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Boris Johnson wird britischer Premier
"Ein zweites Referendum wäre die goldene Lösung für ihn"

Harter Brexit oder "weiche Landung" - er traue dem neuem britischen Premier Boris Johnson alles zu, sagte der ehemalige EU-Abgeordnete Jo Leinen (SPD) im Dlf. Zwar sei an dem Austrittsvertrag nichts mehr zu ändern, mit einem zweiten Referendum könne Johnson aber aus der verfahrenen Situation rauskommen.

Jo Leinen im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 23.07.2019
Boris Johnson (Mitte) und Jeremy Hunt klatschen bei der Verkündung des neuen Tory-Chefs.
Der neue Tory-Chef Boris Johnson wird Großbritanniens neuer Premierminister (imago images / i Images / Andrew Parsons)
Jörg Münchenberg: Boris Johnson dürfte am Ziel seiner politischen Träume angelangen, zunächst die Kür zum Parteivorsitzenden der Torys und morgen dann die Ernennung zum neuen Premierminister von Großbritannien, eine Personalie, die auch für Europa von eminent wichtiger Bedeutung ist, schließlich wird Johnson dann auch für den weiteren Brexit-Kurs verantwortlich sein, und der gilt, bislang jedenfalls, als Hardliner beim Ausstieg Großbritanniens aus der EU.
Am Telefon ist jetzt der ehemalige EU-Abgeordnete Jo Leinen von der SPD. Herr Leinen, ich grüße Sie!
Jo Leinen: Guten Tag, Herr Münchenberg!
Münchenberg: Herr Leinen, der Populist Johnson wird wohl neuer Premierminister. Wird die EU bald Theresa May hinterhertrauern?
Leinen: Wir haben jetzt eine neue Etappe in dem immerwährenden Brexit-Drama, ergebnisoffen. Boris Johnson kommt als Hardliner daher. Ob er wirklich auch so hart landen wird, das werden wir dann schon bei seiner Rede heute Abend oder morgen hören und in den nächsten Wochen sehen.
"Niemand will einen harten Brexit "
Münchenberg: Wie schätzen Sie ihn trotzdem ein? Er gilt ja nicht gerade als prinzipienfest, extrem populistisch. Ist das jetzt sozusagen die europäische Variante von Donald Trump, auf die Brüssel sich jetzt einstellen muss?
Leinen: Er wird von Trump sich etwas abschauen, erst mal mit der Faust auf den Tisch hauen und als Hardliner daherkommen, aber wir haben auch bei Donald Trump gesehen, dass er am nächsten Tag auch schon wieder was anderes sagen kann, sogar das Gegenteil. Boris Johnson traue ich, wie viele seiner Landsleute, alles zu. Also er kommt ja als geradliniger Brexit-Befürworter, und er kann genauso gut einen U-Turn, einen Umweg machen und vielleicht auch eine weiche Landung suchen.
Münchenberg: Schauen wir auf den Brexit konkret, Herr Leinen. Johnson setzt ja auf eine Drohkulisse gegenüber Brüssel. Die Drohung ist, dass es einen harten Brexit geben könnte. Kann das gutgehen?
Leinen: Theresa May hat das ja auch schon ein paar Mal ohne Erfolg versucht, und viele in London, die kühlen Kopf bewahrt haben, sehen ja, dass die EU 27 am längeren Hebel sitzt. Großbritannien alleine ist nicht so stark, die EU in die Knie zu zwingen, und würde ja auch den größeren Schaden davontragen. Nichtsdestotrotz will eigentlich niemand einen harten Brexit. Also niemand will, dass Großbritannien ohne ein Abkommen die Europäische Union verlässt, aber dafür braucht man auch Kompromissbereitschaft, und man kann nicht die Quadratur des Kreises wollen.
"Irlandgrenze ist der neuralgische Punkt"
Münchenberg: Aber ist das nicht trotzdem vielleicht bei Johnson ein bisschen anders als bei Theresa May, weil Johnson ganz klar sagt, für mich ist auch ein harter Brexit, also ohne jedes Abkommen, völlig in Ordnung? Er setzt ja dabei schon darauf, weil die EU das auch nicht will, dass würde ja auch auf dem Kontinent zu großen wirtschaftlichen Verwerfungen führen, also dass man mit dieser Drohkulisse dann doch am Ende mehr erreicht, weil er einfach anders auftritt auch als May.
Leinen: Das Austrittsabkommen ist tabu, da können wir eigentlich nichts ändern. Das sind die Bürgerrechte der drei Millionen Europäer, die in Großbritannien wohnen und umgekehrt die Briten, die bei uns wohnen, dann die Austrittsrechnung von 39 Milliarden. Jeder, der einen Club verlässt, muss seine Rechnung bezahlen.
Dann haben wir die Irlandgrenze. Das ist ja der neuralgische Punkt. Die EU muss die Integrität ihres Binnenmarktes bewahren. Wir können ja nicht beim Binnenmarkt an einer Stelle ein Loch haben, wo Waren hereinkommen, die nicht geprüft werden, die keine Steuern zahlen, keine Zölle zahlen. Also diese Irlandgrenze ist der neuralgische Punkt, und Johnson hat ja gesagt, vor 50 Jahren haben wir einen Menschen auf den Mond gebracht, es müsste möglich sein, eine technische Lösung zu finden für dieses Problem.
Münchenberg: Genau.
Leinen: Aber sie haben bisher nicht geliefert. Alles, was bisher vorgetragen wurde, waren Worthülsen. Wenn er eine Lösung hat für dieses Grenzproblem, dann, denke ich, hat die EU auch allen Grund, darüber zu verhandeln.
"Der Austrittsvertrag ist tabu"
Münchenberg: Aber noch mal, Sie glauben oder Sie sagen, es wird keinerlei Zugeständnisse der EU über das hinaus geben, was bislang auf dem Tisch lag?
Leinen: Also der Austrittsvertrag tabu, da kann man nichts dran ändern. Es gibt ja dann die politische Erklärung, wie das Nachfolgeverhältnis aussehen soll, und da in der Tat steht diese Irlandgrenze drin. Da weiß ich nicht, was den Verhandlern in Brüssel, Michel Barnier noch alles einfällt, ob man da noch mal eine Übergangslösung findet, eine Ausstiegsklausel findet, irgendwas, was ihm die Möglichkeit geben würde, sein Gesicht zu wahren, weil er ist ziemlich hoch in den Baum hineingeklettert, und da noch mal runterzukommen, ist ja auch nicht leicht für Boris Johnson.
Münchenberg: Lassen Sie uns noch mal auf den Zeitplan auch schauen. Das britische Parlament geht ja jetzt trotzdem in die Sommerpause. Das gilt ja auch für das EU-Parlament, und danach auch im Herbst wird die EU ja erst mal mit sich selbst beschäftigt sein, dann stehen die neuen Kommissare an, die Anhörungen. Da ist ja schon die Frage, es bleibt ja nicht mehr allzu viel Zeit jetzt auch für inhaltliche Gespräche. 31. Oktober ist die Deadline. Also was soll denn, was kann denn überhaupt in so kurzer Zeit substanziell erreicht werden?
Leinen: So gut wie nichts, würde ich sagen. Frau von der Leyen hat ja bei ihrer Rede vor dem Europaparlament auch schon gesagt, wenn es denn sein muss und es einen guten Grund gibt, so die Tonlage, dann wäre die EU auch bereit, diesen 31. Oktober, diesen Halloweentag, auch noch mal zu überdenken. Ich sage ja, das ist die nächste Etappe des immerwährenden Brexit-Dramas. Ich würde meine Hand nicht verwetten, dass der Oktobertermin auch nicht der letzte gewesen ist.
"Möglichkeit, aus Dilemma des 31. Oktober rauszukommen"
Münchenberg: Gibt es eigentlich auch in Brüssel die stille Hoffnung und vielleicht auch stille Erwartung, dass die Briten am Ende die EU überhaupt nicht verlassen werden, einfach weil es in den genannten Punkten, die Sie auch angesprochen haben, einfach keine Annäherung gibt und dass jedes Mal und gleichzeitig keiner auch den harten Brexit wirklich will?
Leinen: Die britische Gesellschaft ist ja fifty-fifty gespalten, die den Ausstieg als Unsinn und als Tragik für das Land sehen und die anderen, die sich haben verführen lassen, dass goldene Zeiten für Großbritannien anbrechen. Es ist schwierig, Brücken zu bauen, vor allen Dingen, Brücken zu bauen durch einen wie Boris Johnson, der sich ja da festgelegt hat, aber es gibt im Parlament keine Mehrheit für einen No-Deal-Brexit.
Wir haben ja auch im Vorbericht gehört, dass mehrere Minister jetzt aus der Regierung austreten, um die Freiheit zu haben, im Parlament gegen Boris Johnson zu stimmen. Das heißt, er hat im Parlament für einen No-Deal weiterhin keine Mehrheit.
Da gibt es dann, wenn es Spitze auf Knopf kommt, wohl doch nur zwei Möglichkeiten: Er ruft Neuwahlen aus, in der Hoffnung, dass die Mehrheit dann vielleicht seinen Konkurrenten von der Labour-Party nicht mag, oder – ich glaube, da würde ich drauf wetten – es gibt ein zweites Referendum, wo die Briten noch mal gefragt werden, wollt ihr wirklich den Ausstieg oder wollt ihr ihn nicht. Das wäre die goldene Lösung für ihn.
Münchenberg: Aber für die EU gilt ja letztlich in letzter Konsequenz auch diese ständige Hängepartie ohne zu wissen, wie jetzt der finale Zustand wirklich sein will. Daran kann ja auch die EU letztlich kein Interesse haben.
Leinen: Sie haben recht. Es ist eigentlich Deadline 31. Oktober, und wir haben früher schon gesagt, wenn es einen Grund gäbe zu hoffen, dass sich die jetzige verfahrene Situation ändert, dann wäre die EU bereit, darüber nachzudenken, und da gibt es nur zwei Gründe: entweder Neuwahlen in Großbritannien mit einer neuen Regierung oder eine neue Volksabstimmung über die Grundsatzfrage, wollen wir raus oder wollen wir doch drinbleiben. Das kann natürlich jetzt über die Sommerpause noch geliefert werden. Das wäre noch eine Möglichkeit, aus diesem Dilemma des 31. Oktober rauszukommen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.