"Wichtig ist, dass das eine Debatte war, die geführt wurde mit dem Wissen, dass das, was die polnische Literatur aus dem 19. Jahrhundert überliefert hat, nicht mehr in der Lage ist, das zu beschreiben, dass man mit diesen martyrologischen Mustern diesen Verwüstungen und auch diesem Leiden nicht mehr gerecht wird, dass man eine Überhöhung schafft, die letztlich falsch ist und unangemessen angesichts dieser Realität."
Diese Debatte begann bereits bald nach Kriegsende unter bedeutenden polnischen Autorinnen- und Autoren jüdischer und nichtjüdischer Herkunft, deren Namen hierzulande bis heute überwiegend unbekannt blieben.

Editorische Meisterleistung

"Was dann dabei sich ausgeformt hat, ist die sogenannte dokumentarische und authentische Prosa. Also man wollte belletristische Literatur schaffen, man wollte mit dieser Literatur aber so nah wie möglich am realen Geschehen bleiben. Man wollte explizit nicht ein Dokument verfassen, sondern das sollte eine belletristische Literatur sein mit großer Nähe zu den Geschehnissen. Bogdan Wojdowskis Roman 'Brot für die Toten' ist wirklich ein prägnantes und ganz prominentes Beispiel dieser Art von Literatur." [*]
Der Roman, der die Bibliothek der polnischen Holocaust-Literatur eröffnet, enthält Fiktion mit engem autobiographischem Bezug. Bogdan Wojdowski, geboren 1930 in Warschau, hat als Kind zwei Jahre lang im Warschauer Ghetto zugebracht. Nach zahlreichen literarischen Annäherungen an das Thema erschien 1971 sein Opus Magnum: "Brot für die Toten" schildert auf vierhundertzwanzig Seiten (in deutscher Übersetzung) das Leben auf einem zentralen Terrain des deutschen Judenmords. Das Warschauer Ghetto umfasste nur etwa drei Quadratkilometer. Doch dort lebten zeitweilig über 400.000 Juden aus Warschau, Polen und Europa, ihrem Schicksal überlassen, ausgehungert, bevor die Deutschen sie in die Vernichtungslager deportieren ließen. Im Herbst 1940, als die Ghettomauern emporwachsen, können sich viele der Protagonisten nicht vorstellen, was ihnen bevorsteht.
"Professor Baum, im offenen Mantel, tippte mit dem Finger auf die Zeitung und las laut vor. 'So ein Hund!' Der Hund hieß Auerswald, war deutscher Stadtkommandant, gab Verordnungen heraus, Brotkarten, ließ Leute hängen oder siedelte sie um. Er fuhr mit dem Auto durch die Straßen und sah zu, wie die Maurer die Mauer bauten. Professor Baum breitete ratlos die Arme aus, riss ein Stück von der Zeitung ab. Das ginge ihm nicht in den Kopf. Wer hätte noch vor einem Jahr so etwas für möglich gehalten? Was sollte das denn werden? Der Turm zu Babel? Wunder über Wunder… Nein, nein er würde eine solche Obrigkeit nicht anerkennen. Er warf die Zeitung auf die Erde, trampelte darauf herum. ´Ehe sie alle umgesiedelt haben, wird der Krieg zum Glück zu Ende sein!´"

Hoffnung auf Madagaskar

1940 hofft man im Warschauer Ghetto: Die Alliierten könnten die Deutschen in kurzer Zeit niederringen und die Juden befreien. Im schlimmsten Fall drohe eine Abschiebung nach Madagaskar. Vor dem Krieg hatten unterschiedliche europäische Politiker die afrikanische Insel als jüdisches Siedlungsgebiet ins Gespräch gebracht. Einige Vertreter des Zionismus gaben sich interessiert. So kursierte Madagaskar im Ghetto als Hoffnungswort für die Eingesperrten. Doch sehr bald ist im Ghetto der Holocaust Realität.
"Die entblößten Skelette klapperten mit Blechbüchsen und stellten den Vorübergehenden keifend die Beine. Sie verfaulten in der Sonne. Auf die nässenden Wunden setzten sich violette Fliegen. Die Menschen verwandelten sich hier noch zu Lebzeiten in Aas. Es saugte von innen her an ihnen. David wußte: Das war der Hunger."
David, die Hauptperson, ist das Alter Ego des Erzählers Bogdan Wojdowski: Sohn eines Tapezierers, Spross einer gläubigen, unpolitischen, schicksalsergebenen Familie, die offenen Widerstand verwirft. Der heranwachsende David und seine Freunde übernehmen die Versorgung ihrer Angehörigen. Immer wieder kriechen sie unter Lebensgefahr durch schmale Mauerdurchlässe auf die sogenannte "arische" Seite Warschaus, um Nahrung zu besorgen. Oder sie begeben sich mit der Zange in der Hand zu den Massengräbern des Ghettos und entreißen den Leichen das Zahngold, um es zu verhökern. Mit David und seinen Freunden durchmisst der Leser die Hölle des Ghettos und lernt ihre Bewohner kennen, Kaufleute und Bettler, Prostituierte, Künstler und Geistliche, Ordnungskräfte und Gauner. Die Eltern empört Davids Lebenswandel. Sie prügeln ihn, weil er ihnen zwar hilft, dabei aber ethische Grenzen überschreitet – auf der Suche nach einem Ausweg in einer ausweglosen Lage. Das Überleben wird für David zur Pein.
"Immer, wenn er auf der anderen Seite ist, kauft er sich ein halbes Pfund Brot extra und ißt es allein auf, (…) beschämt kaut er die Bissen, die Augen geschlossen und sich der sündigen Lust hingebend, den Bauch zu füllen. Dabei könnte er alles nachhause tragen, er könnte die Zähne zusammenbeißen und der Versuchung widerstehen – ja, aber wenn er an den bevorstehenden Heimweg denkt, sagt eine Stimme nachsichtig: Schlag dir doch den Bauch voll, es ist das letzte Mal."

"Vergiss, dass du Jude bist"

Wojdowskis Erzähler spiegelt die Außen- und Innenwelten seiner Protagonisten mit erbarmungsloser Genauigkeit. Zugleich verleiht er seinem Roman eine philosophische Dimension. Die Figuren diskutieren über den Sinn ihrer Vernichtung. Motive des Alten Testaments sind allgegenwärtig. Und wenn der Großvater, ein Rabbiner, David am Ende auffordert, seine Familie zu verlassen und aus dem Ghetto zu fliehen, argumentiert er theologisch: Man darf seine Herkunft verleugnen, wenn es dadurch gelingt, die Seele zu retten.
"´David, vergiss, dass du Jude bist. Wenn man leben will, muß man es vergessen. Hörst du mich, David? Lebe… Lebe wie ein tollwütiger Hund, jage über die Felder, fernab von den Menschen, aber lebe! Du darfst vor nichts und keinem Angst haben. Wer Angst hat, hat ausgespielt. Wer Angst hat, verliert den Kopf. Fliehe und lebe!´"
David folgt der Aufforderung des Großvaters, flieht und überlebt mit falscher Identität auf der "arischen" Seite, ebenso wie der Autor Bogdan Wojdowski, der ursprünglich auch David hieß. Sein Roman endet im Spätsommer 1942, als die Deutschen die sogenannte Große Aktion abschließen, bei der über 250.00 Juden, darunter die Angehörigen Davids, ins Vernichtungslager deportiert worden sind. In einer der letzten Szenen lässt der Erzähler die Deutschen im Ghetto zu Wort kommen, brutale Täter, die sich als harmlos-witzige Beobachter geben, nachdem sie die Juden zum Umschlagplatz getrieben haben, von wo die Züge ins Vernichtungslager Treblinka rollen.
"Der Gendarm sah sich verstohlen um, hob ein Handtuch und drehte es in den Händen.
´Komisch, was? Woran die Menschen so denken, wenn sie in den Tod gehen. Und es war kein einziger Schuß nötig.´
´Jaja´sagte ein anderer lachend, ´in zwei Stunden fährt die ganze Bagage … nach Madagaskar!´
´Und fertig ist die Laube.´"
Nicht nur an dieser Stelle verschlägt es einem bei der Lektüre dieses Buches die Sprache. In Polen wurde Wojdowskis Rang als Autor von der Kritik erkannt. Ein großer Erfolg beim Publikum war ihm dennoch nicht beschieden. Er war Anfeindungen ausgesetzt, litt unter Depressionen und nahm sich 1994 in Warschau das Leben - am 61. Jahrestag des Ghettoaufstands. So wurde "Brot für die Toten" zu Wojdowskis Vermächtnis. Man sollte es zur Kenntnis nehmen.

[*] Anmerkung der Redaktion: Anders als es zunächst im Teaser hieß, handelt es sich nicht um die Erstübersetzung ins Deutsche. Den Fehler haben wir korrigiert. Der Roman erschien 1971 im polnischen Original und 1974 im Ostberliner Verlag "Volk und Welt".

Bogdan Wojdowski: "Brot für die Toten". Roman
aus dem Polnischen von Henryk Bereska
mit einem Nachwort von Lothar Quinkenstein
Wallstein Verlag, Göttingen. 462 Seiten, 24 Euro.