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Bordelle und Bohème

Rund um die Sammlung Gerstenberg ist alles inzwischen Routine. Der Katalog zu Toulouse-Lautrecs Graphik, den man in Chemnitz erhält, stammt aus dem Jahr 1986, wurde von Götz Adriani verfasst und geht auf eine Präsentation in der Tübinger Kunsthalle zurück. Bei jeder weiteren Station der Ausstellung versichern die Ausstellungsmacher ritualhaft die Einzigartigkeit der Präsentation und locken ihr Publikum mit der Aufforderung, die Gelegenheit nur nicht zu verpassen. Man könnte das etwas anrüchig finden, allerdings hat es durchaus einen gewissen Charme, wenn Ingrid Mössinger, die Chefin der Chemnitzer Kunstsammlungen, dabei betont, dies sei immerhin die erste Präsentation in Ostdeutschland überhaupt.

Von Carsten Probst |
    Tatsächlich haftet dieser Schau in Chemnitz etwas ganz Eigenes an. Die gebürtige Stuttgarterin Ingrid Mössinger steht ihrem Tübinger Kollegen Götz Adriani in nichts nach, wenn es darum geht, ihr Museum mit möglichst großen Namen in die Schlagzeilen machen. Schon eine große Picasso-Schau hat sie nach Chemnitz geholt, mag die überregionale Presse auch aufseufzen, weil man Picasso zum hundertsten Mal sehen muß. Was zählt, ist die nationale Aufmerksamkeit, und wer wollte dies einem ostdeutschen Museum verdenken wollen, das nicht in einer Stadt wie Dresden oder Leipzig liegt, mag es nun zum nationalen Kulturerbe gehören oder nicht..

    So also verhält es sich auch jetzt mit Toulouse-Lautrec: bei allem, was man rund um die groß angekündigte Ausstellung hört, geht es weniger um den Künstler selbst als um die Stadt, um die Hoffnung von Hoteliers, Restaurantbesitzern, Stadtkämmeren, um den Osten allgemein. In Chemnitz zählt Ingrid Mössinger mittlerweile zu jenen Stadtprominenten, die das wohlwollende Auge der Commerzbank Stiftung und anderer Großsponsoren auf die Stadt lenken und damit der lokalen Politik zeigt, wie man es macht.

    Die Pointe dabei ist, daß man mit Picasso oder nun mit Toulouse-Lautrec in Chemnitz gleichzeitig eine Art symbolischer Kulturpolitik betreiben kann. Beide führen Ostdeutschland symbolisch zurück zu jenen Traditionen der Moderne, die die DDR-Kunst vernachlässigt hat. Der 1901 jung gestorbene Henri de Toulouse-Lautrec führt als Graphiker und Maler exemplarisch das vor, was in der DDR als typisch westlich dekadent gegolten und nur den Verfall der bürgerlichen Gesellschaft bewiesen hätte. Er ist sozusagen anschlussfähig: Als großbourgeoiser Künstler hätte er dabei einerseits ideologisch keine Chance gehabt, aber andererseits entlarvt er in vor allem in seinen Zeichnungen gerade den Verfall der Sitten und die individuellen Einsamkeit in der Pariser Gesellschaft der Jahrhundertwendezeit, die durchaus ostdeutschem Lebensgefühl entspricht: Man ahnt in seinem karikaturhaften Stil genügend Anklage gegen die westliche Gesellschaft, daß man auch schon mal an die späteren Dix oder George Grosz oder auch Beckmann denken kann. Zugleich kommt das alles nachwendegemäß ohne Ideologie daher, sondern psychologisch, sozusagen nach der Natur. Und ist nicht der Plakatkünstler Toulouse-Lautrec wegen seines zu subtilen Stils nicht elendig an der Mediengesellschaft seiner Zeit gescheitert?

    All diese Randbemerkungen sollen natürlich nicht außer Acht lassen, dass die Sammlung Gerstenberg in der Tat eine grandiose Dokumentation des graphischen Genies des Franzosen ist. Der Mathematiker und spätere Mitbegründer der Victoria-Versicherung Otto Gerstenberg, der auch die Entwürfe für die Bismarcksche Sozialversicherung miterdacht hat. war einer der größten deutschen Kunstsammler überhaupt. Sein Faible für Toulouse-Lautrec stammt noch aus einer ersten Sammlungsphase, als er auch Goya und andere ältere Künstler kaufte. Später dann wandte er sich der Moderne zu.

    In der Zusammenschau von Plakatkunst und graphischen Vorstudien wird in der Tat deutlich, wie sehr Lautrec sich bemüht hat, über das Medium der Plakat Anerkennung zu finden. Die mit spitzem Stift gezeichneten Gesellschaftsszenen, die maskenhaften Grimassen und burlesken Menschenansammlungen wirke den Plakaten geglättet und erstarrt. Zugleich entstehen in den Gemälden und Ölstudien ausgiebige Lichtimprovisationen, die ihn einem Monet gleichrangig erscheinen lassen. Lautrec war ein Schnellmaler, der auf seine Umwelt wie mit gezeichneten Schnappschüssen reagierte. Besonders bemerkenswert sind die Lithographien, die in ihren grellen unnatürlichen Farben ein Mittelding zwischen Zeichnung und Plakat darstellen und in ihrer Künstlichkeit und scheinbaren Vordergründigkeit wie Graffitis wirken. Sie wurden in ihrer Zeit besonders heftig als Beleidigung für das Auge abgelehnt. Heute sind sie der am weitesten vorausweisende Teil seines Werkes, in dem er die Plakativität der Werbekunst mit der Flüchtigkeit der Zeichnungen kombiniert und damit in der Tat so etwas wie Vorlagen zu einer aktuellen Medienkunst formuliert. So weit möchte man mit den Deutungen bei an den Kunstsammlungen aber gar nicht gehen. Es reicht, wenn die Medien berichten.