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Boheme -Szenen aus dem Pariser Leben

"Hier sei erzählt, wie der Zufall, den die Skeptiker den Geschäfts-führer des lieben Gottes nennen, einige Individuen zusammenbrachte. Ihr Bund bildete einen Teil jener Boheme, mit dem der Verfasser das Publikum bekannt zu machen versucht. "

Katharina Rutschky |
    Mit diesem Satz im hyperbolischen Stil »der den Leser weitere 374 Seiten mehr »minder begleiten wird, fängt das Buch an, das unter dem Titel der Puccini-Oper von 1B96 mehrfach übersetzt und verbreitet worden ist. Ehe diese Oper das französische Fremdwort bei uns einbür-gerte, sprach man in deutschen Landen vom "Zigeunerleben" statt von der Boheme. Man verstand darunter ein Leben ohne festen Wohnsitz, ohne Gesetz und Planung -die vollkommene Alternative mit andren Worten , zur bürgerlichen Verantwortlichkeit. Gar nicht wenig trug zu ihrer phantas-magorischen Anziehungskraft die sexuelle Libertinage bei, Verhältnisse, in denen schöne Frauen nicht geheiratet werden wollten.

    Nein, Spaß woll-ten sie haben und der Stimme ihres Herzens folgen, so lange diese Stimme zu hören war. Dann zogen sie weiter -vielleicht dahin, wo statt der Liebe seidene Kleider, Kutschen und anderer Luxus sie amüsierten, bis zu dem Tag, wo wieder eine große Liebe auftauchte. Die Männer der Boheme dagegen sind Künstler, Maler, Musiker, Dichter. Gehen die schönen Frauen am Widerspruch ihres Verlangens - hie Luxus, da Liebe und Tuber-kulose - irgendwann zugrunde, so haben die Männer der Boheme die Idee, mit einem großen Werk von kompromissloser Natur zu Ruhm und Geld zu gelangen. Die Künstler verachten die Bourgeoisie, wollen aber mit ihrem Wirken und ihren Werken von eben dieser Bourgeoisie auch akzeptiert werden. Die einen enden in der Anonymität des Leichenschauhauses, in einer Übersetzung aus dem Jahr 1923 wieder zugänglich gemacht hat.

    Das gute Feuilleton lebt vom Witz und vom Stil, von der Beobachtungsgabe und der Neugier des Autors, der für den Tag schreibt. Der Erfolg seiner in der Boheme Feuilletons über anständige, interessante , ja, freie Menschen/beim bürgerlich gefesselten und sehnsüchtigen Lesepublikum verführte Murger zuerst zum Verfassen eines ungemein erfolgreichen Theaterstücks. Da-nach konnte er sich ein Haus bei Fontainebleau und das bürgerliche Leben leisten, das ihm wohl immer vorgeschwebt hatte. Er war erst 29 Jahre alt, als seine Skizzen über die Boheme in der Buchform erschienen, die . vielfach übersetzt und illustriert die Träume des Bürgertums bis heute anheizen. Der Künstler bei Murger ist vermutlich der erste, der den Anspruch auf Selbstverwirklichung mit dem ebenso strengen An-spruch auf gesellschaftliche Anerkennung verbindet. Einer Umfrage habe ich entnommen, dass jeder vierte Jugendliche heute einen künstlerischen Beruf ergreifen wollte - wenn er oder sie denn dürfte oder könnte. . .

    Die Neuauflage von Murgers Buch kann heute nicht mehr an den naiven Leser appellieren, der sich heimlich gewisse Träume von Freiheit, sexueller Libertinage und einer Kunst erlaubt, die jedes Opfer wert ist. Der Reiz der Lektüre wäre mit "postmodern" besser umschrieben. In einem zumindest auf den ersten und schönsten zweihun-dert Seiten ungemein hochgezwirbelten Text kommt man auf eine Menge Ideen bezüglich Jugend, Kunst, Manie und Geld. Murger hat begriffen, daß die Kunstreligion gleichzeitig lächerlich und wahr ist. Murgers Buch ist geklebt und geklittert - früheren Lesergenerationen ist das wohl nicht auf gefallen, weil sie bei der Lektüre an Alternativen zum bürgerlichen Leben und vor allem an die Lockerung des Korsetts gedacht haben. Im Zeitalter nach der sexuellen Re-volution und der Entwertung bürgerlicher Konventionen kann dieser Aspekt von Murgers Feuilletons niemanden mehr aufregen. Fasziniert ist man dagegen heute von einem Autor, der in halbnaher Einstellung, mal realistisch, sarkastisch, mal sentimental eine Welt beschreibt, der er so wenig gewachsen ist wie seine neugierigen, aber auch ängst-lichen Leser, denen die Boheme ein Traumland bleib , das sie zu betreten nie wagen würden.

    Ein postmoderner Leser will sich nicht von einem Autor und sei-nem Text wie von einer Naturgewalt überrollen lassen. Er hätte nichts gegen ein Vorwort, ein Nachwort und Sacherläuterungen, die manche Rätsel lösen würden. Er könnte mit den Eindrücken, die der Stil Murgers, der Plot und die Anspielungen auf Zeitereignisse hervorrufen, etwas anfangen. Leider ist mit der DDR die schöne Sitte untergegangen, auch literarische Texte mit Erläuterungen zu versehen. Warum sollte eigentlich das Verständnis den Genuss trüben?

    Für seine Neuausgabe hat der Göttinger Steidl-Verlag eine Übersetzung aus dem Jahr 1923 gewählt - ob andere Übersetzungen sogar älteren Datums den Stil Murgers nicht besser wiedergegeben hätten oder eine pfiffige Neuübersetzung nicht endlich an der Zeit gewesen wäre ? Immerhin ist sie mit den Illustrationen vonGavarni versehen - immer wieder zeigen sie blanke Mädchen und Frauen hier und vergrübelte »männliche Künstler dort. Ein Altersunterschied zwischen den weiblichen und männlichen Mitgliedern der Boheme in Höhe von zehn Jahren war wohl Pflicht. . . Oder Klischee der Geschlechterbeziehungen auch dort, wo es angeblich keine gab.