Ein heruntergekommener Straßenmusiker schlappt über den Ehrenhof, um von den Bewohnern der behäbigen Kleinstadt Brot in die Hand gedrückt zu bekommen. "Barbaren" ist ein selten gespieltes Stück, oft als Bolschewismus-Kritik des frisch exilierten Gorki gelesen. Eric Lacascade hat es in frische Alltagssprache neu übersetzt und es in vier Stunden wie einen rasend schnellen Tschechow inszeniert, eine Fortsetzung seines legendären "Platonow", den er hier vor vier Jahren präsentierte. Sind die "Barbaren" die dumpfen Dorfbewohner oder die zwei arroganten Ingenieure aus der Stadt, die Zukunft, Geld und Einfluss versprechen, wenn sie hier eine Eisenbahn bauen? In den Bauern erwacht die Gier, es entfesselt sich eine Seifenoper der Intrigen, dann stirbt eine junge Frau. Fortschrittswut führt zu Unglück, die vermeintliche Zivilisation frisst ihre Kinder. Lacascade spielt souverän mit dem grandiosen Ehrenhof. Hinter seinen vermauerten Fenstern lauert die Trostlosigkeit der Provinz, russische Chöre und Feuerwerke aus Silberbändern erzeugen Gänsehaut: Lange ist es her, dass im Ehrenhof französisches Sprechtheater zu sehen war - und dazu noch so ein großartiger, weltumspannender Bogen.
In den französischen Zeitungen regiert jedoch Enttäuschung: eine Gala, die sich nicht zwischen Tschechow und Rockfete entscheiden kann, schreibt Lemonde, "eine Handvoll talentierter Bilder" macht die Libération es in einem Absatz nieder.
Nach den Körperexzessen von letztem Jahr unter der Kodirektion von Jan Fabre wurde in Frankreich öffentlich die Abdankung der jungen Festivalleiter Vincent Baudriller und Hortense Archimbault gefordert. Paradoxerweise bricht das Festival auch in diesem Jahr Zuschauerrekord, so dass ihre Vertragsverlängerung als wahrscheinlich gilt. Vincent Baudriller:
"Der Festival 2006 hat extrem gut begonnen. Ich glaube, wir ernten jetzt die Früchte von 2004 mit Thomas Ostermeier und 2005. In den ersten zwei Wochen sind über 120.000 Karten verkauft worden. Die Polemiken haben uns geradezu geholfen: nie zuvor ist in Avignon so grundsätzlich über Theater diskutiert worden, auf allen Caféterrassen und in Restaurants. Die Menschen haben die ganze Zeit kommuniziert. Das erzählt doch etwas und ist doch politisch interessant, wie wichtig im Theater Worte und Auseindersetzung ist."
Trotzdem bleibt das Festival in seinem Geburtstagsjahr seltsam unpolitisch. Selbst Ariane Mnouchkine, die nach dem Massaker von Srebrenica 1995 in Avignon in den Hungerstreik trat, philosophiert im Cloître St. Louis nur über die theatralische Qualität von Zidanes Kopfstoß - und nicht etwa über die Angriffe auf den Libanon. Und doch bleibt Avignon ein Fest der Uraufführungen und unterscheidet sich darin wohltuend von anderen Sommerevents. Doch was um alles in der Welt bewegt einen Regisseur, auf offener Bühne ein Gummibaby vor den Augen seiner Mutter zu zerdrücken, wie es in "Naître" (Geboren) geschieht?
Alain Françon, Direktor des "Théâtre de la Colline", ist Leib- und Magenregisseur des englischen Dramatikers Edward Bond. "Ich brauche ihn wie Besteck zum Essen", meint dieser bei einer Pressekonferenz. Welch trauriges Mahl, wenn es in sklavischer Bild- und Worttreue besteht. Eine elend explizite Darstellung der Barbarei im Krieg, ein Tanz lebender Leichen. Zum Glück fällt das Stück gewitterbedingt zuweilen aus.
Realer Sommerregen durchkreuzt auch die vielversprechende Arbeit "Pluie d’été à Hiroshima" des ehemaligen Bildhauers Eric Vigner, eine Verschränkung zweier Duras-Romane, für die ihm Marguerite Duras kurz vor ihrem Tod die Aufführungsrechte schenkte. Doch nach dem ersten Teil muss mehrere Abende lang abgebrochen werden. Mit unprätentiöser Grazie verwandeln sich sechs Schauspieler aus einer Lesung heraus in eine hinreißende Einwandererfamilie, deren Sohn Ernesto nicht mehr in die Schule gehen will - und springen wie Gummibälle in die Löcher im gemusterten Boden zurück.
Doch letztlich bleiben als beeindruckendste und politischste Arbeiten zwei Stücke über Rassismus im Gedächtnis, die unterschiedlicher nicht sein könnten. In seiner kanadischen Koltès-Inszenierung "Black Battles with Dogs" zeigt Alain Nauzyciel auf, wie sehr Europäer in einem postkolonialen Rassismus steckenbleiben, auch wenn sie Afrika als Sehnsuchtsland proklamieren. Durch die nordamerikanischen Schauspieler erhält der pure, pathetische Abend eine weitere, USA-kritische Dimension. Und zu guter Letzt kommt der Altmeister Peter Brook nach Avignon zurück, wo er längst Geschichte geschrieben hat: in einem Schulhof am Stadtrand, mit nichts als fünf Pappkartons und Garderobenständern, zeigen die schwarzen Schauspieler, wie man sich in unserer zweigeteilten Welt eine Identität - und einen gültigen Pass erobert.
Was 1947 als winzige Kulturwoche mit drei Aufführungen von Jean Vilar begründet wurde, verteidigt auch 2006 seinen Ruf als größtes und vielfältigstes Theaterfestival der Welt. Dagegen kommen kleine Einwände einfach nicht an.
In den französischen Zeitungen regiert jedoch Enttäuschung: eine Gala, die sich nicht zwischen Tschechow und Rockfete entscheiden kann, schreibt Lemonde, "eine Handvoll talentierter Bilder" macht die Libération es in einem Absatz nieder.
Nach den Körperexzessen von letztem Jahr unter der Kodirektion von Jan Fabre wurde in Frankreich öffentlich die Abdankung der jungen Festivalleiter Vincent Baudriller und Hortense Archimbault gefordert. Paradoxerweise bricht das Festival auch in diesem Jahr Zuschauerrekord, so dass ihre Vertragsverlängerung als wahrscheinlich gilt. Vincent Baudriller:
"Der Festival 2006 hat extrem gut begonnen. Ich glaube, wir ernten jetzt die Früchte von 2004 mit Thomas Ostermeier und 2005. In den ersten zwei Wochen sind über 120.000 Karten verkauft worden. Die Polemiken haben uns geradezu geholfen: nie zuvor ist in Avignon so grundsätzlich über Theater diskutiert worden, auf allen Caféterrassen und in Restaurants. Die Menschen haben die ganze Zeit kommuniziert. Das erzählt doch etwas und ist doch politisch interessant, wie wichtig im Theater Worte und Auseindersetzung ist."
Trotzdem bleibt das Festival in seinem Geburtstagsjahr seltsam unpolitisch. Selbst Ariane Mnouchkine, die nach dem Massaker von Srebrenica 1995 in Avignon in den Hungerstreik trat, philosophiert im Cloître St. Louis nur über die theatralische Qualität von Zidanes Kopfstoß - und nicht etwa über die Angriffe auf den Libanon. Und doch bleibt Avignon ein Fest der Uraufführungen und unterscheidet sich darin wohltuend von anderen Sommerevents. Doch was um alles in der Welt bewegt einen Regisseur, auf offener Bühne ein Gummibaby vor den Augen seiner Mutter zu zerdrücken, wie es in "Naître" (Geboren) geschieht?
Alain Françon, Direktor des "Théâtre de la Colline", ist Leib- und Magenregisseur des englischen Dramatikers Edward Bond. "Ich brauche ihn wie Besteck zum Essen", meint dieser bei einer Pressekonferenz. Welch trauriges Mahl, wenn es in sklavischer Bild- und Worttreue besteht. Eine elend explizite Darstellung der Barbarei im Krieg, ein Tanz lebender Leichen. Zum Glück fällt das Stück gewitterbedingt zuweilen aus.
Realer Sommerregen durchkreuzt auch die vielversprechende Arbeit "Pluie d’été à Hiroshima" des ehemaligen Bildhauers Eric Vigner, eine Verschränkung zweier Duras-Romane, für die ihm Marguerite Duras kurz vor ihrem Tod die Aufführungsrechte schenkte. Doch nach dem ersten Teil muss mehrere Abende lang abgebrochen werden. Mit unprätentiöser Grazie verwandeln sich sechs Schauspieler aus einer Lesung heraus in eine hinreißende Einwandererfamilie, deren Sohn Ernesto nicht mehr in die Schule gehen will - und springen wie Gummibälle in die Löcher im gemusterten Boden zurück.
Doch letztlich bleiben als beeindruckendste und politischste Arbeiten zwei Stücke über Rassismus im Gedächtnis, die unterschiedlicher nicht sein könnten. In seiner kanadischen Koltès-Inszenierung "Black Battles with Dogs" zeigt Alain Nauzyciel auf, wie sehr Europäer in einem postkolonialen Rassismus steckenbleiben, auch wenn sie Afrika als Sehnsuchtsland proklamieren. Durch die nordamerikanischen Schauspieler erhält der pure, pathetische Abend eine weitere, USA-kritische Dimension. Und zu guter Letzt kommt der Altmeister Peter Brook nach Avignon zurück, wo er längst Geschichte geschrieben hat: in einem Schulhof am Stadtrand, mit nichts als fünf Pappkartons und Garderobenständern, zeigen die schwarzen Schauspieler, wie man sich in unserer zweigeteilten Welt eine Identität - und einen gültigen Pass erobert.
Was 1947 als winzige Kulturwoche mit drei Aufführungen von Jean Vilar begründet wurde, verteidigt auch 2006 seinen Ruf als größtes und vielfältigstes Theaterfestival der Welt. Dagegen kommen kleine Einwände einfach nicht an.