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Bolivianische Kulinarik
Die Gastro-Szene in La Paz

Tief in der Kultur der Anden: Es wird geflucht, gehupt, gedrängelt in La Paz, Boliviens Regierungssitz - und dazwischen besondere, kreative Küche angeboten. Ob Quinoa-Whisky oder die Zutaten in den Kochschulen der Hochebenen, alles ist 100 Prozent bolivianisch.

Von Tom Noga | 08.07.2018
    A picture dated 28 August 2008 shows a young woman working in a restaurant in La Paz, Bolivia. More than one third of Latin American women do not have income of their own according to a report of the Economic Commission for Latin America (ECLAC). PATRICIO CROOKER/dpa | Verwendung weltweit
    100 Prozent bolivianisch: Diese Idee setzt sich in immer mehr Küchen Boliviens durch (dpa)
    Auf der Calle Murillo in der Altstadt von La Paz herrscht blankes Chaos. Über den schmalen Bürgersteig hasten indigene Frauen in Tracht: in "polleras", bunten, knöchellangen Röcken, die Haare zu Zöpfen geflochten. Und auf der Fahrbahn haben sich Autos hoffnungslos ineinander verkeilt, Stoßstange and Stoßstange. Es wird geflucht, gehupt, gedrängelt.
    Vor allem, wenn sich Fußgänger zwischen den Autos hindurch zwängen. Boliviens Fahrer sind in ganz Südamerika für ihre Rücksichtslosigkeit berüchtigt. Und in La Paz sind Sie am schlimmsten.
    In einem Hinterhof zwei Häuschen: weiß, mit verhangen Fenstern und Wellblechdach. Davor ein Holzzaun mit der Inschrift "Andean Culture Distillery".
    Fernando Marin, 26 Jahre alt und einer der beiden Inhaber der Andean Culture Distillery:
    "Am Anfang war Neugier: Wir wollen wissen, wie Alkohol entsteht. Wir hatten keine Ahnung, also haben wir im Internet recherchiert und dann experimentiert. Wir hatten gerade Abitur gemacht und somit viel Zeit."
    Acht Jahre später ist daraus ein Unternehmen geworden, das nicht nur in Bolivien für Aufsehen sorgt. Es hat einen Whiskey auf dem Markt, einen Klaren namens Killa, in der indigenen Sprache Quechua das Wort für Mond. Ein Wortspiel: Während der Prohibition in den USA wurde illegaler Schnaps Moonshine genannt - weil er beim Schein des Mondes gebrannt wurde. Fernando öffnet den Verschluss eines Fasses und lässt ein paar bernsteinfarbene Tropfen in ein Glas laufen.
    "Unser erster Versuch, in einem Eichenfass gereift. Müssen wir noch dran arbeiten. Schmeckst Du die Quinoa?"
    Quinoa-Whisky
    Unverkennbar, der nussige, ein wenig bittere Geschmack. Quinoa ist eine Pflanze aus der Gattung der Gänsefüße. Die Samen sind extrem nährstoffreich.
    "Auf lange Sicht wollen wir aus Quinoa und andere Körnern aus den Anden einen gereiften bolivianischen Whiskey herstellen. Wie Bourbon, Scotch oder Tennessee Whiskey. Nur eben von hier: ein Whiskey Andino geben. Dieser Whiskey soll in Fässern aus lokalem Holz reifen, aus dem Johannisbrotbaum. Das gibt ihm ein besonderes Aroma. Die Fässer lassen wir gerade bauen. Unser Whiskey soll 100 Prozent bolivianisch sein und so gut, dass wir ihn überall hin exportieren können."
    100 Prozent bolivianisch - diese Idee geht seltsamerweise auf Claus Meyer zurück, einen Dänen.
    Meyer war einer der Macher des Noma in Kopenhagen, das viele Jahre als bestes Restaurant der Welt galt. Vor sieben Jahren hat er das Noma geschlossen und in La Paz das Gustu gegründet. Gustu bedeutet Geschmack auf Quechua.
    "Seine Idee fand ich auf Anhieb interessant: die Verbindung von Sozialarbeit mit hochklassiger Küche. Auch wenn ich mir erst gar nichts darunter vorstellen konnte Aber je mehr er mir erzählte, umso faszinierter wurde ich", sagt Marsia Taha.
    Sie sitzt auf einer Ledercouch gegenüber der Bar. Hier werden Gäste mit einem Cocktail begrüßt, bevor man sie zu ihrem Tisch geleitet. Marsia ist Chefköchin im Gustu.
    Neben dem Gustu sind Schulen entstanden - in Problemvierteln. Dort erhalten Jugendliche eine Ausbildung, zum Koch, Sommelier, Pâtissier, als Kellner, Hilfskraft in der Küche oder fürs Büro. Und zwar gratis, finanziert über eine Stiftung. Sie heißt Manq’a - Essen auf Aymará, eben Quechua die zweite große indigene Sprache in Bolivien. Den Nutzen haben nicht nur die Jugendlichen, sondern auch die Gastro-Szene in La Paz, der es traditionell an Fachkräften mangelt. Für bolivianische Verhältnisse revolutionär war auch das gastronomische Konzept: Im Gustu kommen nur bolivianische Produkte auf den Tisch.
    "Als wir vor fünf Jahren angefangen haben, waren wir das einzige Fine-Dining-Restaurant in La Paz. Aber viele sind unserer Philosophie gefolgt, wir nennen sie "kilómetro zero": lokale Produkte, ausgewählte Produzenten, Fairness ihnen gegenüber. In La Paz hat sich unheimlich viel getan, nicht nur im Fine Dining, auch in den Garküchen auf den Straßen. Die Palette umfasst alles, von einfachen Restaurants bis zu uns, zum Gustu."
    "Kilómetro zero" gilt auch für Getränke. Anfangs hat das Gustu nur Bier und Weine aus dem Tiefland an der Grenze zu Argentinien und Brasilien ausgeschenkt - einheimische Spirituosen gab es nicht. Aber durch die neuen Absatzmöglichkeiten sind sie entstanden. Neben dem Killa der Andean Culture Distillery eine breite Palette an Gin, reduziert von der Brennerei República. Zwei Beispiele von vielen. Auch die Bauern auf dem Land besinnen sich mehr und mehr auf traditionelle landwirtschaftliche Produkte. Sie zu besuchen, ist für Maria immer wieder eine Entdeckungsreise.
    "Durchs Gustu habe ich die unendliche Vielfalt Boliviens kennengelernt. Jedes Jahr erfahre ich von 50 neuen Zutaten, von denen ich nie zuvor gehört habe. Stell’ dir das mal vor: 50 pro Jahr. Alles Produkte, die in der ländlichen Küche verwurzelt sind, die vorher aber nie in die Stadt gelangt sind. Die "walusa" zum Beispiel, eine Art Kartoffel, aber mit unvergleichlicher Süße. Wir frittieren sie oder machen Püree daraus. Oder "tarbi", eine Hülsenfrucht, die in den warmen Tälern im Tiefland wächst. Tarbi ähnelt Soja, man bereitet ihn auch ähnlich zu, er schmeckt aber leicht bitter."
    Kochschulen in der Hochebene
    Die Kochschule Manq’a in El Alto. Oder besser einer von insgesamt vier in der Satellitenstadt oberhalb von La Paz. El Alto liegt auf dem Altiplano, der kargen Hochebene in den Anden - auf 4.100 Höhenmetern und damit noch einmal 500 Meter höher als La Paz. Ein unverputztes Haus in einem ärmlichen Wohngebiet. Drinnen ein Dutzend Schüler.
    Sie schneiden Kartoffeln: große und kleine, runde und ovale, gelbliche und purpurfarbene. 3.000 Sorten gibt es in den Anden - mehr als anderswo auf der Welt. Um 30 von ihnen geht es heute: Wie sie schmecken. Wozu sie passen. Was bei der der Zubereitung zu beachten ist. Der Lehrer heißt Josué Viladela, ist Ende 20 selbst Absolvent von Manq’a.
    "Ich habe hier viel über traditionelle Zutaten gelernt und neue Arten der Zubereitung. Unser Ziel ist es, die bolivianische Küche auf Weltklasse-Niveau zu heben."
    Josué öffnete eine Ofen. Darin gart eine Forelle vom Lago Titicaca, dem höchstgelegenen schiffbaren Seen der Welt. Sie schmeckt besonders saftig, sagt er, vor allem, wenn man sie unter eine Kruste aus Knoblauch, Chili und Kaffeepulver aus den Yungas gart, aus dem feucht-warmen Tiefland Boliviens. Truchas ahumado de café ist eines der viele neuen Gerichte, die hier entstanden sind und die Gastro-Szene unten in La Paz erobert haben. Auch Josué will sich selbstständig machen.
    "Ich denke an ein Gourmet-Restaurant, 100 Prozent bolivianisch, aber avantgardistisch. Nur die besten Zutaten, sorgfältig zubereitet mit neuen, auch ausländischen Techniken. Aber ich muss ich noch viel lernen und vor allem in anderen Restaurants Erfahrung sammeln, bevor ich mich meiner Idee widmen kann."
    In der Andean Culture Distillery gießt Fernanden Marín einen Whiskey ein, der auf Chicha basiert.
    "Chicha ist ein Getränk, das tief in der Kultur der Anden verwurzelt ist, ein Maisbier. Traditionell wird es hergestellt, indem Frauen die Maiskörner kauen. Dadurch wird ein Enzym freigesetzt und es entsteht Zucker, die Melasse. Wir gewinnen die Melasse durch die Zugabe von Malz. Unsere Chicha enthält mehr Alkohol und mehr Geschmacksaromen."
    "Wir müssen da einfach kreativer werden"
    Dieser Whiskey schmeckt süßlich, aber nicht so sehr wie Bourbon - choclo, der Mais aus den Anden enthält weniger Zucker als die Sorten in Nordamerika. Der Alkoholgehalt liegt bei 51 Prozent Alkohol - traditionelle Chicha kommt maximal auf 6 Prozent. Noch ein Schluck: Gut vorstellbar, dass auch diesem jungen Whiskey einmal ein Qualitätsprodukt wird. Ein Qualitätsprodukt aus Bolivien - für Fernando María ist das überfällig.
    "Bolivien ist ein Land, das Rohstoffe exportiert. Das ist nicht gut: Die Rohstoffe sind weg und woanders wird mit ihn ein Mehrwert generiert. Wir müssen da einfach kreativer werden. Bolivien ist so reich. Wenn das Land seine Rohstoffe selbst veredeln, kann es Produkte für den Weltmarkt herstellen. Wie wir es machen: Satt Mais und Malz zu exportieren, stellen wir ein höhenwertiges Produkt daraus her."