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Boris Reitschuster:Wladimir Putin - Wohin steuert er Russland?

In sechs Tagen um diese Zeit werden wir wissen, wie der neue, frisch gewählte Staatspäsident Russlands heißen wird. Kein allzu schweres Rätsel, meinen Sie? Sie haben Recht! Denn alles andere als ein erneuter Wahlsieger mit dem Namen Wladimir Putin käme in der von ihm favorisierten "gelenkten Demokratie" Russland einer politischer Hyper-Sensation gleich. - Rechtzeitig zum Beginn der mithin bevorstehenden zweiten Amtszeit des gebürtigen Leningraders veröffentlichte der deutsche Journalist Boris Reitschuster im Berliner Rowohlt Verlag eine Bilanz der ersten vier Jahre des Kreml-Chefs: "Wladimir Putin - Wohin steuert er Russland?", hat er sich und sein Publikum gefragt.

Von Barbara Kerneck-Samson | 08.03.2004
    "Putin brachte neuen Spaß in die Show", grinst "Kukly"-Regisseur Alexander Tschernych: Als er im August 1999 Ministerpräsident wurde, dachten wir: so ein Langweiler. Heute ist er ein Renner: Seine Komplexe, seine Grimassen, seine Verklemmtheit – das kommt sehr komisch rüber.

    Boris Reitschuster, Korrespondent des deutschen Nachrichtenmagazins FOCUS in Moskau, zitiert hier einen Macher der einst beliebten russischen Fernsehsendung "Kukly". Das wöchentliche Spektakel mit lebensgroßen Politiker-Puppen wurde in den vergangenen Jahren verwässert und wanderte im Zuge der staatlichen Umstrukturierung unliebsamer Fernsehkanäle von einem Sender zum anderen. Boris Reitschuster verspricht dem westlichen Leser ein beseelteres Bild des russischen Präsidenten, als dessen Verkörperung in einem satirischen Puppenspiel. Der Verlag kündigt sein Buch als - Zitat - "erste umfassende Biographie" des russischen Präsidenten an. Reitschuster, seit 1990 in Russland, so heißt es dort weiter, habe den Aufstieg Putins schließlich aus unmittelbarer Nähe erlebt und sich wiederholt mit diesem unterhalten. Zu gerne wüssten wir, wo und worüber, doch darüber teilt uns Reitschuster nichts mit. Was seine übrigen Quellen betrifft, so macht er sich selten die Mühe, diese wenigstens zu umschreiben. Leider gibt er auch den individuellen Ton ihrer Rede nicht wieder. Schade, denn in Russland steht die Kunst, sich farbig auszudrücken, in hohem Kurs. Davon ist bei unserem Autor nichts zu merken. Eindeutige Schlüsse aus den gesammelten Aussagen vermeidet er meist. Seine Bilanz aus Putins Amtszeit lautet:

    Es ist ein kaum zu unterschätzender Verdienst, dass Putin Russland wieder Stabilität verlieh. Aber ebenso gravierend ist die Gefahr, dass sich diese Stabilität auf Bewegungslosigkeit und Starre gründet – entstand sie doch in erster Linie durch Verzicht auf Meinungsstreit, politische Pluralität und demokratische Prinzipien.
    Die Etappen dieser Entwicklung bis hin zu den blutigen Terroranschlägen in Moskau und zum Krieg in Tschetschenien zeichnet Reitschuster akribisch nach. Zu den vorliegenden Analysen steuert er kaum Neues bei, aber bei ihm finden wir alles Bekannte in noch nie da gewesener Vollständigkeit: den Weg, den Russlands Wirtschaft und Gesellschaft in dem beschriebenen Zeitraum zurückgelegt haben und natürlich die Ursachen für Putins Aufstieg. Wie dieser als Kompromisskandidat zwischen Geheimdiensten und Oligarchen an die Macht gehievt wurde. Wie er kritische Massenmedien mundtot machte, weil er sich angesichts des Fehlens eines eigenen Clans im Kreml fast sklavisch an die eigene Beliebtheitskurve klammerte. Man ahnt die Einsamkeit dieser Herrscherfigur.

    Reitschuster vermittelt auch, dass er mit seinen Sorgen und Sympathien auf Seiten der einfachen Menschen in Russland steht. Dies gelingt ihm dort, wo er die wuchernde Korruption beschreibt, die zunehmende Frechheit, mit der sich die Kraftprotze vom organisierten Verbrechen mit ihren Jeeps an den Tankstellen vordrängen. Auch wenn er vom Sterben spricht. So schildert er den Beginn des Sturmangriffs von Spezialeinheiten auf das von Terroristen besetzte Theater des Musicals "Nord-Ost" im Oktober 2002. Am Ende waren 170 Tote zu betrauern:

    In einer alten Schule, die der Krisenstab zur Verfügung stellt, haben sich die Angehörigen der Geiseln versammelt. Überall stehen Polizei und Militär. In mehreren Reihen sperren Uniformierte die ganze Straße ab. Davor laufen drei Männer in Kunstlederjacken mit einer kleinen Videokamera, ganz offensichtlich handelt es sich um Geheimdienstler. Gerüchte von Truppenbewegungen machen die Runde. Immer wieder treffen neue Angehörige ein, laufen durch die Absperrungen zu der alten Schule. Plötzlich, gegen 1 Uhr 30 eine Explosion. Eine kräftige Frau mittleren Alters läuft schreiend bis zur Ecke der Schule, greift einen der Milizionäre an seiner grauen Uniformjacke: "Da ist mein Kind drinnen, mein Kind!" Sie lässt den Mann los, rennt zwei Meter weiter zur Wand, lehnt sich dagegen und schlägt ihren Kopf gegen die Ziegelsteine: "Die haben ein Blutbad angerichtet. Die spucken darauf, ob Hunderte draufgehen. Was ist Putin für ein verrückter Präsident!"

    In den Kapiteln über die Ereignisse um die "Nord-Ost"-Affäre und den Untergang des Atom-U-Bootes "Kursk" samt Besatzung entwickelt der langjährige Russland-Korrespondent endlich eine eigene These: Russlands Präsident gibt sich zwar in Worten martialisch, aber er hat sich bisher angesichts großer Katastrophen stunden- und sogar tagelang vor der Öffentlichkeit verborgen. Panisch fürchtet er sich davor, dass das Volk seine Person mit dem Unglück assoziieren könnte. Und wo bleibt nun die andere, die menschliche Seite Putins, der Charme des Ex-KGBlers, von dem die Entourage manchmal berichtet? Reitschuster erwähnt diesen angeblichen Zauber nur, ohne ihn zu beschreiben. Wer also erfahren möchte, wie Russlands Präsident sich hinter den Kulissen räuspert und wie er spuckt, der muss noch warten. Dem Protokollanten Boris Reitschuster ist der Mensch Putin durch die Maschen geschlüpft.

    Boris Reitschuster: "Wladimir Putin - Wohin steuert er Russland?", erschienen im Rowohlt-Verlag, Berlin. 336 Seiten zum Preis von 19 Euro 90