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Boris Barth: Dolchstoßlegende und politische Desintegration

Als die Niederlage in dem Krieg, der nie zu gewinnen war, absehbar wurde, ersann die kaiserliche Generalität ein Propagandastück, das sie präventiv entlasten sollte. "Wozu fechten wir noch?", fragte General von Seeckt bereits im Juli 1917 und gab sich selbst jene Antwort, die als "Dolchstoßlegende" in die Geschichte eingegangen ist.

Eine Rezension von Matthias von Hellfeld | 02.02.2004
    Die Heimat ist uns in den Rücken gefallen, und damit ist der Sieg verloren.

    Dieses Konstrukt erwies sich als äußerst resistent gegen die Wirklichkeit und war eine der Bedingungen dafür, dass die deutsche Generalität bereits unmittelbar nach ihrer Niederlage am Projekt einer geheimen und bald auch offenen Wiederaufrüstung arbeiten konnte. Im Düsseldorfer Droste Verlag hat Boris Barth eine Studie herausgebracht, in der er die Dolchstoßlegende und ihre Popularität als eine der frühen und wesentlichen Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik darstellt. "Dolchstoßlegende und politische Desintegration" ist das Werk überschrieben, das Ihnen jetzt Matthias von Hellfeld vorstellt.

    Die Geschichte des Ersten Weltkriegs ist ebenso gut erforscht wie die der Weimarer Republik, die nach der Kapitulation im November 1918 gegründet und von den Nationalsozialisten im Januar 1933 wieder zu Grabe getragen wurde. Boris Barth untersucht die Nahtstelle zwischen Krieg und Republikgründung und legt frei, warum die erste Demokratie auf deutschem Boden nahezu unweigerlich scheitern musste.

    Spätestens seit den verlustreichen Materialschlachten des Jahres 1916 war der deutschen militärischen Führung die Überlegenheit der Entente klar. Die Antwort der Militärs war der Versuch, die Zivilgesellschaft in den Dienst der Front zu nehmen und deren Logik durchzusetzen. Ein grandioser Misserfolg mit dem Ergebnis, dass sich Front und Gesellschaft immer weiter von einander entfernten, weil der Staat den Menschen in der Heimat das materielle Überleben nicht mehr garantieren konnte. Mit dem Hunger in den deutschen Städten kam der Zweifel am Sinn und an den Zielen des Krieges.

    Zermürbt durch einen vierjährigen Grabenkrieg an der Westfront kam das Ende des Krieges für die Soldaten dennoch überraschend. Hatten sie nicht ihre Stellungen gehalten und den Gegner in zahllosen Schlachten erfolgreich in die Flucht geschlagen? Hatte man ihnen nicht unentwegt eingeredet, unbesiegbar zu sein, und hatte man ihnen nicht den unmittelbar bevorstehenden Sieg versprochen? Die Parolen, die die Generäle wider besseren Wissens unter ihre Soldaten gebracht hatten, sorgten nun dafür, dass die zurückkehrenden Truppen das Gefühl hatten, von der Heimat verraten worden zu sein. Sie – die Soldaten – hätten den Krieg gewonnen, wenn die Heimatfront mit gemacht hätte. Die Revolution des Jahres 1918, die Ausrufung der Republik und schließlich der schmachvolle Abgang des Kaisers – all dies schien ihre Theorie zu bestärken. Tatsächlich aber zeigen die von Boris Barth zitierten Daten, dass die "Heimatfront" materiell nicht mehr in der Lage war, einen weiteren Kriegswinter zu überstehen:

    Auch wegen der Grippewelle, der die geschwächten Menschen nichts mehr entgegen zu setzen hatten, wiesen die Monate Oktober und November 1918 den höchsten Grad von Sterblichkeit bei Zivilisten während des Krieges auf. Direkte Hungertote waren zwar selten, doch gab es eine erhebliche Todesrate durch indirekte Hungerfolgen und durch Krankheiten.

    Diese Tatsache suchten die Generäle um Hindenburg und Ludendorff erfolgreich vor der Öffentlichkeit zu verbergen, um von ihren eigenen Fehlleistungen bei der Kriegsführung abzulenken. Die These, die Heimat habe versagt und sei dem unbesiegten Heer im entscheidenden Moment in den Rücken gefallen, stellte für die Generalität einen Minimalkonsens dar, auf den sie sich jederzeit verständigen konnten. Bei allem Streit, der unter den Militärs über den Ersten Weltkrieg ausgebrochen war, hielten sie geschlossen an der Legende vom Dolchstoß fest, um ihre Kaste unbeschädigt aus der Ursachenforschung für die Kriegsniederlage heraus zu halten. Die Dolchstoßlegende verhinderte eine Auseinandersetzung mit den Gründen für den Krieg und dem deutschen Schuldanteil, sie war gleichzeitig einer der Grundsteine für den Untergang der Weimarer Republik.

    Aber Boris Barth führt noch weitere Faktoren der Destabilisierung der jungen Republik ins Feld. Die Flucht des Kaisers ins holländische Exil habe die Konservativen in eine politische Krise gestürzt und ein Vakuum hinterlassen, das völkische Vorstellungen und eine von nationaler Größe inspirierte Reichsideologie gefüllt hätten. In dieser antirepublikanischen und vor allem antidemokratischen Stimmung gewannen Freikorps, Männerbünde, Veteranenverbände und nationalistische Gruppen an Bedeutung, deren einziges Ziel es war, die Republik wieder abzuschaffen und einen Rachefeldzug gegen all jene zu organisieren, die angeblich für die Kriegsniederlage und Nachkriegssituation verantwortlich zu machen waren. Einer dieser Zirkel nannte sich Deutsche Arbeiterpartei, deren 55. Mitglied im Januar 1919 Adolf Hitler wurde. In der Gründungsphase der Republik waren es allerdings vor allem die in den Freikorps organisierten Paramilitärs, die mit ihren meisten ungesühnten Morden zur frühen Delegitimierung des neuen Staatswesens beitrugen. Die Dolchstoßlegende wurde aber auch von der protestantischen Kirche gepredigt und mit nationalem Pathos versehen. Im Mai 1919 verkündete der spätere EKD-Ratsvorsitzende Otto Dibelius von einer Berliner Kanzel:

    Ein Volk, das seinem eigenen Heere den Dolch in den Rücken gestoßen hat, das seine Brüder und Schwestern preisgegeben hat, um den Feinden in leichtsinnigem Vertrauen die Friedenshand hinzustrecken, ein Volk, das seine furchtbare Niederlage mit Streiks und Tanzvergnügen feiert, … ein solches Volk hat ein hartes Gericht verdient von den Händen eines gerechten Gottes.

    Einen weiteren frühen Totengräber der Weimarer Republik erkennt Barth im alldeutschen Verband, der im Moment der Niederlage die Führungsrolle im völkischen Lager an sich reißen konnte. Der von den alldeutschen Funktionären formulierte radikale Antisemitismus verfehlte seine Wirkung nicht, weil in weiten Teilen des Bürgertums die entsprechenden Dispositionen vorhanden waren. Für diese Gruppierungen galt der Staat von Weimar als Feind schlechthin, weil er auf einem vom "internationalen Judentum" organisierten Verrat basierte, deren verlängerter Arm in Form der Sozialdemokratie die Macht im Land übernommen hätte. Diese völkische Fundamentalopposition sieht Boris Barth am Ende der 20er Jahre in der NSDAP aufgehen. Wenige Jahre später ist die radikal-antisemitische Version der Dolchstoßlegende Bestandteil der Staatsideologie.

    Am Schluss der gut 600 Seiten mit nahezu dreieinhalb tausend Fußnoten bleibt die Feststellung zu treffen, dass die Weimarer Republik unter den Umständen ihrer Entstehung keine Aussicht auf einen langen Bestand gehabt hat. Selbst wenn es in den sprichwörtlich "goldenen" 20er Jahren eine Zeit lang besser zu werden schien, bei der ersten ernsthaften Krise – ausgelöst durch den Börsensturz in New York im Oktober 1929 – traten die destabilisierenden Faktoren aus der Gründerzeit der Republik wieder ans Tageslicht.

    Matthias von Hellfeld über Boris Barth, "Dolchstoßlegende und politische Desintegration". Der Band ist im Düsseldorfer Droste Verlag erschienen, umfasst 625 Seiten und kostet 49 Euro 80.